Ich bestreite die Sinnhaftigkeit von Konzepten wie „die Wirtschaft“, „die Nachfrage“ oder dem „gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzial“. Diese sind bestenfalls irrelevant, wahrscheinlich aber irreführend.
Zum „gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzial“
Natürlich kann man zu jedem ökonomischen theoretischen Konstrukt etwa messen, wie die von Dir verlinkten Slides oder der Ifo-Indikator für die Gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung zeigen. Aber was sagt uns ein Wert von X und was folgt aus einer Veränderung von Y?
Die Indikatoren zeigen für 2005 und 2006 eher eine Normalauslastung während 2009 klar unterausgelastet ist. Die Arbeitslosigkeit war aber in 2009 und 2010 um ca. 1,5 Mio. niedriger als in 2005 und die Erwerbstätigkeit um 1,6 Mio. höher. Der Faktor Arbeit war mithin in der Phase der „Unterauslastung“ stärker beschäftigt als in der Phase Normalauslastung. Was sollen man mit so einem Konzept anfangen? Diese Maße scheinen die Realität, wie soll ich sagen, sehr spezifisch abzubilden.
Methodische Probleme:
Das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzials ist ein theoretisches Konzept, dem keine empirische Entsprechung gegenübersteht, die direkt messbar wäre. So liefert der Versuch Kapital zu messen schon genügend Diskussionsstoff und die Operationalisierung der „Technologie“ aus der ökonomischen Theorie, in der alles mögliche steckt, ist empirisch nur als Restgröße möglich (Solow-Residual). Folglich kann das Produktionspotenzial aus konzeptionellen Gründen nicht gemessen, sondern nur geschätzt werden. Dafür gibt es prinzipiell drei Methoden:
- Umfragen bei Betrieben
- Zeitreihenanalysen
- Theoretisch fundierte Produktionsfunktionsschätzungen
zu 1.
Die Umfragen bei Betrieben ist die direkteste Methode. Sie leuchtet mir auch noch am ehesten ein. Sie leidet aber schon darunter, dass nur aktuell bestehende Betriebe befragt werden. Gerade geschlossene Betriebe, von denen noch die Produktionsanlagen stehen und die Beschäftigten zwar schon entlassen die Qualifikationen aber noch nicht entwertet sind, gehen beispielsweise nicht ein. Neue Betriebe, bei denen beispielsweise schon alle Maschinen stehen aber noch nicht alle Stellen besetzt sind, dürften je nach Fragestellung eine überhöhte Auslastung berichten.
Über die Auslastung der Produktionsfaktoren einer Volkswirtschaft sagen diese Befragungen aber nichts aus, da die Nicht-Nutzung außerhalb der jeweiligen Betriebe nicht berücksichtigt wird.
Schrumpft ein Betrieb, der gestern noch 50% Auslastung hatte, sind es bei gleicher Produktion heute 100%.
Die Fokussierung auf Betriebsbefragungen führt also dazu, das wesentliche Aspekte nicht erfasst werden, weil sie für die Betriebe keine Rolle spielen.
zu 2.
Bei den Zeitreihenanalysen, von einfachen gleitenden Durchschnitten, über univariate Filterverfahren zu multivariaten Filterverfahren und unabhängig vom jeweiligen Filter, wird letztlich die Wirtschaftsleistung der vergangenen Jahre als Schätzung für das Produktionspotenzial in der Gegenwart genommen. Dies wird dann mit der tatsächlichen Produktion verglichen, um die „Produktionslücke“ zu bestimmen.
Ist die Wirtschaftsleistung über mehrere Jahre rückläufig (was Produktionsfaktoren freisetzen und sie unterauslasten sollte) sinkt das gemessene Produktionspotenzial und damit steigt dann auch wieder der Auslastungsgrad, obwohl mehr Produktionsfaktoren brachliegen als zuvor. Steigt hingegen die Wirtschaftsleistung über mehrere Jahre, auch über stärkeren Einsatz der Produktionsfaktoren, wird in einer Wachstumspause eher eine Unterauslastung ausgewiesen, obwohl weniger Produktionsfaktoren brach liegen werden. Es wird in diesen Situationen also genau das Gegenteil dessen gemessen, was tatsächlich vorliegt.
zu 3. Produktionsfunktionen
Hier wird ein theoretischer Zusammenhang zwischen Inputs und Outputs unterstellt und modelliert. Mittels ökonometrischer Verfahren und Daten aus der Vergangenheit wird dann der funktionale Zusammenhang geschätzt. Für die Gegenwart werden dann die beobachtenden Werte für die zur Verfügung stehenden (oder eingesetzten) Produktionsfaktoren in die geschätzte Produktionsfunktion eingesetzt und mit der aktuellen Produktionsleistung verglichen. Die Differenz ist dann „Unter-„ und „Überauslastung“. Klingt erstmal gut.
Leider auch im Detail problematisch. Da am aktuellen Rand keine Beobachtungen (entsprechende Statistiken haben meist ordentliche Nachlaufzeiten) vorliegen, werden die Werte für die Inputs geschätzt mit … genau den unter 2. verwendeten Zeitreihenverfahren. Damit importiert man auch die Probleme. Der ganze intangible Bereich von Patenten über Organisationskapital bis zum sich gerne mal ändernden institutionellen Rahmen sind theoretisch essenzieller Bestandteil der Technologie der Produktionsfunktion, empirisch aber kaum zu fassen.
Zudem wird auch hier der funktionale Zusammenhang zwischen In- und Output mit den Daten der Vergangenheit bestimmt. Es wird also unterstellt, die Wirtschaft heute funktioniert so, wie vor 10 Jahren. Das heute Speicherchips oder Batterien genauso wichtig sind wie vor 10 Jahren, dass das Einsatzverhältnis von Arbeit und Kapital im Finanzsektor der gleiche ist, wie vor 10 Jahren usw.
Zusammenfassung:
Letztlich laufen alle drei Methoden darauf hinaus, dass das, was in der Vergangenheit war, einfach fortgeschrieben wird. Ein längerer Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität führt zu der paradoxen Situation, dass am aktuellen Rand das Produktionspotenzial niedriger ausfällt und bei einer Stabilisierung dann eine Normal- oder Überauslastung anzeigt, obwohl mehr volkswirtschaftliche Ressourcen brachliegen. Darüber hinaus kämpft jede Methode mit spezifischen Messfehlern
Zudem bilden sie weder dynamische Prozesse noch das warum einer „Über-„ oder „Unterauslastung ab“.
Inhaltliche Irrelevanz (oder zur Sinnhaftigkeit von „die Wirtschaft“):
Den drei Methoden, wie der gesamten Makroökonomik, ist wiederum gemein, dass sie in der betrachteten Untergliederung (Volkswirtschaft, Wirtschaftszweig) alles über einen Kamm scheren. Es wird nicht nach unterschiedlichen Bereichen (Wirtschaftsbereich, Region, Zeit, …) geschaut. Für das reale wirtschaftliche Geschehen folgt aus der Beobachtung das in einem bestimmten Aggregat, die Auslastung bei 80% liegt: nichts. Es ist eine irrelevante Information. Wenn die M+E-Unternehmen eine 66%-Auslastung haben, kann es eben sein, dass für keinen Betrieb dieser Wert zutrifft, sondern, das eine Hälfte zu 99% und die andere Hälfte zu 33% ausgelastet ist (oder jede andere beliebige und gerne auch stetige Verteilung vorliegt). Was haben die einen Richtig und die anderen falsch gemacht)? Oder wird nichts produziert, weil gerade die alten Produktionslinien gegen neue ausgetauscht werden? Was folgt daraus?
[…] Dass es selbst in der tiefsten Wirtschaftskrise noch Insolvenzverwalter gibt, die zusätzliche Bürokräfte anheuern? […] Klar gibt es bei mikroskopischer Betrachtung immer einzelne Sparten, die unabhängig von der gesamtwirtschaftlichen Lage, gerade Wachstum oder Schrumpfung erleben. Aber das mittelt sich nicht einfach zu einer stabilen Auslastung der Gesamtwirtschaft nahe am maximal möglichen Output.
Ähm, doch. In der großen Rezession von 2009 („Weißt Du noch, damals, als fast die Welt unterging?“ ) fielen laut Arbeitsmarktbericht der BA in fünf Wirtschaftsbereichen etwa 375.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse weg, während in ca. neun Wirtschaftsbereichen etwa 300.000 neue entstanden. Da haben sich mal eben 80% weg gemittelt. Zumal das Auf und Ab innerhalb der einzelnen Bereiche schon weg gemittelt ist.
Und warum sollte man einen stabilen Zeitpfad der Auslastung anstreben? Das schließt größere disruptive Innovationen genauso aus, wie größere institutionelle Reformen. Sollen wir auf neue, den Menschen Nutzen bringende Innovationen, oder eine angemessene CO2-Bepreisung verzichten, nur damit die Potenzialauslastung einen stabilen Pfad hat? Das ist eine normative Setzung, die ich offensichtlich nicht teile.
Weiter wird der Faktor Zeit in diesen ganzen Polit-Makro-Konzeptionen vernachlässigt. Tesla hat im Herbst 2019 die Errichtung einer Fabrik in Brandenburg angekündigt. Bisher ist noch kein einziger Produktionsprozess gestartet, geschweige denn ein Auto vom Band gelaufen. Auf- und Abbau von Produktionskapazitäten brauchen Zeit. Die Entscheidung überhaupt und dann wo zu investieren, brauchen auch Zeit. Die heutigen Makromaße bilden die Entscheidungen von vor drei oder mehr Jahren ab. Das gilt für viel Prozesse. Wenn ich dann heute auf Grund einer irreführenden Maßzahl Rahmenbedingungen ändere, machen diese die Entscheidungen aus der Vergangenheit gegebenenfalls zunichte, vernichte Investitionen und erzeugen dadurch die Schwankungen, die Du vermeiden willst.
Die mikroskopische Betrachtung, wie Du das nennst, ist die wirklich relevante, weil hier die Ursachen für Schwankungen liegen. Die real relevanten Entscheidungen werden eben von den einzelnen Akteuren getroffen und nicht von „der Wirtschaft“ oder „der Nachfrage“. Und jeder Entscheider, Du und ich, der Inhaber einer Pizzeria, der CEO eines Weltkonzerns, oder der Eigentümer einer Schreinerei, schaut auf die für ihn oder sie relevanten Informationen. Und das ist selten die Auslastung des volkswirtschaftlichen Produktionspotenzials.
Hinter dem Wert X einer makroökonomischen Maßzahl, stehen unzählige verschiedene ökonomische Realitäten der wirtschaftlichen Akteure. Wird aus der Maßzahl eine wirtschaftspolitische Maßnahme abgeleitet, passt sie so gut wie auf keine dieser Realitäten.