Lieber Philipp und Ulf,
danke für euren Beitrag zu Lützerath. Ich selbst war in Lützerath bei der Großdemo am 14.01. und würde mich als einen der von euch beschriebenen Klimaaktivist:innen sehen.
Ich möchte euch an einer Stelle widersprechen bzw zu bedenken geben:
Der Emissionshandel beruht auf einem idealtypischen, theoretischen Modell. Es funktioniert in der Theorie perfekt. In der Realität würde ich daran (und dazu gibt es viel Literatur) sehr große Zweifel anmelden.
Euer bzw. das Fazit von Herrn Mathes kann ich so nicht stehen lassen, dass es KEINEN Unterschied macht, ob die Kohle unter Lützerath verfeuert wird oder nicht. Ich verstehe natürlich die Modell-Logik (Stichwort Wassermatratze).
Aber seid ihr euch bewusst, dass ihr euch dabei immer sehr darauf verlasst, dass das theoretische Modell in der Realität zutreffen wird?
Das ist massiv anzuzweifeln. Positiv gewendet, und wie von euch besprochen, hätten auch unter der Modell-Logik mit der Marktstabilitätreserve (Kemferts Argument) Emissionen gespart werden können.
Aber noch viel schlimmer, und das ist sind die massiven Zweifel negativ gewendet und wo ihr dem Modell einfach blind vertraut: Was ist, wenn die Zertifikate weg sind, aber der Energiesektor und die Industrie nicht transformiert? Machen die Betriebe dann zu? Lassen wir das als Gesellschaft zu, dass die Betriebe einfach zumachen? Um Gottes Willen, natürlich nicht! Das ist naiv und das ignoriert völlig die vorliegenden Machtverhältnisse. Natürlich werden, sobald ernsthaft die Zertifikate ausgehen, plötzlich neue geschaffen, denn wir müssen ja wettbewerbsfähig bleiben etc.
Und seid euch bewusst: Das einzige, was das Modell garantiert, ist, dass die ursprünglich ausgegebenen Zertifikate irgendwann weg sind. Es garantiert nicht, dass neue nicht ausgegeben werden und es garantiert mitnichten, dass sich die Industrie und der Energiesektor wie von alleine, automatisch transformieren. Das ist ökonomisches Vodoo. Das bedeutet: das theoretische Modell lässt eben völlig zu, dass die Zertifikate irgendwann weg sind, aber keine transformierte Wirtschaft da ist. Diese Option wird immer völlig außen vor gelassen, wenn vom Emissionshandel gesprochen wird. Dessen muss man sich doch einfach mal bewusst sein.
Gleichwohl habe ich auch zur Kenntnis genommen, dass ihr natürlich absolut für massive Staatsinterventionen seid und es nicht nur dem Markt mit einem Nachtwächter Staat überlassen wollt. Ebenfalls stimmt es ja schon, dass offenbar die bestehenden Regelungen (Emissionshandel) zu einer Verteuerung der fossilen Industrie führen. Das erfreut mich. Dennoch seid ihr mir zu wenig radikal, zu wenig kritisch.
Auch die Modellberechnungen, dass Ende 2039 die letzte fossile Energie verbrannt wird - eben eine Modellberechnung. Mit vielerlei Annahmen… Dass sich die Preise entwickeln, wie angenommen etc.
Es hat mich natürlich irgendwie auch positiv gestimmt, dass es den Anschein hat, dass gerade vieles in die richtige Richtung geht bspw. eure Anmerkungen zur Stahlindustrie.
Aber selbst wenn das alles so kommt: es ist immer noch zu spät! Es ist immer noch erst 2039. Wir müssen aber bis 2030 emissionsfrei sein.
Noch zwei weitere begriffliche Anmerkungen.
- klimaneutral: Der Begriff unterliegt eben wieder der zweifelhaften Logik des Emissionshandels. Ist der Emissionshandel sogar noch gespickt mit Offsets (also Gutschriften durch angebliche Einsparungen in Drittländern), wird es komplett zum Greenwashing. Lasst euch davon bitte nicht vereinnahmen.
- Vernachlässigbarkeit: Es ist gerichtlich (sicher kennt ihr das Urteil, ich weiß gerade nicht auswendig welches) geklärt, dass es im Zusammenhang mit CO2 Emissionen nicht mehr zulässig ist, das Argument der Vernachlässigbarkeit zu verwenden. Das riesige Problem entsteht eben (auch) durch jede noch so kleinste Emission, daher kann keine Emission vernachlässigbar sein.
Als allerletzter Punkt: Der Deal von RWE mit den Grünen. Warum sagt denn niemand, dass am Ende die Politik die Regeln macht? Ja, aktuell gehört Lützerath RWE und wegen des Eigentumsrechts kann es damit offenbar machen, was es will. Aber dazu ist es offenbar auch auf die Unterstützung des Staates (in Form von Schutz bzw. Räumung durch die Polizei) angewiesen. Man könnte ja als Landesinnenministerin die Polizei einfach anweisen, das nicht zu tun. Dann würde RWE vielleicht klagen, aber dann wollen wir doch den Spieß mal umdrehen und RWE klagen lassen. Mal schauen, wie weit sie kommen und wen genau sie eigentlich verklagen. Mit Leichtigkeit würden „wir“ -also die Politik-solche Prozesse gewinnen, weil man sich einfach auf das Gemeinwohl berufen könnte. Sorry, dass es hintenraus jetzt doch etwas polemisch wurde, aber wer sich auf den „Deal“ und die gültige Rechtssprechung zurückzieht, hat in meinen Augen ein etwas verschobenes Politikverständnis.
Ich hoffe sehr, dass ihr das lest und würde mich über eine Antwort oder gar die Aufnahme in die Sendung riesig freuen!