Ihr habt in der Lage immer wieder, zuletzt auch aktuell in der 259, die Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform mit vielen wichtigen Unterpunkten dargestellt. Vielen Dank!
Ein in letzter Zeit wenig diskutiertes Unterthema ist die Ungerechtigkeit, die dadurch entsteht, wie der Wählerwille bei der Erst-Stimme durch das „winner takes it all“-Prinzip eines einstufigen Direktwahlgangs abgebildet wird oder eben nicht. Beispiel in der aktuellen BTW im Wahlkreis 79 Berlin-Steglitz-Zehlendorf: Dort gewann der CDU-Kandidat mit 28,0 Prozent der Stimmen vor dem SPD-Kandidaten mit 24,9% (vgl. Ergebnisse). Das progressive R2G-Lager hatte aber dort zusammen mehr als 51% der Erststimmen. Würde das Wahlsystem den Erststimmen-Wählerinnen von Grünen und Linken eine Chance geben, dass ihre Stimmen nicht ungehört verfallen, sähe das Ergebnis wahrscheinlich anders aus. Bei Oberbürgermeister-Wahlen sind wir Stichwahlen der beiden bestplatzierten Kandidatinnen 14 Tage später seit Jahrzehnten gewohnt. Alternativ gibt es auch (zugegebenermaßen etwas kompliziertere) Präferenzwahlsysteme (historisch wertvoller Hörtipp hierzu: CRE128 Wahlrecht und Wahlsysteme | CRE: Technik, Kultur, Gesellschaft), die es in einem einstufigen Wahlgang am selben Tag ermöglichen, dass man z.B. auswählt: „An Position 1 wähle ich die grüne Kandidatin, aber wenn die nicht unter den ersten Beiden dieser Präferenzwahl in erster Stufe ist, dann wähle ich den SPD-Kandidaten“. Man müsste Wählende gar nicht mal zwingen, in einer zweiten Spalte ein solches zusätzliches Kreuz für eine Auswertung zweiter Stufe zu machen, es aber im Wahlrecht bei Erststimmen anzubieten, würde den Wählerwillen in meiner Wahrnehmung nach viel besser abbilden.
Wenn wir über die Antiquiertheit des US-amerikanischen Wahlpersonen-Gremiums lästern, sollten wir uns bewusst sein, dass unser Wahlrecht auch historische Merkwürdigkeiten wie diese Regelungen beinhaltet, die zu systematischen Ungerechtigkeiten führt. Ich würde mich freuen, wenn aktuelle Wahlrechtsreform-Diskussionen auch dieses Thema aufgreifen. Und na klar: Man wird dann auch über die Frage diskutieren müssen, ob man den Wählenden ein solches komplexeres Präferenzwahlsystem zumuten kann und möchte.