ich habe eine Anmerkung zum Kapitel „Mehr Macht wagen“:
Könnte man die Problematik der Blockaden durch den Bundesrat nicht auch einfach dadurch lösen, dass die Vertreter eines Landes nicht mehr alle gleich abstimmen müssen (bisher alle ja / nein / Enthaltung), sondern jeder Vertreter unabhängig stimmen kann. Das wäre doch ohnehin viel demokratischer, denn die Vertreter, welche zum Teil aus unterschiedlichen Parteien sind, können doch unterschiedliche Meinungen zu einem zustimmungspflichtigen Gesetz haben und sollten diese auch individuell bei der Abstimmung beisteuern können.
Wie du schon schreibst sitzen dort Vertreter des Landes, nicht Vertreter von Parteien. Es könnten eigentlich auch einfach die Ministerpräsidentys alleine hingehen und entsprechend viele Stimmen abgeben. Die Stimmenanzahl dient der Stimmgewichtung, nicht der inhaltlichen Pluralität. Das nach Parteien aufzudröseln würde aus dem Bundesrat letztendlich einen zweiten Bundestag machen (allerdings mit eingeschränkter Repräsentation, weil ja die Oppositionen nicht abgebildet werden).
Die entsprechende Podcast-Folge und das Kapitel in diesem Buch basieren auf nicht geprüfter Empirie: Es gibt seit vielen Wahlperioden keine Blockade von Gesetzentwürfen des Bundestages oder der Bundesregierung durch den Bundesrat. Sowohl BT als auch BR veröffentlichen detaillierte Statistiken des Ergebnisses der Gesetzesberatungen in beiden Kammern. Dem ist zu entnehmen, dass die Anzahl der nicht vom Bundesrat verabschiedeten Gesetze verschwindend gering ist - und zwar direkt oder in sehr geringen Fällen nach Beratungen im Vermittlungsausschuss. In der 16., 18. und 19. Wahlperiode bei 0,0%. Es gibt leider in der Politikwissenschaft eine Traditionin den 1980er Jahren von Fritz Scharpf und anderen geführte Blockadediskussion („Verflechtungsfalle“) einfach in eine Zeit nach der Jahrtausendwende fortzuschreiben, ohne die Zahlen und Fakten der Gesetzgebungsverfahren als empirische Grundlage zu überprüfen. Auch die Hilfstheorie, dass die Blockade aus der vorweggenommenen Selbstbeschränkung der Bundesregierung oder des Bundestages bestünde, kann ernsthafterweise nicht empirisch nachgewiesen werden. Hier ist jedes Gesetzgebungsverfahren unterschiedlich. Die Lage der Landesregierungen, die die Bundesratsitze besetzen, wird von Wahl zu Wahl diverser, papadoxerweise dabei das bundesfreundliche Abstimmungsverhalten immer stärker. Letztes Beispiel das Krankenhausreformgesetz von Lauterbach, auf das viele Beobachter keinen Pfifferling gegeben haben, das aber trotzdem im Bundesrat durchgewunken wurde. Siehe dazu auch meinen Artikel [Vom Bundesrat zum bunten Rat › Regierungsforschung] https://regierungsforschung.de/vom-bundesrat-zum-bunten-rat/) und die Zahlen hier.
Durch Zustimmungsversagung oder Einspruch des BR nicht verkündete Gesetze 1998 - 2021
Wahlperiode
14. WP 1998–2002
15. WP 2002–2005
16. WP 2005–2009
17. WP 2009–2013
18. WP 2013–2017
19. WP 2017–2021
Anzahl
10
5
0
4
2
1
in % der insgesamt verkündeten Gesetze
1,8 %
1,3 %
0,0 %
0,1 %
0,0 %
0,0%
Tab. 1: Durch Zustimmungsversagung oder Einspruch des BR nicht verkündete Gesetze 1998 - 2021
Eigene Darstellung auf Basis des Datenhandbuchs Deutscher Bundestag 2022. Kapitel 10.3, S.1, Bundestag und Bundesrat