LdN357 60 Milliardenloch nach Urteil

Und genau das halten mehrere Verfassungsrechtler für nicht Rechtens.
Die Argumentation ist: „Man kann nicht erst behaupten und beschließen, dass man keine Aussetzung der Schuldenbremse benötigt. Dieses im Wissen, dass sowohl der Bundesrechnungshof, mehrere Institute und der wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, den anderen Weg (Sondervermögen umbuchen) für Verfassungswidrig angesehen haben und die Regierung darauf schriftlich hinwiesen. Nun 1 1/2 Jahre später zu erklären, dass man doch wohl eine Notlage hatte, um die Schuldenbremse nachträglich auszusetzen. Denn was hat sich seit den 1 1/2 Jahren geändert? Das Verfassungsgerichtsurteil ist gekommen. Wäre es nicht gekommen, würde dann jetzt nachträglich eine Notlage für 2023 erklärt? Wahrscheinlich nicht. Also ist der Kausale Zusammenhang nicht der Krieg und die Energiekrise, sondern das Urteil.
Dieses darf jedoch nicht als Begründung herangezogen werden, da es selbst verschuldet ist von der Regierung.“

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Das Urteil klärt aber lediglich eine strittige Frage, nämlich die Verfassungskompatibilität des eingeschlagenen Wegs zum Umgang mit der Notlage. Es hat nichts damit zu tun, ob eine Notlage evident ist oder nicht. Das Urteil bestätigt die schriftlichen Hinweise der von dir genannten Organe letztinstanzlich, also muss die Regierung jetzt ihren Pfad korrigieren und die Notlage als solche anerkennen.

Ich sehe nicht, wo das problematisch sein soll. Es wäre höchstens zweifelhaft, wenn man jetzt aus der Tatsache, dass der eingeschlagene Weg für illegal erklärt wurde, eine gänzlich neue Notlage konstruieren würde. Dann wäre der kausale Zusammenhang zwischen dieser neuen Notlage und dem Urteil des BVerfG tatsächlich gegeben, so wie du sagst. Aber nochmal: das ist nicht, worauf ich in unserer Diskussion jetzt gerade hinaus will.

Der kausale Zusammenhang zwischen dem Urteil und des Bestehens der wirtschaftlichen Notlage, die schon seit über einem Jahr evident ist, besteht nicht. Diese Notlage existiert kausal wegen des Ukraine-Kriegs. Das Deklarieren der Notlage hätte ohne das Urteil nicht stattgefunden, ja, aber doch nicht, weil dann die energiewirtschaftliche Notlage nicht bestanden hätte! Denn die Notwendigkeit zur Deklaration der Notlage ist eben gerade nicht „die Notlage“, um die es geht.

Wenn’s bei mir auf dem Hof wegen eines Blitzeinschlags brennt, und ich versuche entgegen dem Rat meiner Kumpels erst mal 12h lang, das Feuer eigenständig zu löschen, stelle dann fest, dass ich es zwar an der Ausbreitung hindern, aber nicht tatsächlich löschen kann, dann kann ich nach wie vor die Feuerwehr wegen eines Notfalls rufen. Die wird dann nicht sagen „ja nee, das brennt jetzt schon so lange, das Feuer ist kein Notfall, da sind wir nicht für zuständig, und außerdem sind sie ja kausal nun selbst dafür verantwortlich geworden, weil sie versucht haben, es aus eigener Kraft zu löschen, und nicht gleich den Notruf gewählt haben“.

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Ich sehe das auch so, aber keine Ahnung, das Gericht könnte das anders auslegen. Und die CDU wird es wahrscheinlich herausfinden wollen… wir werden also sehen, denke ich.

Die Regierung hat jedoch mit dem „illegalen Weg“ dokumentieren wollen und hat es im Prinzip auch, dass keine Notlage bestand. Sonst hätte die Regierung ja die Notlage sofort ausrufen müssen (Jährigkeit).
Ich bin mal gespannt, ob und wenn ja, wie das Verfassungsgericht dazu urteilen wird.

Also ich fasse mal zusammen:

Das Bundesverfassungsgericht sagt: so nicht, müsst ihr besser Begründen

Du und deine Experten sagen jetzt: bessere Begründung ist automatisch verfassungwidrig weil zu spät.

Was ist dann jetzt die Lösung: alle ausgezahlten Hilfen zurückfordern?

Die Folgen sind dann zwar bestimmt Verfassungsgemäß, aber ich glaube das ist dann für die Verfassung egal…

Ein akuter Effekt, der uns gestern erteichte: Die Haushaltssperre betrifft auch den Einzelplan 11 darunter Leistungen der Arbeitsförderungen nach SGB III.

Im Klartext: Es werden keine Bildungsgutscheine mehr ausgestellt bis auf weiteres. Also Menschen, die grad eine Umschulung zur Fachkraft machen wollen, gegen erstmal leer aus.
Bildungsträger die auf primär Bildungsgutscheine setzen, müssen den Gürtel erstmal planerisch enger schnallen. Oder, wenn der Zustand länger dauert, Personal entlassen oder schliessen.

Der Jährigkeit ist doch Genüge getan, wenn in 2023 die Notlage für 2023 ausgerufen wird - wie jetzt geplant. Dadurch wirkt die Befreiung von der Schuldenbremse auf genau das Haushaltsjahr, in dem die Notlage deklariert wurde.

Und dann schreit man wieder Fachkräftemangel …

Deutschland spart sich kaputt.

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Oh Gott, wirklich absurd. Dabei wäre das doch das wortwörtliche „Gürtel enger Schnallen“. :smiley:

Stimmt schon, aber wie gesehen ist die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form nicht effektiver darin, konsumptive Ausgaben angemessen zu steuern und Staatsausgaben zu begrenzen, wenn man das möchte. Stattdessen führt sie zu intransparenten Nebenhaushalten.
Gäbe es eine Investitionsregel, müsste man politisch-sachliche Fragen auch politisch diskutieren - ist A eine sinnvolle Investition, die das BIP mittelfristig erhöht und damit den Staatshaushalt entlastet oder einfach die Wohlfahrt erhöht (die Wahl des Maßstabs ist wichtig!) oder ist A keine sinnvolle Investition? - und man könnte sich vor der Diskussion auf dieser Ebene nicht mehr mit dem formalen Verweis auf Spargebote entziehen.

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Stimme Euch da zu. Bei einem ungleichen ungleichen Verhältnis von eingezahlten Beiträgen und ausgezahlten Renten (und bitte immer auch Pensionen beachten!) wird’s dann rechtlich (Rentenansprüche sind Eigentum im Sinne des Grundgesetzes, Pensionen stark durch Versorgungspflicht) etwas schwierig, das muss man gut machen. Aber auch hier gilt,e twas abgewandelt: Das ist Euer verdammter Job. Stellt halt gute Jurist:innen und Ökonom:innen ein und sucht nach ehrlichen Lösungen.

Wo sagt denn das Verfassungsgericht „ihr müsst besser Begründen?“

Zitiere aus der Pressemitteilung des Gerichts (kursiv von mir):

Der Senat stützt seine Entscheidung auf drei, jeweils für sich tragfähige Gründe: Erstens hat der Gesetzgeber den notwendigen Veranlassungszusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und den ergriffenen Krisenbewältigungsmaßnahmen nicht ausreichend dargelegt. Zweitens widerspricht die zeitliche Entkoppelung der Feststellung einer Notlage gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vom tatsächlichen Einsatz der Kreditermächtigungen den Verfassungsgeboten der Jährlichkeit und Jährigkeit. Die faktisch unbegrenzte Weiternutzung von notlagenbedingten Kreditermächtigungen in nachfolgenden Haushaltsjahren ohne Anrechnung auf die „Schuldenbremse“ bei gleichzeitiger Anrechnung als „Schulden“ im Haushaltsjahr 2021 ist demzufolge unzulässig. Drittens verstößt die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 gegen den Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit aus Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG.

Daran habe ich übrigens begründete Zweifel. CDU-geführte Bundesländer (Schleswig-Holstein z.B., NRW prüft wohl und zieht womöglich nach) wählen gerade auch den Weg der nachträglichen Ausrufung der Notlage, um ihre Haushalte verfassungskonform zu bekommen.

Und wenn eines sicher ist, dann, dass die eine CDU-Krähe der anderen kein Auge aushackt.

Schleswig-Holstein tut der Bundesregierung sogar den Gefallen und schafft gleich mutig den Präzedenzfall, auch für 2024 die Notlage festzustellen:

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Persönlich könnte ich mir schon vorstellen, dass der Staat insgesamt eine Menge Geld ausgibt, welches eingespart werden könnte. Das heißt aber nicht unbedingt, dass die Regierung praktisch in der Lage ist, diese Einsparungsmöglichkeiten zu finden. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die möglichen Einsparungen auf sehr viele eher kleine Posten verteilen, die man von der Spitze nicht überschauen kann. Man muss bedenken, wie groß der Staatsapparat ist. Aktuell gibt es wohl 965 Behörden und Institutionen des Bundes und es arbeiten 5 Millionen Menschen im öffentlichen Dienst. 20 Milliarden wären am Ende „nur“ 4000 € pro Mitarbeiter oder ca. 20 Millionen pro Institution/Behörde. Wie soll man die Ausgaben über so viele Abteilungen priorisieren?

Ich denke, es könnte langfristig sinnvoll sein, sich darüber Gedanken zu machen, wie man die einzelnen Abteilungen motiviert, eigenständig Geld zu sparen. Aber das ist nur meine Einschätzung und das hilft auch nicht wirklich mit der Priorisierung zwischen den Institutionen.

Ich finde es ja wirklich bemerkenswert, wie in der Debatte über die Schuldenbremse nicht in einer Silbe die Zinslast von mittlerweile fast 40 Milliarden Euro pro Jahr, allein im Bundeshaushalt, erwähnt wird. Es wird so getan, als seien Staatsschulden völlig unproblematisch. Tatsache ist doch, mit 39 Mrd. Staatsschulden und 127 Mrd Zuschuss in die staatliche Rentenversicherung haben Generationen von Deutschen und ihre Vertreterinnen und Vertreter im Parlament bereits mehr als ein Drittel des Bundeshaushalts der aktuellen Generation an Handlungsspielräumen genommen und wenn weiter fleißig Schulden gemacht werden, und wir weiterhin keine Rentenzuschussbremse bekommen, dann werden die Handlungsspielräume der zukünftigen Generationen kleiner und kleiner.

Beschwert euch nicht bei Christian Lindner, dass kein Geld für die Transformation zu grüner Industrie da ist. Das Geld, das heute im Haushalt fehlt, wurde schon vor Jahren verplant und ausgegeben. Gut, dass die Aktienrente irgendwann kommen soll. Lustig nur, dass oft die gleichen Leute sowohl gegen die Aktienrente, als auch desswegen gegen die Schuldenbremse sind, weil deren Lieblingsprojekte sonst nicht mehr in den Bundeshaushalt passen.

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Das musst du unsere Gastgeber fragen, die haben das so in der Folge gesagt.

Aber interessant, dass du nur die Frage stellst und mit keinem Wort darauf eingehst, wie aus deiner Sicht jetzt mit dem Urteil und dem WSV umgegangen werden sollte.

Eine neue konforme Begründung hältst du ja wegen zu spät für verfassungswidrig, nur welche Lösung siehst du dann?

Wie soll mit den bereits abgeflossenen Geldern umgegangen werden?

Ja, das habe ich schon ausgeblendet. Das bezieht sich auf die Tatsache, dass nicht ausreichend dargelegt wurde, warum die Corona-Krise (Wirtschaft) noch fortbesteht.
Hat aber nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun.

Das ist in der Tat eine sehr interessante Frage, die ich nicht beantworten kann und wie es aussieht auch die Gesamten in Bundestag vertretenen Parteien nicht.

„Bei den 40 Milliarden Euro handelt es sich nicht um frische Kreditermächtigungen. Tatsächlich sind die Hilfen zum größten Teil schon im Verlauf des Jahres aus den Sondervermögen abgeflossen. Beim WSF sollen dies nach „Spiegel“-Informationen allein 37 Milliarden Euro gewesen sein. Nach dem Verfassungsgerichtsurteil von vergangener Woche, das den Sondervermögen die rechtliche Grundlage entzog, ist Lindner nun gezwungen, die erfolgten Zahlungen gleichsam im Nachhinein durch einen Nachtragshaushalt zu legalisieren. (dts Nachrichtenagentur)

Jetzt ist erstmal die Haushaltssperre eingesetzt. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie viel das spart für den Haushalt 2023.
Ich weiß auch nicht, wie eine verfassungsrechtliche Maßnahme aussehen soll, wenn das „Kind schon in den Brunnen gefallen ist“.
Realitisch kann ich mir vorstellen, dass, wenn der Notstand für 2023 nicht verfassungskonform ist, das Gericht die Summe der schon abgeflossenen Gelder im Haushalt 2024 eingerechnet haben will, was dann noch höhere Einsparungen in 2024 bedeuten würde.

Und nicht zu vergessen die Investitionsschulden, die ab einen bestimmten Zeitpunkt zwingend abgebaut werden müssen, da sonst einfach gar nichts mehr funktioniert.

Auch wenn der Vergleich etwas hinkt und ich kein Fan von dem Spiel bin:
Monopoly gewinnt man auch nicht, indem man nur spart und keine Häuser baut.

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