Sollten Ost- und Westdeutschland getrennte Wege gehen?

Ja, ich weiß, dass das eine provokante Frage ist, aber sie begegnet mir nicht nur in einem kürzlich gesendeten Deutschlandfunk-Kultur-Kommentar:

Sondern mittlerweile auch zunehmend im persönlichen Umfeld. Und mir gehen, offen gestanden, langsam die Argumente aus, um ein Zusammenbleiben zu rechtfertigen.

Auch der ostdeutsche Soziologe Steffen Mau sagt ja, dass es ein Zusammenwachsen, an das Willy Brandt so unerschütterlich glaubte, absehbar nicht geben wird:

Dass es kaum mehr Gemeinsames gibt, haben die Europawahlergebnisse in Ost und West noch einmal in erschreckender Weise verdeutlicht:

Die Umfragen für die drei anstehenden Landtagswahlen und auch eine Reihe von Studien lassen ebenfalls keine Hoffnung aufkommen, dass Willy Brandt doch am Ende recht behalten könnte.

Und zu allem Überfluss fühlen sich Nazis in Ostdeutschland offenbar sauwohl:

Das Einzige, was mich momentan noch davon abhält, die Frage mit Ja zu beantworten, ist der taz-Schwerpunkt „Wahlen in Ostdeutschland 2024“, der den Glauben an ein anderes Ostdeutschland, wenn auch auf sehr kleiner Flamme, wie ich gestehen muss, aufrechterhält:

Wenn ich Berichte und Reportagen über die unter schwierigen Bedingungen zivilgesellschaftlich Engagierten im Osten lese, kehrt in mir vorübergehend das Gefühl zurück, dass man diese tollen Ostdeutschen nicht alleine lassen darf.

Gelegentlich ertappe ich mich jedoch auch bei dem Gedanken, dass man diese tollen Menschen ja auch - nach einer Trennung - aufnehmen könnte.

Was denkt ihr? Welche Gründe sprechen (noch) gegen eine Trennung?

Ein zusätzlicher deutscher Nationalstaat würde ja das Elend nur verdoppeln.
Weniger salopp: Ich bin großer Fan von mehr Selbstbestimmung auf subnationaler Ebene oder im Allgemeinen durch kleinere, nicht nationale Einheiten. Hab daher auch schon über ähnliches nachgedacht, aber weniger als DDR 2.0, da ich vermute, dass es in den ostdeutschen Bundesländern dafür wohl keine Mehrheit gäbe. Man müsste es aber auch in einer solchen Ordnung schaffen, Menschenrechte zu garantieren und Fragen internationaler oder sogar globaler Bedeutung in koordinativen Netzwerken zu bearbeiten. Beispiel: Wenn Sachsen und Brandenburg sich abspalten, um u.a. möglichst lange weiter Kohle abzubauen und zu verbrennen, ist das fatal für unser aller Lebensbedingungen.

Etwas weniger utopisch betrachtet, denke ich aber, dass wir es doch wohl hinbekommen sollten, solidarisch gemeinsam zu leben, Konflikte eben friedlich auszutragen und die 10 bis 15 Prozent Unfriedlichen, von denen es überall ein paar gibt, im Zaum zu halten. Aufgeben is nich.

Edit: Typo.

1 „Gefällt mir“

Also ich hätte gern eine Trennung vom Rheinland und Bayern ab der Weißwurstgrenze.

2 „Gefällt mir“

Mir kommt das Präambel zum Grundgesetz in den Sinn:

Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.

Die Einheit Deutschlands und die Arbeit an einem vereinten Europa ist also nicht nur ein Nice to Have, das wir als Volk mal so mitnehmen, wenn es uns passt, sondern steht ganz am Anfang, in den ersten Sätzen, sogar noch vor dem ersten Artikel. Ich würde sagen, es gehört zu unseren zentralen Aufgaben, das Erbe der Vereinigung, die als Symbol für eine friedliche Revolution auch weltweite Tragweite hat, zu verteidigen.

Mir fallen zwei konkrete Gründe gegen eine Trennung ein:

  • sie würde die Probleme nicht lösen
    Die Nazis wären dann ja nicht weg. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir eine neue harte Grenze hätten, sie könnten also immer vorbei schauen. Sie würde auch nicht auf magische Weise unsere Parlamente effizienter machen oder die inhärenten Probleme von Demokratien lösen.
  • sie würde neue Probleme schaffen
    So ziemlich alles, was bisher auf Bundesebene läuft, müsste ja irgendwie aufgeteilt werden. Das würde gigantische Kosten verursachen, die beide Staaten so stark verschulden würde, dass wir da nie wieder raus kämen. Das verlorene internationale Vertrauen in die Stabilität Deutschlands würde unser Kredit-Rating in den Keller schicken, heißt wir könnten uns auch ohne Schuldenbremse nicht einfach so Geld leihen. Es gäbe massive inländische Migrationsbewegungen, die die sog. Flüchtlingskrise komplett in den Schatten stellen würde. Das ganze würde sich wahrscheinlich Jahrzehnte hinziehen - Jahrzehnte, in denen wir mit Klimawandel, Überalterung der Gesellschaft, Umbau der Wirtschaft etc. schon jetzt über Kapazität belastet sind.

Es wäre einfach nicht realistisch machar.

Was die Umfragen angeht: hier würde ich argumentieren, dass vor nicht allzu langer Zeit nach dem Attentat auf Donald Trump seine Wahl von vielen Kommentatoren und „Experten“ schon fast als gesichert galt. Heute, nur Wochen später, hat sich das Blatt komplett gewendet, weil in der Person von Kamala Harris zum einen eine Frau zur Wahl steht, die die Schwächen von Trump sehr gut spielen kann, aber auch gleichzeitig den Wählerinnen und Wählern von den USA eine ganz neue Perspektive bieten kann. Was ich damit sagen will: die öffentliche Meinung kann sich schnell ändern, in die ein oder andere Richtung. Und ich habe immer noch die Hoffnung, dass wir es noch schaffen, einen Anführer (m/w/d), vielleicht sogar aus dem Osten, zu finden, der es schafft, das Land hinter sich zu einigen und ebenso neue Perspektiven zu schaffen. Ein ähnliches Beispiel aus Deutschland wäre der Laschet-Lacher am 17.07.2021, der für eine Trendwende bei den Umfragewerten der CDU mitverantwortlich sein dürfte (28-30% im Juli auf 20-21% im September, bekommen haben sie bei der Wahl 24%).

Dein Bezug zur Präambel des Grundgesetzes ist ein sehr formalistisches Argument. Und bloß weil dort was von der „Verantwortung vor Gott“ steht, würdest du ja auch nicht behaupten, dass das irgendeine Rolle spielte oder spielen sollte. Aber wenn man schon auf diesen Abschnitt verweist, dann sollte man auch präzise sein. Dort steht: „hat […] gegeben […] haben […] vollendet“, es handelt sich somit um eine reine Beschreibung in der Vergangenheitsform. Lediglich der letzte Satz steht im Präsens, beansprucht also auch für die Gegenwart Gültigkeit. Eine solche Beschreibung des Status quo ist jedoch erst mal kein „Auftrag“.

Nun zu deinen inhaltlichen Argumenten („zwei konkrete Gründe gegen eine Trennung“), auch da will ich mal Advocatus Diaboli spielen:

Aus Sicht der alten Bundesrepublik würde sich das Nazi- und Putinist:innen-Problem deutlich verringern und somit die Gefahren für die Demokratie. Auch dann, wenn das ehemalige Beitrittsgebiet keine „harte Grenze“ hätte. Du schreibst ja selbst von „Migrationsbewegungen“. Solche wären wohl wahrscheinlich, nämlich dahingehend, dass es Rechtsextreme und andere Autoritarist:innen noch vermehrt ins dann benachbarte Ausland der ehemals neuen Bundesländer zöge. Diese Auswanderung würde also die Problembelastung in den alten Bundesländern noch verringern.

Umgekehrt würde es eine Gegenbewegung vom Osten in den Westen geben. Vorwiegend junge und intelligente Menschen würden somit in der alten Bundesrepublik, die ja als Rechtsnachfolgerin weiterhin in der EU wäre, wohingegen es in den ehemals neuen Ländern zum „Dexit“ käme, sobald die rechtsextreme AfD an der Macht wäre, eine neue Heimat finden. Das verringerte den Fachkräftemangel im Westen und käme auch den Sozialsystemen zugute. Die neuen Länder sind ja jetzt schon überalterter als die alten. Kostenseitig ergäbe sich also ein massives Plus für den Westen in gleich doppelter Hinsicht. Die Rating-Agenturen würden die neue alte Bundesrepublik nicht herabstufen, sondern tendenziell eher aufwerten, zumal auch die Nettotransfers von inzwischen mehreren Billionen Euro entfielen. Ein jahrzehntelanger Entflechtungsprozess wäre also gar nicht nötig.

Teuer würde es lediglich für den nicht-westdeutschen Staat.

Und selbst die von @tacuissem angesprochene Klimaproblematik, die aus einer Trennung auf ostdeutscher Seite resultierte, ließe sich durch internationalen Druck wahrscheinlich einigermaßen glimpflich lösen. Stichwort: Klimazölle.

Was Umfragen und Wahlergebnisse angeht, bin ich weniger optimistisch als du. Ungarn sei hier als Beispiel genannt. Die von dir angeführte Situation in den USA war und ist ja eine unter unterschiedlichen Aspekten andere als in Deutschland. Das fängt beim Parteien- und Wahlsystem an und hört beim Medien- und Wirtschaftssystem noch lange nicht auf. Auch dort gab es z. B. schon mal die Überlegung eines „Bluexit“. Um aber nicht ins Klein-Klein zu gehen, sei hier an dieser Stelle nur erwähnt, dass im US-Zwei-Parteiensystem im Prinzip diejenige Partei mit ihren Kandidat:innen die Nase vorn hat, die in Swing States die eigene Klientel besser mobilisiert. Es gibt zudem aber auf der Electoral Map v. a. eindeutige Red und Blue States. Und da tut sich auch seit Jahrzehnten fast nichts, es sei denn, die Demografie ändert sich substanziell. Davon ist hierzulande nicht auszugehen, schon gar nicht in den neuen Bundesländern. Wenn man also aus den USA Schlüsse ziehen kann, ist es insb. der, dass auch langfristig keine größeren Veränderungen der Einstellungen und Wahlpräferenzen zu erwarten sind. Das wäre dann wiederum eher ein Argument für eine Trennung von Ost- und Westdeutschland in den Grenzen von 1989.

1 „Gefällt mir“

Könnte dann der „Ost-Teil“ Deutschlands aus der NATO austreten, eine eigene Armee aufstellen und sich ggf. der Russischen Föderation als Bündnis anschließen?
Weit gedacht, wäre aber eine interessante Sachlage im Herzen der NATO :wink:

Wenn man die völkerrechtliche Souveränität achtet, sicherlich.

Das würde allerdings das Bedrohungspotenzial kaum erhöhen. Russische Hyperschallraketen wären ja auch in wenigen Minuten am Ziel in Westdeutschland.

Russische Truppen zum Schutz vor der NATO in Ostdeutschland zwischen Polen und Westdeutschland hätte schon was Skurriles

Noch so ein Fall, der einen im Zwiespalt zurücklässt:

Der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar, Jens-Christian Wagner, äußert sich im Zeit-Interview wie folgt:

In unseren Bildungsabteilungen werden tagtäglich wissenschaftlich basierte und didaktisch gut durchdachte Bildungsprogramme für junge Menschen entwickelt. Wenn man dann hört, dass in den Jugendwahlen, die in Thüringen parallel zur Europawahl an den Schulen veranstaltet wurden, die AfD ein Ergebnis von 48 Prozent hatte, dann kann man schon mal am Sinn seiner Arbeit zweifeln. Jeder und jede zweite Jugendliche würde die AfD wählen. Die Frage ist allerdings umgekehrt: Wie sähe es aus, wenn es unsere Arbeit nicht gäbe?

Dass fast die Hälfte der an der Jugendwahl Teilnehmenden in Thüringen mit Faschist:innen sympathisiert, zeigt ja nun mal, dass selbst Aufklärung anscheinend wenig bis nichts bringt. Allerdings geht der Gedenkstättenleiter davon aus, dass es ohne die Aufklärungsarbeit noch schlimmer sein könnte.

Soll man nun die andere Hälfte ihrem Schicksal überlassen?

1 „Gefällt mir“

Die ostdeutsche Gesellschaft würde sich unter AfD-Ägide ja ohnehin militarisieren.

Aber auch das würde die Kosten in Westdeutschland nicht noch weiter nach oben treiben, da allein die russische Bedrohung schon die Verteidigungsfähigkeit im NATO-Bündnis forciert.

Wir hätten dann wieder wie im Krieg den „Feind“ direkt an der Grenze.

Und wieder eine Mauer?

Die Ausgangsfrage war ja, ob Ost- und Westdeutschland getrennte Wege gehen sollten.

So gesehen könnte man auch auch argumentieren: Besser den Feind jenseits der Landesgrenzen als im Innern.

Ich finde die Fixierung auf Ostdeutschland schwierig. Ostdeutschland hat diese Probleme nicht exklusiv. Man muss sich nur die ländlichen Gegenden in Westdeutschland ansehen, da ist die Nazipartei auch mit 30-40% dabei. Ich sehe da einen wachsenden Stadt-Landkonflikt zusammen mit der wachsenden Vermögensungleichheit. Der Osten hat schlicht weniger städtische Ballungsgebiete und wurde nach der euphorischen Wende wirklich teilweise extrem dreckig behandelt. Ich empfehle die Podcastreihe Schaut auf diese Stadt von der FAZ:

4 „Gefällt mir“

Ist Westdeutschland so viel stärker urbanisiert? Das würde ich doch bezweifeln.

Bei der Bundestagswahl 2021 betrug der Faktor des Abschneidens der AfD im Osten gegenüber dem Westen 2,3.

Bei der Europawahl 2024 waren es 2,2.

Die AfD ist also im Schnitt mehr als doppelt so stark im Osten.

Das reaktionär-populistische, putinfreundliche BSW bekam bei der Europawahl in diesem Jahr anteilig im Osten mehr als dreimal so viel Wählendenzuspruch.

Das ist schon ein Riesenunterschied.

Aber ich sehe deinen Punkt, der mir angesichts von einem Stadt-Land-Gefälle durchaus schlüssig erscheint.

Wenn ich mir die Ergebnisse in den Landkreisen zur Europawahl anschaue, fällt mir jedenfalls auf, dass die rechtsextreme AfD im Westen fast nirgendwo über 20 % gekommen ist, während die AfD im Osten fast nirgendwo unter 20 % blieb. Und das BSW war im Westen nirgendwo zweistellig, im Osten dagegen - wenn ich nichts übersehen habe - überall.

Zur Pflichtverteidigung:

1 „Gefällt mir“

Ich frage mich gerade, ob der Thread von dieser Meldung inspiriert wurde, bzw. durch das Video dazu :face_with_monocle:

Wer weniger „Vermögensungleichheit“ möchte, ist jedenfalls bei der AfD definitiv an der falschen Adresse. Und Benachteiligung im Zuge des Aufbaus Ost („extrem dreckig behandelt“) rechtfertigt auch nicht, eine rechtsextreme Partei zu wählen. Oder soll das jetzt Zündeln an der Demokratie aus Rache legitimieren?

Die Antwort lautet Nein. Den Anstoß zum Themenvorschlag (Dlf-K-Kommentar) habe ich oben verlinkt. Hinzu kamen vermehrte Aussagen aus dem Bekanntenkreis.

Also ich finde die Städte Pirmasens oder Pforzheim mit 25%. Und beide liegen fast schon äußerst westlich und sind wenig ländlich. Dicht gefolgt von Salzgitter mit 22% und Gelsenkirchen mit 21%. Aber ich lese gern weiter Geschichten vom geschlossen antifaschistischen Westen…

4 „Gefällt mir“

Das sind jetzt 4 Kreise/kreisfreie Städte von 325 in der alten Bundesrepublik. Das sind 1,2 %. Das würde ich als „fast nirgendwo“ bezeichnen.

Aber die Behauptung, auf die ich mich bezog, lautete ja auch:

Das ist doch weitestgehend fern der Realität.

Ich denke, der Kommentar von Paul Stänner sollte nicht zu ernst genommen werden.
Aber er spiegelt natürlich westliche Befindlichkeiten.

Heute, nach gemeinsamen Jahrzehnten, in denen wir Wessis Milliarden über Milliarden an die neuen Verwandten überwiesen haben, dämmert uns, dass wir mit diesen Brüdern und Schwestern doch nicht so eng waren.[…]
Und mir scheint: So wollen sie die Wessis ärgern! Aber muss das so bleiben?

So schlecht die gefühlte Lage im Osten ist, hatten sie dennoch starke Lohnzuwächse und ist die finanzielle Situation mit einem Land, in dem man halt gekauft hat, was es gerade gab und einem Staat, der Spitzenpositionen nur mit Parteitreuen besetzt hat, nicht vergleichbar.

Er wäre nicht Teil der NATO, genauso nicht Teil der EU (diese Diskussion gab es, als GB noch EU war, Schottland aber unabhängig werden wollte).
Es hätte eine heilende Wirkung, da der Osten nun wirklich Verantwortung für sich übernehmen müsste und niemandem die Schuld geben könnte.

Ironischerweise wäre das gar nicht so. Nimm den Bundestag und Bundesrat: man hat ja nichts optimiert, sondern die neuen Bundesländer einfach oben drauf gesetzt.

2 „Gefällt mir“