Bei der aktuellen „Ost-Debatte“ ist m. E. bezeichnend, dass es einerseits Intellektuelle mit DDR-Sozialisation gibt, die sinngemäß sagen „schon wieder die alte Leier, das haben wir doch schon zigmal diskutiert“ und es andererseits Millionen Menschen (hauptsächlich mit West-Sozialisation) geben dürfte, die von diesen Debatten noch nie gehört haben oder sie allein auf Klischees wie „im Osten sind alle Nazis“ reduzieren. Zudem geht es ja nicht nur um eine Aufarbeitung im Sinne eines einmaligen Vorgangs, den man am besten noch an eine Enquete-Kommission oder einen Untersuchungsausschuss delegiert, sondern um eine kritische Selbstbefragung - und zwar sowohl im Westen als im Osten. Denn dass eine überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger:innen 1990 einen schnellen Beitritt und eine Übernahme des westdeutschen Modells wollte und entsprechende Warnungen (etwa der West-SPD oder der DDR-Bürgerrechtsbewegung u.a. vor einem Zusammenbruch von Wirtschaft und Gesellschaftsordnung in der Ex-DDR) in den Wind schlug, gehört m. E. mit zum Problem.
Es ist m. E. auch ein Trugschluss, dass Aufarbeitung - oder besser formuliert eine gesellschaftliche Auseinandersetzung - nur denjenigen dient, die ein Problem sehen. Das Gegenteil ist der Fall: Es dient dem gegenseitigen Respekt und der Anerkennung anderer Einstellungen und Lebensweisen, also dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn sich auch jene mit einem Thema beschäftigen, aus deren subjektiven Sicht es eigentlich gar kein Problem gibt - egal ob es um Transformationserfahrungen im Osten, Coronamaßnahmen oder institutionellen Rassismus etwa bei Polizei und Behörden geht.