Hallo Ulf und Philipp, ich höre mit großem Interesse fast jede Folge eures Podcasts und finde das immer wieder inspirierend mit welchen Ideen ihr um die Ecke kommt, die ich so noch aus keiner anderen Ecke gehört habe. Danke dafür.
Beim Thema Friedensdividende letzte Woche Do 20.02. seid ihr für mein Empfinden allerdings mit der Interpretation, dass dies nur ein Ausruhen auf der starken amerikanischen Verteidigung sei, zu kurz gesprungen. Die Friedensdividende war ein Ergebnis der Annäherung zwischen West und Ost. Diese hat zu Abrüstungsverträgen und einer Kooperation im Rahmen der KSZE/ OSZE geführt. Wenn beide Seiten nicht aufrüsten und sich ein ganzes Stück weit vertrauen, muss viel weniger Geld ausgegeben werden. Erst als sich der Ton zwischen den Blöcken wieder deutlich verschärfte, gab es im Grunde genommen keine Friedensdividende mehr und ab dann lässt sich sicherlich sagen, dass das Verharren bei niedrigen Rüstungsausgaben ein Ausruhen auf der Stärke und Unterstützung der USA war. Die wirklich gute Alternative wäre allerdings m.E. gewesen, sehr viel mehr wert auf die KSZE/OSZE-Prozesse zu legen und Kooperation einen höheren Wert beizumessen. Dann hätte es weiterhin eine ehrliche Friedensdividende geben können.
So ein Prozess braucht Mitspieler auf der anderen Seite. Die gab es spätestens seit ca. 15 Jahren nicht mehr. Und was die Abrüstung angeht: Die Westeuropäer haben abgerüstet, Russland hat seine Systeme an die Seite gestellt. Da hätte man schon ahnen können, wie glaubwürdig das war. Mit einem imperialen Staat in der Nachbarschaft kann man auf Dauer nicht in Frieden leben, man kann ihn nur abschrecken.
Sicherlich sind in der Zeit nach 1990 auf beiden Seiten Fehler passiert, inklusive der USA im Umgang mit Russland.
Mit Putin als Präsident in Russland hatten wir allerdings einen maßgeblichen Player im Prozess, der seinen Schwerpunkt nicht auf die gleichberechtigte Zusammenarbeit in Europa gelegt hat, sondern eher nationalistisch die Vision einer russischen Großmacht hat mit imperialistischen Zielen.
Die einseitige Kooperationsbereitschaft der Europäischen Union allein reicht da nicht aus.
Neben dem, was andere hier schon angemerkt haben, ist es m. E. auch wichtig zu berücksichtigen, dass es zum KSZE-Prozess und zu den Abrüstungsvereinbarungen nicht kam, weil der Westen gesagt hat „wir verhandeln lieber anstatt aufzurüsten“, sondern weil er parallel zu den Verhandlungen auf militärische Stärke gesetzt und dazu massiv aufgerüstet hat. Das wohl bekannteste Beispiel war der sogenannte NATO-Doppelbeschluss, den ein SPD- und ein CDU-Kanzler damals gegen massiven Widerstand aus der Zivilgesellschaft durchgesetzt haben. Die irrtümliche Entgegensetzung von Aufrüsten und Verhandeln ist also alles andere als neu, aber historisch fürchte ich haben Schmidt und Kohl Recht behalten.
Gorbatschow hat mal (sicherlich halb im Scherz) gesagt, dass Russland ja Mitglied der Nato werden könnte, wenn das Bündnis nur der Friedenssicherung dient und nicht (auch) gegen Russland gerichtet ist.
Ich stimme dir zu, dass es gegen einen imperialen Nachbarn Verteidigungsfähigkeit braucht. Die entscheidende Frage ist m.E.: Hätte sich Russland bei einem anderen Umgang mit diesem Land in den 90er Jahren ganz anders entwickelt und wäre gar nicht wieder zu einem autokratischen, imperialen Staat geworden, der es unter Putin erneut geworden ist.
Klar, das ist vergossene Milch. Aber für die Frage, ob es eine ehrlich Friedensdividende gibt, ist das ziemlich entscheidend. Und damit vielleicht auch für die Frage, auf was es denn nun auf (ziemlich) lange Sicht hinauslaufen soll: Aufrüstung und Abschreckung oder Kooperation und Friedensdividende.
Es gibt da sicherlich auch kein klares Entweder-Oder in der Frage Aufrüstung oder Verhandeln/Kooperieren. Aber je weiter sich der Regler in Richtung Kooperation schieben lässt, desto größer fällt die Friedensdividende aus.
Ich kann verstehen, dass das manche in den 90ern so gesehen haben. Aber schon Anfang der 90er beim Blutsonntag von Vilnius hatte sich gezeigt, dass Russland von Anfang an nicht bereit war, den imperialen Raum Osteuropa aufzugeben und die Staaten der Region als gleichberechtigte Akteure auf Augenhöhe zu behandeln. Vor 30 Jahren: Der "Blutsonntag von Vilnius" - Als Gorbatschow nach Litauen griff
Ganz ähnlich, wie man es in Vilnius versucht hatte, ging man wenige Jahre später auch mit Tschetschenien um. Erster Tschetschenienkrieg – Wikipedia
An irgendeinen wirklich glaubwürdigen Versuch, nicht mit der NATO oder Berlin oder Washington über die Köpfe der Osteuropäer hinweg zu verhandeln, sondern aufrichtig, kooperativ und mit der gebotenen Demut auf die direkten Nachbarstaaten in Osteuropa zuzugehen, kann ich mich zumindest nicht erinnern (ich kann mich da aber natürlich täuschen, das ist nicht mein Spezialgebiet).
Man kann das natürlich in keine Richtung beweisen, aber diese drei Beispiele weisen mMn klar in die Richtung eines kurzzeitig geschwächten Imperiums, in dem es relativ früh revisionistische Tendenzen gab, die nicht nur intelektuell erörtert, sondern mit massivster Gewalt vorangetrieben wurden, wo man die Kraft dazu hatte. Das macht auch deutlich, dass nicht die USA oder der Westen die Osteuropäer irgendwie überreden mussten, in die NATO zu wollen, sondern dass Russland sie dahin getrieben hat.
Noch eine Ergänzung dazu: Wie ist denn der Westen mit Russland umgegangen? Grade Deutschland war doch im Grunde bis 2022 voll auf Kooperation und Wandel durch Handel-Kurs. Es gab massive Wirtschaftshilfen, Investitionsabkommen, Kredite, beidseitig lukrative Rohstoffdeals etc. Nur wollte Russlands Führung immer neben den erheblichen Einnahmen, die sie lieber behielt als für das Wohlergehen ihres Landes einzusetzen, einen „Platz an der Sonne“ auf Augenhöhe mit den USA etc. Mit anderen Worten die Anerkennung der „imperialen Größe“ Russlands. Dass die USA nicht bereit waren, diesen russischen Wahnvorstellungen ohne demographische, ökonomische Basis zu entsprechen, fand man in Moskau vielleicht ärgerlich, aber ist es wirklich ein Fehler Washingtons, wenn man völlig zutreffend von einer Regionalmacht sprach? Wenn man kein Imperium sein wollte, wäre man über solche gefühlten Demütigungen nicht so empört gewesen.
Naja das stimmt so nicht. Die Abrüstungsverträge gingen in der Regel mit gegenseitiger Kontrolle einher. Hätte sich Russland daran nicht gehalten, wäre das den USA ziemlich sicher aufgefallen.
Die Abrüstungsverträge sind auch nicht seit 15 Jahren alle Geschichte.
Aus New Start ist Russland offiziell erst 2023 ausgetreten, wobei der Vertrag wahrscheinlich schon seit Trump-1 de facto tot war. Der INF-Vertrag galt immerhin bis 2019. Was stimmt, ist, dass der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa von Russland bereits seit langem gebrochen wird und seit 2023 offiziell aufgekündigt wurde.
Das ist sicher so, klappt aber wie gesagt nur wenn beide Seiten Frieden auf Augenhöhe wollen.
Unter Putin sehe ich diesen Willen nicht, auch nicht mit Brille oder Teleskop.
Ob es nach Putin wieder eine Annäherung an Russland gibt oder ob noch radikalere und unversöhnlichere Kräfte ans Ruder kommen? Wir wissen es nicht.
Aber Kooperation und ein „Miteinander“ hängt maßgeblich von den handelnden Personen ab.
Das kann man wohl nicht ignorieren.
Ich denke, dein Einwand geht ins Leere: Schon Mitte der 0er Jahre kündigte Russland an, der INF-Vertrag entspreche nicht mehr seinen Interessen, spätestens mit dem Test der entsprechenden Iskander-Raketen war der Vertrag defacto hinfällig.
START I und II bezogen sich vor allem auf die strategischen Arsenale, die Russland und die USA gegeneinander richteten, die waren für die russische Bedrohung von nicht-Nato-Staaten also im Grunde egal.
Und aus dem entscheidenden Vertrag über die konventionellen Waffen war Russland da schon längst raus.
Zusammenfassend: Mag schon sein, dass pro forma noch Verträge bestanden, die waren für die Sicherheitslage in Europa allerdings nur bedingt relevant und schon 2010 war deutlich, dass in Moskau keine Partner mehr saßen, die gedachten, sich in der Breite an die vereinbarten Regeln zu halten (nicht nur gegenüber den USA, die das Ihrige zur bröckelnden Bindekraft dieser Verträge beitrungen). Und das war ja mein Argument: Russland hat seine konventionellen Waffen in viel, viel geringerem Maßen wirklich abgerüstet, als die Europäer und spätestens ab 2010, eigentlich aber schon früher auch auf verschiedenen Ebenen jedem Versuch eine europäische Friedensordnung mit gleichberechtigten Mitgliedern zu akzeptieren mehr oder weniger deutliche Absagen erteilt.
Ergänzung: was auch hier deutlich wird: Verträge unter Weltmächten hat Russland eher geschlossennund eingehalten, als mit den Europäern, gegenüber seinen direkten Nachbarn gab es vom Fall der Mauer an keinerlei ernsthafte diplomatische Bemühungen um eine kooperative, glaubwürdige Friedensordnung.
Ich erlaube mir mal wieder darauf hinzuweisen, dass es schon diverse Threads gibt, in denen diese und sehr ähnliche Fragen diskutiert wurden, unter anderem diesen hier:
Ich weiß, du hast es vermutlich nicht so gemeint, wie es da steht, aber entscheidender für die Frage, was sich zukünftig entwickeln kann oder meinetwegen auch sollte ist doch wohl eher die Frage, was gewesen ist und wie es dazu kam und nicht die Frage, wie es hätte sein können, wenn es anders gekommen wäre.
Sprich: Wenn es irgendwann eine Möglichkeit für eine europäische Sicherheitsarchitektur auf der Basis gegenseitigen Vertrauens gibt, die auch Russland mit einschließt, sollte das natürlich das politische Ziel sein. Als Fernziel würde das doch kaum jemand ablehnen oder? Die Frage ist doch nur, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen.
Genau. Erst einmal muss Sicherheit vor / gegen Russland gewährleistet werden und da sind wir leider weit von weg.
In einer fernen Zukunft (ich tippe mal auf Jahrzehnte), wenn vermutlich durch “austesten” Russlands (konventionell, cyber etc…) mehrfach herausgekommen ist, dass mit Europa nicht zu Scherzen ist, mag sich eine Sicherheit mit Russland ermöglichen lassen. Aber Voraussetzung dafür ist wirklich erstmal sich gegen Russland. behaupten zu können. Militärisch, was internationale Beziehungen und Märkte angeht etc. (Russlands Aktivitäten in Afrika etc.).
Ich danke allen, die hier was beigetragen haben, auf jeden Fall jetzt schon mal für Hinweise auf den einen oder anderen Fakt, den ich nicht auf dem Schirm hatte.
Vielleicht habe ich mehr Potential für ein postimperialistisches Russland in den 90ern gesehen als realistisch da war. Die Erklärung von Bush (Jan 1992), dass die USA die Sieger des kalten Krieges seien, hat aber natürlich auch nicht geholfen für den Aufbau einer vertrauensvollen und konstruktiven Zusammenarbeit.
Was mir letztlich wichtig ist und damit wir nicht Diskussionen aus anderen Threads wiederholen: Es kann eine ehrliche Friedensdividende geben und es wäre sehr gut danach zu streben, dass diese für alle ausgezahlt wird. Some may say I’m a dreamer, aber wir sollten das Streben nach der Friedensdividende immer im Auge behalten und dafür ist es nicht gut sie als Trittbrettfahrerei zu dikreditieren.