Slogan „Take Back Control“: Lässt sich Migration überhaupt steuern?

Lieber Philip, lieber Ulf,
wir haben seit Jahren eine Migrationskrise mit unendlichem Leid und tausenden Toten sowie überforderten Kommunen und erstarkenden Rechtspopulisten und Faschisten. Die beiden Positionen immer höhere Mauern zu bauen auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Wunsch jedem der in der EU ankommt eine neue Heimat bieten zu wollen stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Ich unterstelle jedoch dem konservativen Lager, dass sie durchaus sehen, wie notwendig Migranten und die Einhaltung der Menschenrechte sind. Den Wunsch unsere Außengrenzen zu schützen und ein gewisses Maß an Steuerung zu haben wer zu uns kommt, teile ich. Aktuell kontrollieren die Migrationsrouten mafiöse Schleuserbanden denen illegale Pushbacks entgegen gesetzt werden - eher unbefriedigend.

Eure wiederholte Aussage Migration sei ein von Deutschland nicht lösbares und steuerbares Problem finde ich ärgerlich, da es durchaus vielversprechende Ansätze auch jenseits von populistischen Luftschlössern gibt. Ich würde mir hier nochmal eine Folge zu dem Thema mit einer differenzierten Betrachtung von Arbeitsmigration, Flucht, den Herausforderungen bei der Integration und möglichen Lösungen wünschen.

Beispielsweise ließe sich mit weiteren Abkommen wie dem Türkei Deal von 2016 sowohl das Sterben im Mittelmeer, als auch der Kontrollverlust an den Außengrenzen begrenzen. Ein naheliegender Testfall hierzu wäre ein Abkommen mit dem Vereinigten Königreich, in dem die EU sich verpflichtet alle irregulären Migranten die mit dem Boot ankommen zurück zu nehmen und im Gegenzug legale Einreisemöglichkeiten für Arbeitsmigranten und Flüchtlinge geschaffen werden. Nach dem gleichen Prinzip wären Abkommen mit Staaten wie Marokko denkbar.
Vielleicht könnt ihr zu dem Thema einmal Gerald Knaus interviewen, von dem ich diesen Gedanken übernommen habe. Siehe dazu
WDR5: Neugier genügt: Lösungen für die Migration.

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Ich mag mich irren, aber war die Aussage nicht eher über Fluchtbewegungen?

Da würde mich Evidenz interessieren. Wie genau hängt Türkei-Deal mit dem Sterben im Mittelmeer zusammen?

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Take Back Control war ein Slogan, mit dem man den Brexit an die Briten verkauft hat. Es wurde unterstellt, dass u.a. die Migration nach GB außer Kontrolle sei und ein Brexit die Möglichkeit sein wird, diese wieder zu erlangen. Das Argument verfing vor allem bei Rassisten.

Ich finde deshalb die Überschrift… problematisch.

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Der Zusammenhang ist folgender: es riskieren weniger Leute ihr Leben in untauglichen Booten, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist nach erfolgreicher Überfahrt zurück geschickt zu werden. Soweit ich weiß sind die Zahlen drastisch gefallen, nachdem der Vertrag in Kraft war.

Der Kontext der Überschrift ist mir bewusst und absichtlich gewählt. Denn der Brexit ist das beste Beispiel, dass ohne Lösungen der seriösen Politiker am Ende die Populisten gewinnen und eine Menge Schaden anrichten.

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Das ist richtig, weil sie waren ja dann in der Türkei.
In der bisher Flüchtlingen sehr offen gegenüber stehenden Türkei werden diese nun immer mehr als Problem gesehen.

Und was die Boote angeht: die meisten, die in der Türkei landen, sind Syrer und Iraner. Die nehmen den Landweg.

Das ist eine beliebte Darstellung der „linken“ politischen Position zur Migration, wird aber in der Realität von kaum jemandem vertreten. Ich würde den „inks-progressiven“ Konsens vielleicht so beschreiben:

  • Dafür sorgen, dass im Verantwortungsbereich der EU, insbesondere auf dem Mittelmeer und an den eigenen Außengrenzen, kein Geflüchteter durch unterlasse Hilfeleistung oder Behinderung von ehrenamtlichen Rettern ums Leben kommt.
  • Asylanträge gemäß internationaler Verträge annehmen und bearbeiten.
  • Menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten im laufenden Asylverfahren. Keine Nutzung sozialer Ausgrenzung, Kriminalisierung oder vorsätzlicher Verarmung zur Abschreckung.
  • Schnelle und bürokratiefreie Arbeitserlaubnis (= Chance auf Integration), auch für Menschen im noch laufenden Asylverfahren.
  • Keine Abschiebung gut sozial und wirtschaftlich integrierter Menschen, unabhängig von einer Veränderung des Asylstatus.

Darüber hinaus gibt es in meiner Wahrnehmung auch eine links-progressive Position zur Migration allgemein, die aber nicht wirklich was mit Asyl und Flucht zu tun hat:

  • Geregelte und diskriminierungsfreie Arbeitsmigration auch für Menschen aus dem globalen Süden ermöglichen.
  • Geregelter und diskriminierungsfreier Nachzug von Familienmitgliedern und ein klarer Weg zur Staatsbürgerschaft.

Da bist du großzügiger als ich. Ich kann ehrlich gesagt weder in der Rhetorik, noch in den Handlungen des konservativen bis rechten politischen Lagers in Deutschland irgendwas in dieser Richtung erkennen, wenn es um das Thema Migration geht.

Ich finde das eine stark verkürzte Darstellung der Aussagen in der LdN. Worauf insbesondere @vieuxrenard glaube ich immer wieder hingewiesen hat, ist dass der innenpolitische Bekenntnisse und Maßnahmen deutscher Politiker (z.B. „Obergrenzen“, Grenzkontrollen, soziale Härte gegen Asylbewerber und Ausreisepflichtige), nur einen sehr geringen oder gar keinen Einfluss auf Migrationsdynamiken haben und das aussenpolitische Maßnahmen in ihrer Wirkung sehr begrenzt sind.

Der Türkei-Deal ist da sicherlich eine Ausnahme, die ja aber in der Lage auch ausführlich besprochen wurde. Vergleichbare Abkommen sind aber derzeit nicht in Sicht, auch nicht mit der Türkei, weil diese maßgeblich von der Innenpolitik der Transitländer und der europäischen Partner abhängen – und eben nicht von den Prioritäten deutscher Politiker.

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Denkbar ja, aber es gibt Gründe, warum es diese Abkommen bisher nicht gab – Deutschland müsste dafür nämlich auch was anbieten, z.B. erheblich höhere legale Migration aus Marokko und das wollen die Konservativen eben auch nicht.

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Worauf Gerald Knaus sich bezieht ist, dass die Zahl der Flüchtlinge, die übers Mittelmeer geflohen sind von ca. 1 Million im Jahr vor dem Abkommen auf 26.000 im Jahr nach dem Abkommen gefallen sein soll [1]. Und somit ist natürlich auch die Zahl der Ertrunkenen zurück gegangen.
Die Frage ist natürlich, welcher Anteil dieser Änderung wirklich auf den EU Türkei Deal zurück zu führen ist, also ob es da wirklich einen kausalen Zusammenhang gibt.

[1]

Wo soll da der Zusammenhang sein?
Wer übers Meer kommt, landet ja in der Regel direkt in Italien oder Griechenland.
Denn kann ich ja nicht in die Türkei zurückschicken, da er da gar nicht war.

Der Brexit ist das beste Beispiel dafür, dass eine einstmals seriöse konservative Partei sich dafür entschieden hat, zu einer populistischen zu werden und dadurch eine Menge Schaden anzurichten. Solange nur Nigel Farage und seine UKIP einen Brexit wollte, war es nicht wirklich ein Problem. Aber als David Cameron meinte, ein Referendum darüber abhalten zu müssen und spätestens mit der Kampagne von Dominic Cummings und Boris Johnson haben dann die Tories die Rolle der UKIP übernommen und diese überflüssig gemacht.
Genau dieselbe „Strategie“ haben Union, aber teilweise auch SPD und FDP beim Thema Asylpolitik schon mehrmals verfolgt - fast immer mit dem Ergebnis, dass rassistische Positionen salonfähig(er) wurden und Forderungen, die ehemals nur AfD oder noch Rechtere vertreten haben, von anderen Parteien übernommen wurden. „Probleme“ hat das natürlich nie gelöst, sondern immer nur neue geschaffen, genau wie beim Brexit.

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Die Westbalkanroute führt über die Türkei durch die Ägäis nach Griechenland. Auf dieser Route sind 2015 fast die Hälfte aller Flüchtlinge gekommen [1] und rund 1000 Menschen in der Ägäis ertrunken [2].
Ob der EU Türkei Deal die tatsächlich beobachtete Reduzierung der Flüchtlingszahlen über diese Route maßgeblich beeinflusst hat ist damit nicht gesagt und ist glaube ich auch umstritten aber völlig unplausibel ist es nicht.

[1]

[2]

Das Problem an dem Slogan „Take Back Control“ ist, dass er ein falsches und unerreichbares Bild von „Kontrolle“ vermittelt. Ich beobachte das auch in der deutschen Debatte: Politiker faseln da irgendwas von Obergrenzen und das wir (also die deutschen Behörden) bestimmen sollten, wer kommt. Das ist aber realitätsfern.

Der gegenwärtige Rechtsrahmen (der sich auch nicht ohne Bruch von Völkerrecht ändern lässt) sieht nunmal vor, dass jeder, der an der deutschen Außengrenze auftaucht und das Wort „Asyl“ sagt, ins Land gelassen werden muss. Und da wir für die meisten Menschen der Welt keinerlei legale Chance auf Migration anbieten, ist das eben der Weg, den die meisten dieser Menschen wählen. Da ist keine Kontrolle zu haben.

Politiker und Behörden versuchen das zu kompensieren, indem der Prozess nach diesem Kontrollverlust möglichst restriktiv gestaltet wird: penibles und langwieriges Asylverfahren, Arbeitsverbote, minimale soziale Teilhabe, Abschiebung auch von gut integrierten Menschen. Das alles kann den ursprünglichen Kontrollverlust aber nicht mehr aufheben und verstärkt das entsprechende Gefühl in der Bevölkerung teilweise sogar.

Eine Grundlegende Änderung dieser Dynamik ist für mich eigentlich nur denkbar, wenn wir unser Verständnis von „Kontrolle“ grundlegend ändern. Also weg von der Vorstellung einer Mauer, durch die nur eine kleine Zahl handverlesener Menschen gelassen wird, hin zum Bild eines Stadions, vor dem tausende Menschen anstehen: wir können nicht kontrollieren, wer alles ein Ticket kauft, aber wir können den Einlass organisieren, auf gefährliche Gegenstände kontrollieren und am Ende haben alle Spaß am Spiel :wink:

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Wo hast Du Denn gesucht?

Auszug aus dem Entwurf zum CDU Grundsatzprogramm:

Deutschland braucht qualifizierte Arbeits- und Fachkräfte aus Europa und der Welt. Wir wollen für sie ein attraktiver und lebenswerter Standort sein. Wir wollen dem Fachkräftemangel gezielt und langfristig mit einer neuen digitalen Agentur für Einwanderung entgegenwirken, um die deutschen Auslandsvertretungen und die Ausländerbehörden zu entlasten und um Visaverfahren und die Anerkennung von Berufsabschlüssen zu beschleunigen. Für uns ist aber klar: Die berufliche Qualifikation muss das entscheidende Kriterium für die gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften sein. Damit verhindern wir die Zuwanderung in die Sozialsysteme.

Das ist, gemessen an der Realität, so ziemlich das schrägste Beispiel, das Du finden konntest. De facto sind Deutsche Fußballstadien mittlerweile zu einem teilweise rechtsfreien Raum geworden. Das Hausrecht kann praktisch nicht durchgesetzt werden, da keine effektive Kontrolle auf verbotene Gegenstände oder Personenfeststellung (z.B. um Stadionverbote am Eingang durchzusetzen) durchgeführt werden kann. Hinzu kommt, dass weder Ordnungswidrigkeiten noch Straftaten im Stadion verfolgt werden. Würde sich eine politische Demo so verhalten wie ein durchschnittlicher Block an einem Samstagnachmittag, würde er von einer Hundertschaft mit Verweis auf Verstöße gegen das Vermummungsverbot und Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz gestürmt.

Wir wissen alle, was Du sagen wolltest, aber es passt leider nun mal überhaupt gar nicht zur Realität. :smiley:

Ich vermute mal, er hat in Reden, Gesetzesvorlagen, Beschlüssen etc. gesucht - also in der medialen Selbstdarstellung und realen Handlungen. Da sieht es tatsächlich mau aus.
Nebenbei geht es in Deinem Zitat um das gezielte Abwerben von Fachkräften, nicht um die von ped monierten Punkte wie „Menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten“ oder dass an der EU-Außengrenze jedes Jahr unzählige Menschen zu Tode kommen (wenn man mal den letzten Satz ignoriert, nach dem die CDU eine Einwanderung in die Sozialsysteme verhindert will).

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Das suggeriert, dass es eine signifikante Anzahl von Arbeitsmigranten gibt, die sich als Flüchtlinge ausgeben. Gibt es dafür Belege? Meines Wissens kamen die meisten Flüchtlinge aus Ländern in denen kurz vorher kriegerische Konflikte ausgebrochen/eskaliert sind. Das passt in meinen Augen nicht so recht zusammen.

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Laut Wikipedia ist „Wirtschaftsflüchtling“ ein Begriff, der schon seit den 1970er Jahren in politischen Debatten meist in abwertender Weise benutzt wird, um Menschen abzusprechen, dass sie tatsächlich fliehen - sei es vor politischer Verfolgung oder vor Krieg. Heute heißen „Wirtschaftsflüchtlinge“ halt „Arbeitsmigranten“, aber an der politischen Funktion des Begriffs ändert das nicht. Ich finde es ein intellektuelles Armutszeugnis für die Gesellschaft, dass dieselbe Nummer nach nun schon fast 50 Jahren immer noch so gut funktioniert…

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Ich denke mal, das liegt daran, dass man den Menschen Armut gern unterschwellig selbst vorwirft, nicht nur bezogen auf Migrant:innen. Es kann sich ja mal jeder selbst überlegen, welche Vorstellung oder intuitive Reaktion die unterschiedlichen Worte bei ihm:ihr wecken (bevor dann das rationale(re) Denken einsetzt). Wer wegen Armut sein Land verlässt, hat sich in dieser Lesart halt nicht genügend angestrengt oder möchte sich nur ein schönes Leben machen, auf das kein Recht besteht. Dass Armut und vermeintlich „echte“ Asyl- oder Fluchtgründe wie Krieg und Unrechtsregime in der ganz großen Mehrzahl der Fälle eng verknüpft sind, fällt dann mal eben unter den Tisch. Dass würdevolle Lebensbedingungen unabhängig von individuellem „Verdienst“ für alle verwirklict werden sollten, auch.

Arbeitsmigration gibt es natürlich auch. Wenn Deutsche in die Schweiz ziehen, fliehen die wohl kaum vor dem Unrechtsregime der BRD, möchten aber sehr wohl legitimerweise ihre Lebensumstände verbessern. Irgendwo verläuft also eine Trennlinie…aber sicher nicht dort und so sauber, wie sich diejenigen, die gern mit „Wirtschaftsflüchtling“ um sich werfen, das vorstellen.

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„Muss“ sollte vielleicht lieber „müsste“ heißen. Ich würde meine Hand dafür nicht ins Feuer legen. Und denkt an Polen, die straflos und bejubelt von Frau von der Leyen die Menschen, die über Weißrussland kamen, in die Wälder gejagt haben. Oder die Pushbacks in Griechenland. Oder die Hunde und Schläge in Kroatien. Gewalt wird offiziell legitimiert,mindestens aber billigend in Kauf genommen.

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