Ich möchte die Gelegenheit nutzen, eine kleine und eine größere Korrektur zum Einstiegsthema einzubringen. Vorweg: Ich finde es als in der Türkei lebender Mensch großartig, dass ihr auch hierher schaut. Nur wird am Sonntag nicht nur ein neuer Präsident, sondern auch ein neues Parlament gewählt. (Die kleine Korrektur) Zugegeben, das wird erst dann wichtig, wenn die Opposition gewinnt und ihr Wahlversprechen der Rückkehr zum Parlamentarismus nachkommt, aber immerhin: gewählt wird es in jedem Fall.
Wichtiger ist mir jedoch die Aussage „… gibt es keine Berichte über weitreichende Wahlfälschung …“ , denn diese ist nicht korrekt. Ja, die „Wahlverlierer“ haben die Ergebnisse mehr oder weniger akzeptiert. (Der Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince 2018 erstaunlich früh; die Oppositionsparteien beim Referendum 2017 nachdem sie juristisch alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatten.) Dennoch gab es national wie international bei den letzten Wahlen immer den Vorwurf von Wahlfälschungen und Wahlbetrug. Internationale Beobachter wie die OSCE stellen diese in ihren Abschlussberichten jedoch regelmäßig fest. Nachzulesen beispielsweise im Final Report zum Verfassungsreferendum 2017 der OSCE u. a. auf den Seiten 21 und 22 Constitutional Referendum, 16 April 2017 aber auch die Untersuchung im Auftrag der Venedig-Kommission zur selben Abstimmung, in der die Art der Wahlfälschung statistisch belegt wird. https://journals.plos.org/plosone/article/file?id=10.1371/journal.pone.0204975&type=printable
Abgesehen davon, dass Wahlen in der Türkei ohnehin schon lange nicht mehr demokratisch ablaufen (Verhaftung von Kandidierenden, Ungleicher Zugang zu staatlichen Ressourcen im Wahlkampf etc.), wird eben auch bei der Wahl selbst nachgewiesenermaßen gefälscht – nur eben nicht mit dem Ziel, DDR, oder Putin-Ergebnisse zu erzeugen: Gewinnen reicht halt. Ansonsten vielen Dank für eine wiedermal unterhaltsame Sendung!
Es gibt auch gerade im Zusammenhang mit dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei große Befürchtungen vor Wahlmanipulationen. Viele Provinzen, die besonders stark vom Erdbeben betroffen waren, waren bei den letzten Wahlen AKP-Hochburgen (bis über 60 %). Und die Leute dort sind oft stinksauer, nicht nur über die unzureichende Hilfe nach dem Erdbeben, sondern auch über Pfusch und Korruption, die erst zu diesen schlimmen Auswirkungen geführt haben. Ganz konkret wird nun kritisiert, dass es die Behörden teilweise keine Vermisstenlisten führen, und es z.B. sein könnte, dass in diesen Regionen Zigtausende Tote und Vermisste „mitwählen“ - und drei mal dürft Ihr raten, für wen.
Diese Hintergrund-Sendung vom Deutschlandfunk zum Thema Wahlen & Erdbeben fand ich spannend:
Es bleibt spannend.
Interessant war, wie sich die vorläufigen Ergebnisse während des Abends entwickelt haben. Zu Beginn waren die Angaben der regierungsnahen und regierungskritischen Medien wohl sehr unterschiedlich. https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/tuerkei-wahl-live
Zitat ZEIT: „Die Staatsagentur veröffentlicht in der Regel zunächst die Auszählungsergebnisse der Regionen, in denen Erdoğan viele Unterstützerinnen und Unterstützer hat. Die ersten Daten lassen daher noch keine Rückschlüsse auf das Endergebnis zu.“ https://taz.de/-Nachrichten-zur-Tuerkei-Wahl-/!5934276/
Zitat TAZ: „Mehr als sechs Stunden nach Schließung der Wahllokale nähern sich die von regierungsnahen und regierungskritischen Medien präsentierten Ergebnisse einander an.“
Ich fand es erschreckend, wie selbstverständlich etwa im Deutschlandfunkt mal wieder Hochrechnungen präsentiert wurden, als seien türkische Regierungsmedien eine neutrale Quelle. Und kein Wort von den Manipulationsversuchen.
Da wurden z. B. Stimmzettel vorab an der „richtigen“ Stelle gestempelt, da wurden Auszählungen in Gegenden mit CHP-Mehrheit systematisch behindert, da wurden Wahlbeobachter:innen von bewaffneten Polizist:innen gehindert, ihre Arbeit zu machen etc. pp. Ganz zu schweigen von den systematischen Verzerrungen im Wahlkampf. Die Art und Weise wie unkritisch in Deutschland mitunter Vorgänge dargestellt werden, die aussehen wie freie, gleiche und geheime Wahlen, ist wirklich erschütternd.
Was das Ergebnis selbst angeht, bin ich enttäuscht. Scheinbar hat Erdogan mit seiner Angstkampagne („wenn die anderen gewinnen, geht das Land unter, gibt es Putsch & Gewalt“), seiner Identitätspolitik (vor allem gegen Kilicdaroglu als Alevit) und mit seinen Versprechungen ("ich rette euch; Lohnerhöhungen um 40%) wieder einen großen Teil der Menschen rumgekriegt - selbst in den Erdbebengebieten. Hierzu ein interessanter Kommentar von Deniz Yücel:
Ich beziehe mich dabei im Wesentlichen auf Meldungen über diverse Twitter-Accounts, die ich als vertrauenswürdig einstufe, etwa von Deniz Yücel, Ismail Küpeli oder Janine Wissler, aber auch auf Gespräche mit Freund:innen, die oppositionelle türkische Medien verfolgt haben.
Also, die Medien, die ich genutzt habe (ZDF, ARD, ZEIT, Süddeutsche, FAZ), haben von Anfang an die unterschiedlichen Hochrechnungen von Regierung und Opposition hingewiesen und relativ schnell auch erklären können, wie die Unterschiede zustande kommen. Auch wurden immer wieder auf die Manipulationsversuche hingewiesen (die aber laut Wahlbeobachter keinen entscheidenen Einfluss gehabt haben dürfen). Dass der Wahlkampf nicht fair war (und sein wird), ist ebenfalls in aller epischen Breite berichtet worden. (Die hier erhobene Behauptung, alle Flüge in die kurdischen Gebiete wären vor der Wahl gestrichen worden, habe ich nirgends bestätigt gefunden.) Ich sehe keinen Anlasse für eine Medienschelte.
Leider ist die Welt (die ich generelle ohnehin schon lange nicht mehr als seriöses Medium anerkennen kann) hinter Paywall. Was sagt den Deniz Yücel konkret?
Eine generelle „Medienschelte“ war bestimmt nicht meine Absicht. Konkret habe ich gestern Morgen Nachrichten im DLF gehört und wurden Prozentwerte von TRT verkündet ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass diese Wahl vielleicht nicht so aussah, wie wir Wahlen hier kennen. Mein Ärger darüber war aber vergleichsweise klein gegenüber dem Frust über das Wahlergebnis. Wenn das in ausführlicheren Beiträgen anders war, um so besser.
Den Text von Yücel habe ich nicht gelesen, ich bezog mich auf ein Interview mit ihm, das gestern noch über denselben Link zu finden war, inzwischen ist es auf YouTube abrufbar: TÜRKEI-RICHTUNGSWAHL: Frust - Warum die Opposition Erdogan nicht knacken kann | WELT Interview - YouTube
A propos Medienschelte: Darf ich fragen, warum Die Welt in Gänze kein seriöses Medium mehr sein soll?
zuerst einmal vielen Dank für Euren großartigen Podcast, ich freue mich über jede neue Folge.
Ihr habt folgende Gründe aufgezählt, warum die Wahl in der Türkei „für uns spannend ist“:
Natoland
Haltung und Handlungen der Türkei im Ukrainekrieg
Schlüsselstaat für die Zukunft Syriens
EU-Türkei-Abkommen zur Rückführung von Geflüchteten
Ich hätte mich furchtbar gefreut, auch explizit zu hören, dass die Wahl in der Türkei auch deshalb für uns spannend ist, weil sowas wie 3 Millionen von uns türkische Wurzeln haben wovon vielleicht die Hälfte auch einen deutschen Perso mit sich herumtragen.
Auf Twitter wird gerade diskutiert, dass die massivsten Wahlfälschungen gar nicht in den Wahllokalen, sondern bei der Erfassung der einzelnen Ergebnisse durch die Wahlbehörde stattfanden.
Einen umfassenden Artikel darüber habe ich noch nicht gefunden, aber hier ein Beispiel, das die HDP dokumentiert hat: https://twitter.com/HDP_Europe/status/1658443515368448000?s=20
Das wird nicht nur auf Twitter, sondern auch hier in der Türkei direkt diskutiert. Das Problem ist, dass sich die Regierung bewusst ist, dass ihre Wahlfälschungen beobachtet werden, daher wird nicht eine einzelne Taktik verwendet, sondern auf viele kleine Wahlfälschungen gesetzt. Hier ein paar eigentlich schon verstorbene, die noch Wählen gehen, dort ein paar vorgestempelte Stimmzettel, die im scheinbar unbeobachteten Moment in die Urne gelegt werden und an dieser Stelle noch ein paar Wahlergebnisse der Partei X, die – oh, Spalte verrutscht – bei Partei Y landen. All diese Sachen (oder zumindest viele) fallen auf, werden gemeldet und dann (nicht immer, aber oft) als „Ach, die paar Stimmen machen den Kohl nicht fett“ abgetan. Das beruhigt dann die Leichtgläubigen, aber in der Summe ist es eben mehr als wahlentscheidend. Das zweite Problem ist: Die Türkei ist eben nicht Berlin, hier werden Wahlen nur dann wiederholt, wenn das Ergebnis nicht passt (siehe Istanbul), aber nicht, wenn es Ungereimtheiten gibt.
Besonders dreist finde ich den Fall aus meiner Nachbargemeinde, wo sich hinter einem Wahllokal zerschnittene Ausweise in der Mülltone (im Video dann auch daneben) fanden. Frei nach dem Motto: „Nach der Wahl brauchen wir die ja nicht mehr…“
Das muss nicht unbedingt sein, da es ja noch einen dritten (bzw. vierten) Kandidaten gab. Ich würde eher vermuten, dass es andersherum gewesen wäre: Also Kilicdaroglu knapp an der 50er-Marke gescheitert, dafür aber Erdogan nicht über 45 % (Sind auch 45 zu viel, aber er hat halt tatsächlich noch ne Menge fanatischer Fans…) Die Hoffnung wäre dann ein höherer Wahlsieg für Kilicdaroglu im zweiten Wahlgang gewesen, wie es auch bei Imamoglu in Istanbul der Fall war. Ist aber ohnehin alles Spekulation.
Das kommt auf die Art und Weise an. Wenn es keine (oder wirklich nur geringe) Hinweise auf Manipulationen gibt, würde die Opposition das akzeptieren. Das ist aber – so lehrt die Vergangenheit – der unwahrscheinlichste Fall. Wahrscheinlicher ist, dass man das Ergebnis kritisiert und zumindest auf dem Papier versucht, juristisch dagegen anzugehen. Das wird selbstverständlich scheitern. Da jedoch auf Seiten der Opposition Friede wichtiger als Macht ist, wird es bei der geballten Faust in der Tasche bleiben.
So weit meine Einschätzung. Andere mögen das anders sehen
Spannende Frage. Ich sag mal so: wenn die Opposition in gleichem Maße hätte Wahlkampf machen dürfen wie die Regierung, wenn keine Oppositionspolitiker:innen verhaftet und bedroht worden wären und es keine Wahlmanipulationen gegeben hätte, wäre Erdogan mit Sicherheit nicht wieder gewählt worden. Aber wenn Berlin am Meer liegen würde, wäre es da auch schöner…
Realistisch betrachtet fürchte ich werden wir nie erfahren, wie im gesamten Land tatsächlich gewählt wurde und ob nun wirklich sämliche Umfragen total daneben lagen oder die Wahl selber
Jetzt am Sonntag wird es nochmal spannend (nicht), Im zweiten Wahlgang wird Erdogan wohl auch wieder vorne liegen. Gleichzeitig nimmt die Kritik in der Türkei immer weiter an Fahrt auf. In Zeitungen und selbst im Fernsehen wird sich schon über 6.7 Millionen zusätzliche Wähler*innen gewundert
(Bilişim uzmanı Füsun Sarp Nebil uyardı: 6.7 milyon fazla seçmen!) sodass einige Stimmen fordern, wieder die Stempelmarkierungen am Daumen einzuführen, damit tatsächlich jede Person nur einmal wählen darf.
Es mehren sich Berichte, bei denen Menschen morgens zur Wahl gingen, und man ihnen sagte, dass sie bereits gewählt hätten. Oder dass an Adressen im Wählerverzeichnis mehr und vor allem unbekannte Leute registriert sind. Dazu muss man wissen, dass hier in der Türkei nicht nur Straße und Hausnummer beim Einwohnermeldeamt registriert werden, sondern auch die Wohneinheit. Das hat zur Folge, dass man im sogenannten e-Devlet („e-Staat“, digitale Behörden-Plattform, wie Ulf und Philip sie sich für Deutschland wünschen ) sehen kann, ob bzw. dass fremde Menschen in der eigenen Wohnung registriert sind und wählen gehen können. (Somit können Menschen in mehreren Wahlbezirken zur Stimmabgabe gehen) und viele, vieles mehr…