Auf ein paar Kommentare wollte ich noch eingehen:
Nein, Aufgeben ist sicherlich keine Option. Wenn ich mich beruhigt habe und sachlich darüber nachdenke, finde ich es natürlich auch gut, wenn Ökonomen in den Medien sinnvolle Steuer- oder andere soziale Reformen erklären, auf Einwände eingehen und den interessierten Bevölkerungsteilen Argumente an die Hand geben, die zB am Weihnachtstisch untergebracht werden können.
Wenn aber Regierungsparteien diese Forderungen aufgreifen, sollten sie m.E. sehr, sehr vorsichtig bei der Frage sein, ob und wie sie diese nach den letzten Jahren in den Wahlkampf integrieren. Soziale Reformen fänden – gut erklärt – viele Menschen sicherlich attraktiv, ob man sie Grünen/SPD abnimmt, ist eine ganz andere Frage.
Auslöser dieser Diskussion waren auch die Wahlergebnisse in den USA, daher ziehe ich mal einen Vergleich: In den Volksabstimmungen einzelner Staaten („ballot measures“) haben Wähler häufig für demokratische Positionen, gleichzeitig in der Präsidentschaftswahl aber für Trump gestimmt (zB Missouri: Trump gewinnt, dabei aber Annahme einer Verfassungsänderung pro Abtreibungsrecht, Erhöhung des Mindestlohns, Einführung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; ähnliche Tendenz in Arizona, Florida). Die Positionen sind also durchaus beliebt, nach den letzten vier Jahren war das Bedürfnis, die gegenwärtige Regierung abzustrafen aber deutlich größer. Wenn die deutschen Regierungsparteien auf Grundlage der gegenwärtigen Stimmung nun erkennen, dass man Wahlen gewinnt, wenn Politik auch und gerade in Krisenzeiten von Wählern „spürbar“ wird und dann soziale Reformprojekte bewerben, sehe ich deutliches Potenzial sich lächerlich zu machen. Was man aus Parteiensicht im Wahlkampf anders machen kann: Weiß ich auch nicht. Die Erkenntnis bestand darin, dass man Stimmen sichert, indem man die Situation seiner Wählergruppen spürbar sichert oder verbessert, während man Regierungsverantwortung hat, nicht indem man anschließend darüber redet.
Etwaige Erklärungen zur Koalition („Dafür gab es keine Mehrheit“), zur Schuldenbremse („mit der FDP nicht zu machen“) oder zu den erreichten Maßnahmen („300 Euro Energiepreispauschale!“) verstehe ich. Das was erreicht wurde, hat für viele (mich eingeschlossen) sicherlich die Belastungen verringert, unterm Strich ist aber vor allem Belastung spürbar. Der Eindruck der letzten Jahre ist - nach meiner rein subjektiven Erfahrung - viel zu groß, um ihn durch ein paar Erklärungen oder Slogans wettzumachen. Wie gesagt, meine Wahlentscheidung wird das gegenüber 2021 nicht ändern und ich weiß, dass meine Situation zB unter schwarz-gelb vermutlich noch schlechter wäre. Ich gehöre aber im Bevölkerungsvergleich – wie vermutlich viele hier im Lageforum – zu einer hyperinteressierten Minderheit. Und trotzdem merke ich, wie mich das mittlerweile emotional anfasst und wie ich schlicht keinen Bock habe, an irgendeinem Sonntag bald wieder zur Wahl zu latschen. Ich habe „nur“ ein Magengrummeln und gehe trotzdem, einige haben zwischenzeitlich sicher abgeschaltet und bleiben zu Hause und wer vor Wut komplett den Verstand verloren hat, der wählt halt die Nazis.
Selbst in meiner politisch eher wenig interessierten, grds sozialliberalen Bubble sehe ich die Anfänge davon: Ein Bekannter meinte letztens, wenn er ausschließlich auf sein Eigeninteresse schauen würde, dann müsste er demnächst AfD wählen, die würden immerhin die CO2-Bepreisung kippen. Es war wohl keine ernste Wahlabsicht und ist natürlich inhaltlich Quatsch und moralischer Abgrund. Aber der Gedanke ist da und geht durch „Wir von der SPD waren 22 der letzten 26 Jahre in Regierungsverantwortung und sorgen jetzt aber wirklich dafür, dass deine Steuerlast sinkt“ nicht weg.
Zumal selbst das nur ein Versprechen marginal sinkender Belastungen wäre und fernab einer positiven Vision liegt. Schon den Versuch einer Formulierung von echter, glaubhafter Perspektive für Normalverdiener-Haushalte (finanzierbares Familienleben und vorhandene, verlässliche Betreuungsmöglichkeiten, bezahlbares Wohnen, Bildungsaufstieg, Sicherung im Alter etc., kurz: Rahmenbedingungen zur Selbstverwirklichung) übernimmt niemand mehr. Und das obwohl gerade in urbanen Räumen der vorhandene Reichtum so offensichtlich ist und so deutlich wird, dass es sich nicht um ein allgemeines Ressourcenproblem, sondern für viele um bloßes, individuelles Pech bei der Verteilung handelt.