In der Tat, ganz so einfach ist es nicht. Ich weiß auch, dass es Ärzt:innen gibt, die der Meinung sind, allein schon wegen PIMS sei eine präventive Impfung von Kindern ratsam, aber da gibt es auch durchaus andere Einschätzungen. Einigkeit besteht derzeit wohl nur darüber, dass die Datenlage zu PIMS immer noch schlecht ist.
Das fängt schon bei der Häufigkeit an, daher hierzu ein paar Daten: Ende März wurde diese ja im Corona-Update auf 0,0002 bis 0,001 Prozent der Infizierten Kinder und Jugendlichen geschätzt. Die Studie, von der Drosten heute gesprochen hat, konnte ich noch nicht finden, aber die Quote lag mit 0,0014 Prozent ja nicht viel höher. Das PIMS-Survey der DGPI listet für den Zeitraum zwischen KW 23/2020 und KW 18/2021 insgesamt 305 Fälle von PIMS bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland auf. Umgerechnet auf die grob geschätzten (RKI-Daten nur in 5-Jahresschritten) 448.000 minderjährigen Infizierten in dem Zeitraum ergibt das eine Quote von 0,0007 Prozent, also noch etwas unter der Schätzung vom März. Hinzu kommt noch die Dunkelziffer nicht erkannter Infektionen, die in der Altersgruppe gut beim 4-6-fachen liegen könnte. Kurzum: es ist noch nicht mal annähernd klar, wie häufig PIMS überhaupt ist.
Angesichts dieser Situation finde ich es schon etwas merkwürdig, wenn Drosten im Podcast zwar eingangs die „unklare Datenlage“ zu PIMS kritisiert, dann aber anstatt nachdrücklich eine bessere Datenlage zur Bedingung für eine Entscheidung zu machen, mit dem „Gefühl“ von Eltern, vulgo mit der - nicht unbedingt immer wissenschaftlich begründeten - Sorge um eine mögliche Erkrankung ihrer Kinder argumentiert. Auch bei seiner Betonung, dass es sich um eine „schwere Krankheit“ handelt, hat Drosten wohl vergessen zu erwähnen, dass PIMS inzwischen gut und schnell behandelt werden kann und dass weniger als 7% der Betroffenen länger anhaltende Beschwerden haben.
Auch bei diesem Aspekt finde ich Drosten im heutigen Podcast widersprüchlich. Einerseits werden die Beispiel Israel, aber vor allem UK herangezogen, um zu sagen, dass die Impfung von 50-60% der Erwachsenen einen enormen Effekt auf das Infektionsgeschehen auch unter nicht geimpften Kindern und Jugendlichen hat. So habe es in UK bei einer ähnlich hohen Impfquote, wie wir sie hier im September haben werden, trotz offener Schulen keine steigende Inzidenzen bei Jüngeren gegeben - BTW anders als in der zweiten Welle und trotz Dominanz von B117. Das könnte man durchaus als Argument dafür lesen, dass massenhafte Impfungen von Kindern zur Wiederherstellung des Schulbetriebs eben nicht erforderlich sind. Aber gegen Ende spricht Drosten dann, wie er selber sagt, „aus dem Bauch heraus“ auf einmal doch von einem „sehr hohen“ Infektionsrisiko in Schulen. Auf die Widersprüche zwischen diesen beiden Einschätzungen geht er aber gar nicht ein.
Zudem „wundert“ Drosten sich über die Meinung „einiger Berufsvertreter“ (bei der Formulierung bin ich mir nicht mehr ganz sicher, aber gemeint sind ja ganz klar, die pädriatischen Fachverbände), aber es bleibt eben so ein Raunen, da er nicht konkretisiert, was ihn denn genau wundert, geschweige denn welche Einschätzungen von wem er warum falsch findet.
Hier noch ein aktueller Artikel mit einer Reihe von Einschätzungen von DGKJ-Prädisent Jörg Dötsch.
Letztlich kommt es eben sehr auf die Darstellung an: Die Aussage „Wenn wir die Schulen wieder ganz öffenen, ist die Chance, dass Dein Kind sich im Verlauf des Winters infiziert 50:50. Wenn das passiert, kriegt Dein Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1000 eine schwere Krankheit und muss ins Krankenhaus!“ hat natürlich eine andere Wirkung als die Aussage „Wenn es nach der Impfung eines Großteils der erwachsenen Bevölkerung überhaupt noch ein nenneswertes Infektionsgeschehen unter Kindern und Jugendlichen gibt, und Dein Kind sich dabei infizieren sollte, besteht eine Wahrscheinlichkeit von zwischen 1:1.000 und 1:10.000, dass Dein Kind Symptome bekommt, die in den allermeisten Fällen bei einem relativ kurzen Aufenthalt im Krankenhaus gut behandelt werden können.“
TL/DR: Meiner Meinung nach ist die Sache bei PIMS bei Weitem nicht so klar, wie Du sie darstellst. Es gibt keine klaren Daten, unterschiedliche Einschätzungen bzw. Framings.
Edit: Die Studie von der Drosten gestern sprach, untersucht Fälle zwischen Dezember 2019 und Mai 2020 - also mit völlig anderen Test- und Behandlungsmöglichkeiten (ergo: mehr symptomatische Fälle und schwerere Verläufe. Also erstens keine „neuen“ Daten und zweitens nicht wirklich vergleichbar.
Edit 2: es ist beim heutigen Stand der Forschung wohl noch nicht mal ausgeschlossen, dass auch eine Impfung PIMS auslösen kann.