Schuldenbremse

Hier wird immer darauf verwiesen, die FDP wäre gegen Investitionen. Kann das bitte nochmal jemand belegen?

Ich nehme den Diskurs anders wahr. Die FDP (und Teile der SPD) will Investitionen im Rahmen der Schuldenbremse, indem man konsumptive Ausgaben reduziert oder zumindest nicht weiter steigert.

Ich finde dieser Ansatz hat durchaus Charme. Erst sollte man schauen, ob konsumptive Ausgaben nötig sind oder weiter erhöht werden müssen. Wenn Einsparungen dort nicht weiter möglich sind, dann muss man natürlich an die Kreditaufnahme ran.

Und man muss natürlich schauen, ob mehr Investitionen in einem Gebiet tatsächlich mehr bringen oder ob sie nur Mitnahmeeffekte erzeugen. Die Bahn bspw. läuft bzgl. der Instandsetzung des Netzes an der Kapazitätsgrenze und braucht eher mehr ausführendes Personal. Mehr Milliarden werden da zu kaum mehr Bautätigkeit führen. Es werden auch nicht zehntausende BWLler zu Schweißern umschulen, nur weil man dort plötzlich ähnlich viel oder sogar 5€ pro Stunde mehr verdienen kann.

Bei der Ausstattung von Schulen mag das anders aussehen. Bei der Lehreranzahl bezweifle ich das allerdings. Der Lehrerberuf leidet nicht in erster Linie an zu wenig Gehalt. Und wer den Beruf in erster Linie wegen des Gehalts macht ist selten ein guter Lehrer (habe viele Lehrer in der Familie und Bekanntenkreis). Die wird man allerdings bekommen wenn man plötzlich 6stellig zahlt.

Erstmal sind wir uns sicher einig, dass die FDP keine höheren Investitionen will, wenn sie diese durch Schulden finanzieren müsste, obwohl dies auch unter Einhaltung der Schuldenbremse (z.B. durch Investitionsgesellschaft, Erklärung einer Notlage) möglich wäre, oder?

Dann vertritt die FDP sehr offen die Ideologie, dass grundsätzlich nicht der Staat, sondern die Privatwirtschaft primär für Zukunftsinvestitionen verantwortlich ist. Das hat die Partei auch sehr offen im Wahlprogramm von 2021 geschrieben:

Wir Freie Demokraten wollen, dass im Jahr 2025 in Deutschand 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investiert werden – und zwar vor allem privat und nicht vorrangig vom Staat.

Darüber hinaus vertritt die FDP allgemein die Position, der Staat solle kleiner werden, nicht größer. Ich glaube also schon das es zulässig ist zu behaupten, die FDP ist gegen (staatliche) Investitionen – die passen einfach nicht in ihr Weltbild.

Dazu passt auch, dass sich in dem Wahlprogramm sehr wenige Pläne zu substantiellen Investitionen in öffentliche Infrastruktur finden. In der Regel will die FDP „in die Zukunft investieren“, indem Bürokratie abgebaut wird, staatliche Akteure reibungsloser handeln und „softe“ Leuchtturmprojekte zur Startup- und Eliteförderung finanziert werden. Und Steuersenkungen natürlich.

Ja, aber sie machen keinerlei umsetzbaren Vorschlag, wie man die konsumptiven Ausgaben soweit senken kann, dass man die nötigen Investitionen dadurch finanzieren könnte. Gleichzeitig wollen sie auch die Steuern nicht erhöhen. Und keine Schulden machen. Zusammen läuft das eben zwangsläufig darauf hinaus, dass nicht genug investiert wird (Stichwort Nettoinvestitionen).

Doch, darauf wurde in der Lage doch ausführlich eingegangen. Wenn die Bundesregierung jetzt klare Zusagen macht, die Investition z.B. in das Schienennetz über die nächsten 10 Jahre mit jährlich 20 Milliarden Euro zu finanzieren (Zahl ist aus der Luft gegriffen), dann kann sich die Baubranche auf diese Perspektive einstellen und gezielt Kapazitäten aufbauen.

Ich hatte vor Kurzem ein Interessantes Gespräch mit einem Sandgrubenbetreiber und Baustoffhändler in der Nähe von Magdeburg. Sobald die EU die Zusage für die Intel-Subventionen erteilt (sollte bald soweit sein), weiß er, so seine Aussagen, dass dort über die nächsten paar Jahre X Tonnen Beton verbaut werden. Dies würde die Produktionskapazität aller Lieferanten der gesamten erweiterten Region auslasten. Er könne also ungeachtet der exakten Vergabeverträge in dem Moment anfangen, zusätzliche LKW-Fahrer anzuwerben und Fahrzeuge zu beschaffen, weil er weiß, dass er an diesem Kuchen beteiligt wird.

Diesen Effekt will man auch in den relevanten Branchen für die deutschlandweite Infrastruktur und nicht, dass die von Monat zu Monat und Auftrag zu Auftrag denken, weil dann entsteht nie zusätzliche Kapazität.

Das stimmt. Aber meine Schwester hat bis vor kurzem an einer Berliner Grundschule gearbeitet, die nicht genug Geld für Reinigungskräfte hatte. Wenn man als Lehrerin sein eigenes Klassenzimmer auch noch putzen muss (natürlich ohne Bezahlung der nötigen Überstunden), dann sinkt die Motivation deutlich. Ausstattung und Zustand der Schulen ist deshalb ein wesentlicher Faktor für die Motivation und Retention von LehrerInnen.

Außerdem: warum nicht einfach deutlich mehr Lehrer einstellen? Wenn erstmal das gesamte Autobahn- und Schienenbudget aus dem Staatshaushalt per Investitions-Trick ausgelagert wurde ist dafür vielleicht auf einmal deutlich mehr Geld da.

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Bei den eigenen Ministerien hat das schon mal nicht geklappt.

Ampel-Koalition gönnt sich ein üppiges XXL-Format
Handelsblatt

Tausende neue Beamtenstellen trotz Haushaltskrise – wofür? | MDR.DE

Die FDP will keine neue Schulden aufnehmen, hat ein dickes Minus im Haushalt, und dazu will sie noch Steuern senken (also noch weniger Geld zum Verteilen haben). Ob man das als „gegen Investitionen“ bezeichnen kann, keine Ahnung. Besonders einfach werden neue Investitionen (ich vermute Du meinst Infrastruktur etc.) dadurch jedenfalls nicht.

Danke @ped, tolle Zusammenfassung. Ich fasse mich kurz:

Jaein. Ich nehme war, dass sie schuldenfinanzierte Ausgaben ablehnen, solange man bzw. sie im Haushalt noch Einsparpotenziale sieht. Ob sie bei entsprechenden Maßnahmen weitere Schulden bei akutem Bedarf ablehnen würde kann ich nicht sagen. Möglich, aber nicht sicher.

Erstmal zur Definition von Zukunftsinvestitionen:

Zukunftsinvestitionen sind Ausgaben, die auf langfristige Wirkung zielen und sich erst in der ferneren Zukunft auszahlen werden. Sie sind darauf ausgelegt, perspektivisch einen positiven Einfluss auf die Wirtschaft zu haben und sollen, zum Beispiel durch eine Krise verursachte, Störungen im wirtschaftlichen Gleichgewicht verhindern oder auffangen. Insbesondere in Phasen der Rezession sind Zukunftsinvestitionen also wichtig.

Sind wir uns nicht einig, dass es großartig wäre wenn die Wirtschaft ebenfalls wieder stärker in Zukunftsinvestitionen einsteigen würden? (Grundlagen-)Forschung in Unternehmen (in der IT völlig gängig), Mitarbeiterausbildung oder ein langfristig angelegter Werksausbau können hier bspw. Optionen sein. Ob die 25 % realistisch sind bezweifle ich. Aber anscheinend schafft die USA es Unternehmen hier wesentlich besser anzureizen. Angeblich fließen dort 9-10% des Umsatzes in die Forschung, in Europa 6,5 % und in Deutschland nur 5,8 %.

Da sollte man die FDP vermutlich direkter stellen und ganz klar nach Projekten und Ideen fragen. Wobei wenn man googelt findet man durchaus Themen, wie bspw. das Startchancenprogramm, Investitionen in Schiene und Verkehr usw… Dennoch, das ist ganz klar viel zu wenig.

Liegt das vielleicht auch daran, dass die Koalitionspartner das ohnehin ablehnen werden? Aber ja, ich kann mich vor allem an die Forderung erinnern, 3 Jahre keine neuen(!) Sozialleistungen zu schaffen. Dafür hatte ich allerdings durchaus Sympathien, ebenso wie für den Wunsch nach Steuererhöhungen der Grünen und SPD.

Volle Zustimmung. Es benötigt langfristige Zusagen. Daran mangelt es in Deutschland an allen Ecken und bei allen Parteien, außer wen es um Renten- oder Pensionserhöhungen geht. Aber geht es bei den Diskussionen um die Schuldenbremse wirklich um langfristige Zusagen? Ich habe den Eindruck es geht meist um den jeweils nächsten Haushalt. So hat selbst Rheinmetall bisher vor allem kurzfristige und keine 5Jahres-Aufträge erhalten, obwohl Geld da wäre.

Ganz klar: Das geht gar nicht!

Wollen denn soviele Menschen gerade Lehrer werden? Laut Arbeitsagentur liegt die Arbeitslosenquote von Lehrern bei nur 1,3 % - von Vollbeschäftigung spricht man bei <= 2%.

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Stimmt und das kritisiere ich schon seit Jahren. Im Handelsblatt-Artikel stehen auch die Gründe dafür, die man zweifelsohne als Steuergeldverschwendung ansehen kann.

Mich hat mal interessiert welches Ministerium wieviel Stellenzuwachs bekommen hat. Der Focus hat das mal aufgelistet. Ich habe sehr hemdsärmelig Balken um die Namen gelegt, um deutlich zu machen, welche Partei wieviel Personal aufgebaut hat ist. Die Bewertung darf jeder selbst vornehmen.

Die beiden Ministerien, die Personal abbauten, taten dies übrigens nur weil sie Zuständigkeiten abgaben - Justiz verlor den Verbraucherschutz an den Bereich Umwelt, Innen verlor den Wohnungsbau an das Bauministerium.

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Danke!

Da muss ich deutlich widersprechen. Oder um es mit Kubicki zu sagen:

Eine Umgehung der Schuldenbremse werde es mit ihnen nicht geben, sagt Wolfgang Kubicki – „auch nicht per Notlage“.

Das Zitat steht exemplarisch für alle FDP-Äußerungen. Zusätzliche Schulden gibt es nicht, egal unter welchen Bedingungen, solange man dafür die (von der FDP selbst festgelegten) Grenzen der „korrekten“ Interpretation der Schuldenbremse überschreiten müsste.

Ich habe das Wort verwendet, weil die FDP es in ihrem Wahlprogramm explizit erwähnt:

Wir Freie Demokraten wollen daher neue Impulse durch Zukunftsinvestitionen entfachen.

Ich bin mir aber extrem unsicher, ob die das im Wahlprogramm genauso definieren wie später (!) die FES im Kontext des Zukunftsinvestitionsprogramms. Ich glaube dass da das selbe Hype-Wort für zwei verwandte aber unterschiedliche, nicht scharf umrissene Konzepte genutzt wird.

Absolut! Aber Viele der im Raum stehenden Investitionen können gar nicht von der Privatwirtschaft geleistet werden. Autobahnen, Schulen und Schienen sind staatliche Monopole. Stromtrassen und Glasfaser im ländlichen Raum kommen nur durch staatliche Förderung zustande. Erneuerbare Energien sind an der Kippe zur privatwirtschaftlichen Rentabilität, brauchen aber auch oft noch Subventionen damit die Ausbauziele eingehalten werden. Wasserstoffkraftwerke werden nur gebaut, wenn der Staat Mindestumsätze garantiert. Etc.

Ja, unter anderem weil die Regierung dort über den opportunistisch benannten Inflation Reduction Act 783 Milliarden (!) Dollar in Zukunftssektoren wie Batterie- und Chipproduktion und Erneuerbare Energien steckt.

Das hindert die FDP ansonsten auch nicht, alles mögliche zu fordern und zu sagen.

Dann steigen die Sozialleistungen aber trotzdem, weil die Menschen im Schnitt älter und kränker werden. Die FDP bleibt einfach die wichtigen Antworten schuldig.

Habeck hatte diese langfristigen Projekte ja versucht über den Klimafond langfristig zu finanzieren. Das ist am Verfassungsgericht gescheitert. Danach gab es durchaus den Vorschlag, separate verfassungsgemäße Sondervermögen zu schaffen, das hat die FDP aber abgelehnt.

Natürlich müsste man zusätzlich ausbilden, aber die Zahl der Lehrer steigt seit Jahren und ich wüsste nicht, warum das nicht auch weiter möglich wäre: Lehrkräfte in Deutschland bis 2023 | Statista

Aber hier in RLP habe ich mal bei den Landtagsabgeordneten nachgefragt und die sehen die Zahl der Lehrer langsam bei 100% angekommen – obwohl bei Schwangerschaft und Krankheit eines Kollegen an den Schulen immer noch der Betrieb zusammenbricht, weil der Betreuungsschlüssel zwar formal eingehalten wird, für solche Fälle aber keine Reserve da ist. Das Ziel sollte meiner Meinung nach bei ca. 120% des aktuellen Betreuungsschlüssels liegen. Das ließe sich (zumindest hier) auch über 2-5 Jahre erreichen.

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Ich verstehe nicht warum in fast jedem Ministerium so viel mehr Stellen benötigt werden, gleichzeitig Großprojekte viel länger dauern und unsere Prozesse in der Verwaltung im internationalen Vergleich immer schlechter funktionieren.

Wenn es um Bürokratie Abbau geht sind sich die meisten Parteien einig. Wenn er in der Praxis im Detail vollzogen werden soll will keiner mehr was davon wissen.

Unabhängig von irgendwelcher Parteipolitik. Bürokratie Abbau heißt den Staat zu verschlanken.

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Weil der Staat immer mehr Aufgaben übernimmt und diese Aufgaben immer komplexer werden. Zum Beispiel hat vor 40 Jahren kein Mensch über den Klimawandel nachgedacht oder geredet. Heute haben viele Kommunen einen Klimaschutzmanager, die Bundesregierung beschäftigt vermutlich tausende Menschen, die sich mit den unterschiedlichen Aspekten der Klimapolitik und deren Umsetzung beschäftigen.

Und im Vergleich zu früher sind viele politischen Projekte heute komplexer. Beim Thema Migration erwarten wir von der Bundesregierung nicht nur, dass sie hier ankommende Geflüchtete registriert, verteilt und deren Anträge bearbeitet (und das in seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr dargewesener Zahl), sondern auch dass innerhalb von Europa Umverteilungsprozesse stattfinden, eine europäische Grenz- und Flüchtlingspolitik geschaffen und umgesetzt wird und darüber hinaus mit allen möglichen Herkunfts- und Transitstaaten Abschiebungen und Abkommen koordiniert werden. Früher gab es ein paar Republikflüchtlinge und das war’s.

Hier ein paar Antworten: Großbauprojekte: Haben wir das Bauen verlernt? - ZDFheute

Allerdings tauchen in dieser Liste der größten Bauprojekte in Deutschland auch eine Reihe auf, die nicht arg im Verzug zu sein scheinen: Mega-Baustellen: Top 10 Großprojekte in Deutschland - PlanRadar

Für mich wäre es mal interessant eine tatsächliche Gegenüberstellung von erfolgreichen und weniger erfolgreichen Bauprojekten zu sehen und analysiert zu bekommen, warum die einen funktioniert haben und die anderen nicht. In der öffentlichen Berichterstattung werden die absoluten Vollkatastrophen (BER, Elbphillharmonie, S21) sicherlich überbewertet, aber auch da wäre ich an einer objektiven Auswertung interessiert.

Allerdings hat sich der Erfüllungsaufwand, also die jährlichen mit dem Einhalten von Gesetzen und Vorschriften für Unternehmen verbundenen Kosten, in den letzten Jahren kaum erhöht: Erfüllungsaufwand - Statistisches Bundesamt (Der Ausschlag 2021 geht auf ein Gesetz zur Reduzierung der CO2-Emission im Straßenverkehr zurück, dass Mineralölkonzerne zur Senkung der Emissionen bei Treibstoffen zwingt – aber erst ab dem Jahr 2030. Die Kosten werden aber im Jahr der Gesetzgebung, also 2021, veranschlagt).

Nicht jede Bürokratie ist schlecht oder ungewollt. Wenn das Gesundheitsamt sicherstellt, dass die Restaurants sauber sind und sich niemand eine Lebensmittelvergiftung holt, dann ist auch das „Bürokratie“. Wissen wir alle aber total zu schätzen (jedenfalls wenn man mal eine Lebensmittelvergiftung hatte). Auch das wir keinen sauren Regen mehr haben und in unseren Flüssen wieder schwimmen können ist der Bürokratie zu verdanken. Wer Bürokratieabbau fordert ist darum meiner Ansicht nach verpflichtet auch ins Detail zu gehen: welche Bürokratie genau?

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Hast du da irgendwelche Zahlen oder Statistiken wie die Aufgaben des Staates immer weiter gewachsen sind? Insbesondere in den Kernbereichen des Staates wie Bildung und Infrastruktur fände ich es interessant.
Damals gab es ja auch gigantische Herausforderungen wie die Wiedervereinigung.

Also in vielen Bereichen ist es offensichtlich:

Bildung und Betreuung:

Migration und Integration

Klimawandel

Verteidigung

  • Die Bundeswehr ist auf einmal wieder wichtig. Zwischen 1990 und 2020 hat die Bundesregierung nur noch Minimalbeträge in Verteidigung investiert, jetzt herrscht angeblich Zeitenwende.

Infrastruktur

  • Der Staat muss die Energiewende umsetzen. Das bedeutet hohe Investitionen (und viel Manpower) in den Ausbau von Netzen und Kraftwerke.
  • Die Zahl der Autobahnkilometer in Deutschland ist von 1991 knapp 11.000km auf 2022 gut 13.000km gewachsen. Und viele dieser Autobahnen dürften in den letzten 30 Jahren mehr Spuren bekommen haben. Verkehrsinfrastruktur und Fahrzeugbestand | Umweltbundesamt
  • In Deutschland gibt es 33.000 Kilometer Schiene, davon aber nur gut 20.000 Kilometer elektrifiziert. Die Bundesregierung will sowohl das Schienennetz ausbauen, als auch vollständig elektrifizieren. (s.o)

Gesundheit und Pflege

  • Allein die Zahl der Pflegebedürftigen, die zu Hause von ambulanten Pflegediensten versorgt werden, ist in den 20 Jahren bis 2021 um 141% gestiegen. Die Zahl der Angestellten bei ambulanten Pflegediensten hat sich im selben Zeitraum verdoppelt. Vermutlich weil wir sowohl alle älter (aber im Alter nicht unbedingt gesünder) werden, also auch weil immer seltener die Familienangehörigen die Pflege übernehmen (können). Hier soll’s der Staat richten, der das sowohl zum großen Teil finanzieren, als auch den institutionellen und rechtlichen Rahmen schaffen muss. Pflege: Pflegebedürftige in Deutschland - Statistisches Bundesamt

Und jetzt kommt der Kicker:

Es mag sein, dass das eine oder andere Ministerium in den letzten Jahren zusätzliche Stellen bekommen hat. Aber insgesamt ist die Zahl der Beamten, Richter und Angestellten im Öffentlichen Dienst seit 1991 von knapp 6,5 Millionen auf 5 Millionen gesunken: Beschäftigte nach Geschlecht und der Art des Dienst- oder Arbeitsvertragsverhältnisses, Stichtag 30. Juni - Statistisches Bundesamt

Wenn man sich also fragt, warum die deutsche Bürokratie nicht mehr so richtig gut funktioniert, dann liegt es vielleicht auch einfach daran, dass wir dem Staat heute erheblich mehr Aufgaben aufbürden, ihm dafür aber erheblich weniger Personal zugestehen. Vielleicht wäre es ja eine Lösung, die Beschäftigten in Bund, Ländern und Kommunen einfach deutlich aufzustocken. Aber klar: dafür müsste natürlich irgendwo das Geld herkommen …

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Danke für die Zahlen und Beispiele. Beispiele wie Migration, Energiewende und Pflege sind absolut nachvollziehbar hier haben sich die Aufwände deutlich erhöht.

Etwas weniger Nachvollziehbar ist es im Bildungsbereich, da hier die Zahl der Schulpflichtigen Kinder stetig zurück geht. Zum Vergleich im Jahr 1995 etwa 9.350.000 Schüler:innen und im Jahr 2023 etwa 8.200.000 Schüler:innen.

Auch die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in der Statistik die du geteilt hast liegt 2023 (5,266 Mio Menschen) nur knapp unter dem Niveau von 1995 ( 5,371 Mio. Menschen) mit deutlich weniger beschäftigten in den Jahren dazwischen. Beschäftigte nach Geschlecht und der Art des Dienst- oder Arbeitsvertragsverhältnisses, Stichtag 30. Juni - Statistisches Bundesamt

Die Zahl der Richter:innen, beispielsweise ist über die Jahre stabil geblieben und trotzdem haben wir heute an vielen Stellen eine Überlastung der Justiz. Wir sollten hier nicht versuchen mit mehr Ressourcen / Geld das Problem zuzuschütten, sondern mit Weitsicht in schlanke, digitale Prozesse investieren, Rechtsprechung wo immer möglich zu vereinfachen und neue Wege gehen (bspw. Audiomittschnitte der Verhandlung, Lage Thema).
Die einfache Forderung nach mehr Geld und mehr Personal ist mir an vielen Stellen einfach viel zu kurz gesprungen - insbesondere dann wenn man gerade nichts übrig hat.

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Es mag sein, dass die Zahl der SchülerInnen zurückgeht, aber wenn wir heute ca. 1 Mio weniger Schüler haben, aber gut 2 Mio mehr Ganztagsschüler, dann steigt der Aufwand unterm Strich trotzdem.

Gleichzeitig ist übrigens der Anteil der Schüler mit Förderbedarf gestiegen: von 6,0% im Jahr 2008 auf 7,9% im Jahr 2020. Da sind die Kinder, die Sprachförderung brauchen noch gar nicht drin, deren Zahl dürfte in Folge der hohen Migration auch enorm zugenommen haben (würde sich außerdem mit den anekdotischen Berichten aus den mir bekannten Schulen decken).

Dann sind da noch die erheblich gewachsenen Ansprüche an die pädagogischen Konzepte und die technische Ausstattung der Schulen. Das muss auch alles in irgendeiner Form finanziell, legislativ und organisatorisch durch den Staat begleitet werden. Bei uns in RLP wurde zum Beispiel vor kurzem die Grundschulordnung angepasst, um Schule mehr Flexibilität beim Thema Noten, Leistungsnachweise und Unterrichtsorganisation zu geben – Gleichzeitig gibt es aber wegen der recht großen Defizite bei den Kernkompetenzen immer mehr standardisierte Lernstandskontrollen.

Aber es gibt Probleme, die lassen sich am besten und nachhaltigsten über mehr Geld lösen. Beispiel Lehrer: Meines Wissens nach gibt es genau eine wissenschaftlich nachweisbar funktionierende Strategie, wie man dafür sorgt das Kinder mit guten Lese- und Rechenfähigkeiten aus der Grundschule rausgehen: genug gut ausgebildete Lehrer. Und wenn der Anteil der förderbedürftigen und nichtdeutschen Kinder an den Schulen zunimmt und Lehrer jetzt auch die Hausaufgaben begleiten sollen (bei den Ganztagsschulen) dann muss man eben die Zahl der Lehrer pro Kind erhöhen.

Die Corona-Maßnahmen haben deutlich gezeigt, dass vermeintlich „schlanke“ Lösungen (Fernunterricht) komplett defizitär sind. Wer gut ausgebildete Kinder haben möchte, muss bereit sein das nötige Geld für Lehrer (und Materialien, Schulgebäude, etc.) in die Hand zu nehmen. Das bringt langfristig auch finanzielle Dividenden.

Auch bei den Richtern: Wir sind heute erheblich mehr Menschen in Deutschland als nach der Wende. Mal unabhängig davon, wo die Digitalisierung an den Gerichten steht und ob das Recht an sich komplizierter geworden ist: Wie kann man denn erwarten, dass bei substantiell wachsender Bevölkerung die selbe Zahl Richter einen gleichbleibend zufriedenstellenden Job machen kann? Klar kann man da Betriebsabläufe durch Digitalisierung beschleunigen, das wäre auch dringend nötig. Aber am Ende muss eben ein Richter das Verfahren leiten, Zeugen anhören und Akten studieren. Die Anzahl der zugelassenen Rechtsanwälte hat sich seit 1991 übrigens verdreifacht.

Im Dienstleistungssektor der Privatwirtschaft hat die Produktivität je Erwerbstätigen übrigens seit 1991 abgenommen (Unternehmensdienstleistungen -25%, Finanzdienstleistung -9%, Sonstige Dienstleistungen +1%). Öffentliche Dienstleistungen sind dagegen deutlich produktiver geworden (ca. +20%).

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Ich glaube da liegt das Kaninchen im Muskatnuss.

Wir wollen wohl primär problemlose Schüler die einfach funktionieren, keine Unterstützung brauchen und eigenständig zum Abschluss kommen.
Die ganzen Schüler mit Förderbedarf und „Defiziten“ sind vielen einfach zu aufwändig und zu teuer.
Das spiegelt sich schon in unserem Schulsystem wieder. Geld für zusätzliches pädagogisches Personal möchte man da nicht ausgeben.

Schulen müssen gut organisiert sein, sollten aber nicht an wirtschaftlicher Effizienz gemessen werden. Denke ich.

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Nur eine kleine Anmerkung zu deiner Auflistung: Viele dieser Bereiche wird überwiegend von Menschen bearbeitet, die nicht in einem Ministerium arbeiten und so nicht in deren Statistik auftauchen.

In den Ministerien arbeiten meist Verwaltungsangestellte, Controller und Juristen - also das was man üblicherweise als administrativen Wasserkopf bezeichnet.

Wenn du also bspw. den Personalaufbau im Gesundheitsministerium mit der Pflege begründest, müsstest du erklären inwiefern mehr Personal im BMG tatsächlich mit mehr Pflegepersonal korreliert. Mir leuchtet das nicht ein. Denn Pflegepersonal ist zumeist in privatwirtschaftlichen Unternehmen oder gemeinnützigen Organisationen beschäftigt und verwaltet, nicht vom Ministerium.

Gleiches gilt für das BMBF, da das mit der Einstellung oder Ausbildung neuer Lehrkräfte besonders wenig zu tun hat. Denn Bildung ist Ländersache und wird vor allem dort verwaltet.

Und aus meiner Zeit bei der MPG weiß ich auch sicher, dass Mitarbeiter in bundesstaatlichen Forschungseinrichtungen definitiv auch nicht dem BMBF zugerechnet werden. Ich gehe fest davon aus, dass das beispielsweise bei den allermeisten Richtern ebenfalls so ist. Die weit überwiegende Zahl der Richter ist schließlich beim Kreis oder Bundesland angestellt.

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Ich glaube, @ped meint die

Das ist sicher richtig. Aber @ped hat mit den gewachsenen Aufgaben des Staates den Personalaufbau in den Ministerien begründet. Da hakt es bei mir aktuell etwas im Verständnis.

Wenn wir den Pflegesektor so stark ausbauen, dass knapp 150% Pflegeempfänger von 200% Pflegekräften versorgt werden, dann leuchtet es mir ehrlich gesagt total ein, dass der dazugehörige Staatsapparat – vom Gesundheitsamt bis zum Ministerium – auch wachsen muss. Hier ist zum Beispiel eine ziemlich lange Liste an Dingen, die sich laut BMG zum Jahreswechsel 2023/24 in der Pflege und im Gesundheitswesen ändern: Das ändert sich 2024 in Gesundheit und Pflege | BMG

Jede dieser Änderungen musste ja irgendwie vorbereitet und umgesetzt werden. Und darin sind Maßnahmen, die ausschließlich die (Versicherungs)Wirtschaft betreffen ja noch gar nicht enthalten.

Wenn du diese Veränderungen mal durchgehst, dann geht es da praktisch immer um eine Entlastung der Bürger und die Übernahme von Aufgaben und Leistungen durch den Staat (mal abgesehen von ein paar Digitalisierungsmaßnahmen). Also nicht um eine bloße Aktualisierung der Gesetzgebung, wie sie ja hin und wieder mal notwendig wird.

Die von mir zitierten Zahlen haben sich auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst bezogen, der meines Wissens Definitionsmäßig auch Beamte, Richter und Angestellte im öffentlichen Dienst in den Kommunen und Ländern umfasst. Die Soldaten habe ich jeweils rausgerechnet, weil das ja nur indirekt mit der Thematik was zu tun hat. Ob Forscher an staatlichen Forschungseinrichtungen als Angestellte im öffentlichen Dienst gerechnet werden weiß ich nicht, meine Vermutung wäre nein.

Verstehe, dann reden wir anscheinend von unterschiedlichen Dingen.

Laut Lineage der Posts (also die Abfolge der Zitationen) hatte @Felix11 Unverständnis über den Mitarbeiter-Aufbau in den Ministerien (siehe dazu Schuldenbremse - #26 von turmfalke) geäußert, nicht über die Anzahl Mitarbeiter im öffentlichen Dienst allgemein.

Lass mich hier klar sein. Ich bin sehr für den Ausbau der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. Mehr Mitarbeiter in den Ministerien, also einen größeren Wasserkopf, sehe ich in der Tat aber auch kritisch.

Das Irritierende an der Schuldenbremsendiskussion ist meines Erachtens zunächst, dass das Gesamttableau fehlt und in Boulevardmedien falsche Einsparpotenziale behauptet werden.

Beispielsweise wird immer wieder suggeriert, im Sozialen könnte man zig Milliarden kürzen, was aber z. T. schon wegen Bundesverfassungsgerichtsurteilen zum soziokulturellen Existenzminimum rein rechtlich gar nicht möglich wäre.

Da hege ich den Verdacht, dass C-Parteien und FDP erst einmal den Sozialstaat auf das verfassungsrechtlich gerade noch Mögliche (wenn nicht gar darüber hinaus) eindampfen wollen.

Um eine Gesamtbilanz zu erstellen, wäre eine möglichst vollständige Auflistung von notwendig fixen Kostenanteilen in den verschiedenen Bereichen eine wesentliche Grundvoraussetzung.

Dann könnte man erst einmal die unabdingbaren Muss-Kostenposten von den Kann- oder Nice-to-have-Ausgabenposten unterscheiden und Erstgenannte vom Gesamtkuchen abziehen.

Dann hätte man überhaupt erst einmal das verbleibende Budget disponibler Gelder.

Und erst dann kann man sinnvoll darüber streiten, wofür in welchen Bereichen anteilig wie viel Geld ausgegeben werden soll. Wobei langfristige Amortisierungen nicht aus dem Blick geraten sollten.

Wenn man die Bedarfe so eruiert hat, ließe sich feststellen, ob der verbleibende derzeitige Kuchen ausreicht.

Ist das nicht der Fall, kann man sich über etwaige Einsparpotenziale in bestimmten Bereichen oder auch Gegenfinanzierungsmodelle (z. B. durch Steuer- bzw. Abgabenerhöhungen) auseinandersetzen.

Erst dann ergibt die von der FDP propagierte Priorisierung Sinn.

Kommt man schließlich zum Schluss, dass Mehreinnahmekonzepte kontraproduktiv sind, aber die notwendigen Bedarfe dennoch deutlich oberhalb der für notwendig befundenen Bedarfe liegen (z. B. wurden Infrastrukturausgaben über Jahrzehnte vernachlässigt, was auch längst in Studien/Berechnungen mit mehreren Hundert Milliarden Euro beziffert wurde), dann ergäbe sich daraus die logische Notwendigkeit einer Reform der Schuldenbremse.

Mein Vorschlag wäre daher eine Kommission unter Beteiligung von Fachleuten und Bund, Ländern und Kommunen zu installieren, die erst einmal die nötigen Vorarbeiten übernimmt.

Meiner Einschätzung nach würde diese zum Ergebnis kommen, dass - Steuer- bzw. Abgabenerhöhungen hin oder her - die notwendig anzustrebenden Zukunfts- und Erhaltsinvestitionen nicht ohne eine Reform der Schuldenbremse leistbar wären.

Eine Beobachtung zum Schluss:

Die „Fiskalfalken“ nennen auffällig oft absolute Zahlen, um Ausgabenposten zu beziffern. Das ist populistisch, denn die Finanzierungsbedarfe ändern sich allein schon durch die jährlichen Preissteigerungen. Jede Ausgabe muss daher am BIP gemessen werden.

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