Reform-Idee: Direktmandate nur im Rahmen der nach Zweitstimmen verfügbaren Mandate vergeben?

Liebes Forum, mir schwebt seit ein paar Tagen eine Idee durch den Kopf, wie sich das Problem mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten eventuell recht elegant lösen ließe. Aber ehe ich das jetzt in der Lage breittrete, würde mich eure Sicht interessieren, ob die damit einhergehenden Folgefragen die Idee möglicherweise doch wenig überzeugend erscheinen lassen.

Die Idee knüpft daran an, dass wir ja eine personalisierte Verhältniswahl haben: Die Mehrheitsverhältnisse sollen eigentlich allein durch die Zweitstimme bestimmt werden. Die Erststimme soll die so bestimmten Mehrheiten eigentlich nicht verschieben, sondern nur ein wenig „personalisieren“, wer konkret ins Parlament einzieht.

Überhangmandate und Ausgleichsmandate entstehen bekanntlich dadurch, dass eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Mandate zustehen. Wie wäre es nun, wenn Direktmandate nicht automatisch an alle vergeben würden, die im Wahlkreis die meisten Stimmen errungen haben? Man könnte einfach nur maximal so viele Direktmandate nach Erststimmen vergeben, wie der Partei nach Zweitstimmen überhaupt Mandate zustehen. In Wahlkreisen, in denen die Mandate schon „aufgebraucht“ sind, käme dann die nach Erststimmen zweitplazierte Person zum Zuge.

Beispiel: Stellen wir uns vor, der Union stehen in einem Land nach Zweitstimmen 30 Mandate zu, sie gewinnt aber die meisten Erststimmen in 32 Wahlkreisen. Heute würden alle 32 einziehen, die anderen Parteien bekämen Ausgleichsmandate, der Bundestag wird aufgebläht. Nach meiner Idee bekäme die Union hingegen nur 30 Direktmandate. In den zwei weiteren Wahlkreisen, in denen der Unions-Mensch ebenfalls vorne liegt, wäre die zweitplazierte Person direkt gewählt und wurde einziehen, soweit ihrer Partei nach Zweitstimmen genug Mandate zustehen usw.

Das wirft natürlich Folgefragen auf:

  1. Wie entscheidet man in einem solchen Mangelfall, welche 30 der 32 Erststimmensieger:innen einziehen dürfen? Klar, da braucht es ein eindeutiges Kriterium, welches die 30 „besten“ Wahlkreisgewinner:innen sind. Mir fallen vor allem zwei gute Kriterien ein: die Reihenfolge der Erststimmenergebnisse in Prozent oder die Reihenfolge des Abstands zur zweitplazierten Person in Prozentpunkten.

  2. Was ist mit Direktmandaten von Menschen, die keiner Partei angehören, die überhaupt Mandate nach der Zahl ihrer Zweitstimmen bekommt? Ich denke, wenn eine solche Person gewinnt, müsste sie wie bisher einziehen können. Ich würde die Begrenzung der Direktmandate auf die Zahl der nach Zweitstimmen errungenen Mandate nur bei solchen Parteien eingreifen lassen, die die 5%-Hürde übersprungen haben. So wäre sichergestellt, dass neue politische Kräfte eine Chance haben, wenigstens mit Einzelbewerbern ins Parlament zu kommen. Dann könnte man auch die Grundmandatsklausel so lassen wie sie heute ist: Schaffen es drei Direktkandidierende einer Partei, dann gilt die 5%-Hürde für ihre Partei nicht mehr (vgl. § 6 Bundeswahlgesetz) und die Partei bekommt Mandate nach der Zahl ihrer Zweitstimmen.

Mich würde interessieren, was ihr von der Idee haltet. Ich denke, so ließe sich zumindest das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate lösen. Aber kauft man sich damit neue Probleme ein?

Vor allem: Gibt es bei der Methode evtl. Konstellationen, die das BVerfG ausdrücklich verboten hat, beispielsweise ein negatives Stimmgewicht? In einer früheren Fassung des Bundeswahlgesetzes konnte eine Partei mal schlechter dastehen, wenn sie mehr Stimmen bekam. Stimmen für eine Partei schadeten also ihrem Wahlergebnis! Das war (natürlich) verfassungswidrig. Könnte ein solcher Effekt bei meiner Idee eintreten?’

Ich freue mich auf eure Einschätzung.

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Ein Beitrag wurde in ein neues Thema verschoben: Wahlrechtsreform: Vorschlag des Mehr Demokratie e.V

Ich hab nicht wirklich Ahnung von Wahlreicht, könnte mir aber vorstellen, dass es gegen den Grundsatz der gleichen Wahl verstößt, wenn es mehr oder weniger dem Zufall überlassen bleibt, ob ein Wahlkreiskandidat letztlich gewählt wird oder nicht.

Nun ja, dem Zufall ist das denke ich nicht überlassen, sondern es hängt eben von externen Variablen ab. Das ist aber ja an anderer Stelle heute auch schon so: Ob ein Listenplatz zieht kann zB vom Erststimmenergebnis einer anderen Partei in einem anderen Land abhängen … daran sollte es denke ich also nicht scheitern.

Das Mehrheitswahlrecht (Erststimme) hat eine höhere demokratische Legitimation als das Verhältniswahlrecht (Zweitstimme), weil die Wählerschaft hier sehr gezielt konkreten Personen das Vertrauen ausspricht (oder auch nicht) und nicht nur eine komplette Liste als Paket akzeptieren muss. (Eventuell wäre hier denkbar, dies durch Kumulieren und Panaschieren aufzufangen, allerdings hat man da wieder das Problem dass die Wahl als solche durch die höhere Komplexität weniger zugänglich ist.) Entsprechend kann man der Wählerschaft eines Wahlkreises ihre mehrheitliche Entscheidung nicht hinterher wegnehmen, nur weil es gut für das „große Ganze“ sein soll - aus meiner Sicht würde das gegen die Unmittelbarkeit verstoßen. Mehrheitswahl gilt immer, alles andere muss man drumherum bauen.

Die „besten“ Wahlkreisgewinner:innen hängen gleichwohl auch sehr stark von ihrer unmittelbaren Konkurrenz und der Wahlbeteiligung/demographischen Situation vor Ort ab. Manche haben es leichter, hohe Prozentzahlen einzufahren als andere. Verschiedene Wahlkreise miteinander zu vergleichen und eine Rangliste zu erstellen ist daher kaum möglich, da es keine hinreichend ähnlichen Erfolgschancen gibt.

Das ist aber doch eigentlich etwas, was nicht gewünscht ist. Das Ziel sollte doch sein möglichst direkt am Wahlergebnis die Zusammensetzung des Parlaments nachvollziehen zu können. Sobald es mit komplizierteren Rechnungen und Konstellationen anfängt geht etwas verloren.

Das vorgeschlagene wäre eventuell besser wie heute aber immer noch sehr viel zu diskutieren am Ende. Einfach nach dem Motto, dass man dann anfangen muss zu schauen wenn jetzt in Wahlkreis A der Abstand noch um 0,02% steigt, dann könnte sich eine Verschiebung auch in den Kreisen X, Y und Z ergeben. Weil in A dann eine andere Kandidatin den Platz bekommt und damit die Reihenfolge in den anderen Kreisen beeinflusst, die sonst an andere Parteien gegangen wären.

Wäre es dann nicht einfacher zu sagen. Es gibt nur noch eine Stimme. Aber mit dieser kann man die Rangfolge der Kandidaten verändern? Klar ist es beim Auszählen komplizierter und dauert länger aber man müsste nicht ewig spekulieren. Die Prozente wären auch recht schnell klar und damit die Sitzverteilung. Problematisch wäre aber wiederum, dass der Wahlzettel ewig lang werden würde und kleine Parteien dann sicher noch weniger Chancen hätten. Aber da wird ja schon in einer anderen Diskussion fleißig diskutiert.

Ob der Vorschlag ein negatives Stimmgewicht erzeugen kann, hängt meiner Überlegung nach davon ab, ob weitere Anpassungen bei den Direktmandatsregeln gemacht werden.

Bekommt eine Partei nur ein oder zwei Direktmandate, bleibt der Zweitstimmenanteil unberücksichtigt. Erreicht sie dagegen 3 Direktmandate, wird er berücksichtigt. Bei sehr wenigen Zweitstimmen für diese Partei könnte ein Zugewinn eines Direktmandats mit Erreichen der drei Direktmandats-Grenze also zum Verlust aller (drei) Direktmandate führen, wenn Ulfs Vorschlag umgesetzt wird. Dies wäre ein negatives Stimmgewicht für Erststimmen - ist dies ebenfalls verfassungswidrig, oder nur bei Zweitstimmen?

Die könnte man aber umgehen durch eine Aufhebung der Regel, dass bei erst ab 3 Direktmandaten auch die Zweitstimmen berücksichtigt werden, sondern bereits ab dem ersten.
Unbeabsichtigte Folge: Kleinstparteien können durch erreichen eines Direktmandats bereits mit z.B. geschätzt 1% mit mehreren Kandidaten in den Bundestag einziehen.
Alternative Lösung gegen das Negative Stimmgewicht der Erststimmen bei Ulfs Vorschlag: die 5%-Hürde gilt auch bei Erreichen von Direktmandaten. Unbeabsichtigte Folge hier: so würde man (wertungsfrei) Einzelbewerber und potentiell die CSU (bei Verfehlen der 5%-Hürde) aus dem Budestag kegeln.

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Meine Rede. Daher hatte ich urprünglich auch hier einen entsprechenden Vorschlag verlinkt: Wahlrechtsreform: Vorschlag des Mehr Demokratie e.V

Gut gefunden!
Ja, da ist genau die Konstellation, die Probleme macht.

Bei einem zweitstimmenergebnis von unter 0.16% steht einer Partei nach Zweitstimmen nur 1mandat zu.
Holt sie 2 Mandate mit erststimmen hat sie 2 Mandate, holt sie drei Mandate wäre sie auf eines zurückgeworfen.

Ich hätte einen anderen Aspekt der mir noch Bauchschmerzen bereitet:
Über das Verfahren könnte, gerade in sehr knappen Wahlkreisen kandidat_innen die Landesliste überspringen.
Als hypothetisches Beispiel stellt ein freistehender Kreisverband der cdu im Bundesland Thüringen einen antisemitischen hetzer als direktkandidat auf. Die Parteispitze und der landesverband findet das zumindest so unangemessen, das dieses Mensch nicht auf der Landesliste auftaucht. Die spd stellt einen prominenten Sportler als Gegenkandidaten auf, die grüne Kandidatin verzichtet sogar zugunsten des spd Kandidaten um den hetzer zu verhindern. Nun ist Wahltag und Hurra: der ex—Sportler schafft es, 40% der erststimmen auf sich zu vereinen, der hetzer nur 35%, ein Kandidat der Linken ist bei 25%.
Wenn jetzt aber die spd sonst in Thüringen sehr erfolgreich war und viele erststimmen eingesammelt hat wird der ex-Sportler blöd aus der Wäsche schauen weil er zu knapp gewonnen hat. Der Wahlkreis geht an den hetzer.

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Das sehe ich aber ganz anders.
Wenn mein politischer Wille nicht zur Mehrheit an meinem Wohnsitz passt, ist meine Erststimme wirkungslos; liegt mein politischer Wille nicht bei Union/SPD, ist sie immer wirkungslos (aktuelle Trends bei den Grünen mal ausgeblendet).
Mit der Zweitstimme habe ich immer die Partei im Parlament, die ich möchte (5%-Hürde ausgeblendet).
Da aktuell sowieso die allermeisten Gesetze nach Fraktionsdisziplin abgestimmt werden (und die meisten Parlamentarier dabei nicht mal anwesend sind, sondern nur ein kleiner Teil gemäß Fraktionsmeinung stimmt), sehe ich keinen Vorteil darin, spezifische Menschen wählen zu können.

Noch ein Argument, das gegen die Erststimme spricht.

Modifikation von Ulfs Vorschlag:
Es ziehen alle Direktkandidaten ins Parlament ein, sie werden aber entsprechend ihrer Zweitstimmen in ihrem Stimmgewicht reduziert. In Ulfs Beispiel zählen die Stimmen jedes der 32 Direktkandidaten also nur 30/32 = 0,93 Stimmen (eines Listenkandidaten). Das mag zwar auf den ersten Blick komisch wirken, ist aber auch nichts anderes, als das Stimmgewicht der Direktkandidaten durch Vergrößerung des Bundestages zu schwächen. So wäre jedoch (im Gegensatz zu Ulfs Vorschlag) sichergestellt, dass die direkt gewählten Personen weiterhin alle in den Bundestag einziehen und sich am politischen Prozess beteiligen können. Zwar sitzen dann weiterhin mehr als 598 Menschen im Parlament, allerdings deutlich weniger als aktuell, weil die anderen Parteien nicht vergrößert werden müssen, um die Relationen zu erhalten.
(Ausnahmen für parteilose Kandidaten und Kandidaten von Kleinstparteien bräuchte es trotzdem; und genau die würden das Prinzip wieder erschweren.)

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Vorteile des Mehrheitswahlrechts sind außer der direkten Legitimation noch die garantierte lokale Verankerung (okay, es gibt einzelne Fälle von Partei-Promis, die mit irgendeinem sicheren Wahlkreis „versorgt“ werden, letztendlich ist es aber auch dort Entscheidung der örtlichen Parteimitglieder das so zu akzeptieren), die im Ergebnis oft klareren Mehrheitsverhältnisse (bei uns durch die Kombination mit dem Verhältniswahlrecht abgeschwächt) und die grundsätzliche Offenheit für parteiunabhängige Einzelbewerbungen.

Alle Bundestagsabgenordneten sind gleichberechtigt, es gibt keine Abgenordneten der Güteklasse A oder B, und das ist auch sinnvoll so. Hier würde es eine Verschiebung bei den Erfolgschancen einzelner Stimmen und Parteien geben, denn wie du ja selber ausführst haben manche Parteien zunächst mehr Chancen auf ein Direktmandat als andere, einzelne Parteien hätten also von vorneherein quasi automatisch „bessere“ oder „schlechtere“ Abgeordnete.

Ist das auch rechtlich irgendwo so fixiert oder nur deine persönliche Einschätzung? Ich empfinde das nämlich nicht so recht so - noch bei keiner Bundestagswahl war mir meine Erststimme wichtig, weil ich wusste, dass sie ohnehin nichts bewirkt, solange ich nicht die Kandidierenden von CDU oder SPD wähle - weil schlicht die anderen Kandidierenden in meinen Wahlkreisen (das waren je nach Jahr der Wahl unterschiedliche) ohnehin nie eine echte Chance hatten. Nur wollte ich ja auch nicht meinen Wohnort wechseln, um andere Kandidierende zur Wahl zu haben… Für mich war daher schon immer die Zweitstimme die „entscheidendere“ - hier hat meine Stimme nämlich Gewicht, sie bestimmt ja direkt die Zusammensetzung des Bundestages mit.
Mag sein, dass aus rein demokratietheoretischen Gesichtspunkten die Erststimme wichtiger ist - sie ist aber durch das „alles oder nichts“-Prinzip auch deutlich härter, weil die Stimmen all derer, die nicht für den:die siegreiche:n Kandidat:in gestimmt haben schlicht einfach verfallen. Für mich persönlich ist das eigentlich eher ein Problem - so verhindert man nämlich, dass die Meinung der Minderheit auch Gehör bekommt (aktuell wird das natürlich durch die Zweitstimmen mindestens teilweise kompensiert, keine Frage!).

Ich hatte es oben schon erwähnt: Wenn dein lokal verankerter Direktkandidat sowieso nach Parteilinie abstimmt, bringt er/sie dir nichts. Die wenigen Fälle, in denen der Fraktionszwang aufgehoben wird, sind eher moralische Fragen des eigenen Weltbilds und haben keinen regionalen Bezug.

Natürlich können Direktkandidaten „hinter den Kulissen“ für die eigene Heimat arbeiten. Deshalb habe ich den Vorschlag modifiziert, sodass alle Direktkandidaten weiterhin in den Bundestag einziehen zu lassen, anstatt einigen Direktkandidaten ihr Mandat zu verweigern.

Die klaren Mehrheitsverhältnisse entstehen doch gerade erst durch das Abschneiden der restlichen Stimmen. :smiley:

An irgendeiner Stellschraube müssen wir drehen, wenn wir das System ändern wollen.

Warum?

Wie von mir ausgeführt findet diese Verschiebung heute schon statt. Denn die Direktkandidaten haben durch das Vergrößern des Bundestags kein Gewicht von 1/598, sondern werden auf 1/700, 1/800 oder noch weniger reduziert.
Die „Erfolgschancen“ ergeben sich heute und mit beiden vorgeschlagenen Modellen aus den Zweitstimmen; und das ist auch vom Wahlgesetz und dem BVerfG so vorgesehen.

Diese „schlechteren Abgeordneten“ haben die Parteien nur, weil sie zu wenig Zweitstimmen haben! Der Gesamt-Anteil der Fraktion bleibt gleich.
Ich würde die Parteien mit den reduzierten Abgeordneten sogar leicht im Vorteil sehen, weil sie mehr Personen zur Verfügung haben und ihr Stimmgewicht kleinteiliger stückeln können, als diejenigen mit einer ganzen Stimme.

Wie anscheinend einige hier könnte auch ich damit leben, wenn es die sogenannte Erststimme nicht gäbe.

Daher ist die Frage, was wir eigentlich erreichen wollen. Wenn es keine Direktkandidaten gäbe, wäre der Nachteil, dass evtl. sich niemand für die Interessen meines Wahlkreises einsetzt. Aber diese Überbetonung des Regionalen stört mich schon länger. Es ist ja schließlich auch nicht sichergestellt, dass sich im Parlament jemand für die Interessen meines Berufsstandes, meiner Altersgruppe oder meiner Weltanschauung einsetzt. Ich finde, die Repräsentation meines Wohnortes ist auch gar nicht Sache von Abgeordneten im Bundestag, denn wir haben schließlich auch Gemeinderäte und Landesparlamente (und letztere haben über den Bundesrat am Gesetzgebungsverfahren, wenn es denn die regionalen Interessen betrifft, ein ordentliches Wort mitzureden).

Wozu also brauchen wir die Erststimme überhaupt, wenn Sie uns solche Probleme beschert? Statt sich komplizierte Wahlsysteme auszudenken, können wir sie für meinen Geschmack gern einfach streichen!

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Der Punkt hier ist, dass es aus jeder Region des Landes eine Person im Parlament gibt, die mit lokalen Gegebenheiten vertraut ist und für die Menschen persönlich erreichbar ist. (Für eine Reihe von Problemen ist die Parteizugehörigkeit zweitrangig.)

Ja, aber operational möchte man das trotzdem gerne haben, denn die Regierungsmehrheit soll ja bis zur nächsten Wahl stabil arbeiten können und nicht alle naselang wackeln. Wie gesagt, durch die Kombination mit der Verhältniswahl ist das bei uns ohnehin etwas eingeschränkt; die „abgeschnittenen“ Stimmen können damit wieder eingesammelt werden. (Im Ergebnis hat man dann beide Effekte teilweise, was besser ist als einen gar nicht.)

Unterschiedlich „wertvolle“ Abgeordnete erschweren eine Mehrheitsbildung und machen das Zustandekommen politischer Entscheidungen arbiträrer. Es ist auch kaum zu vermitteln, warum ein Wahlkreis nur einen „halben“ Abgeordneten bekommt und der Nachbarkreis einen „ganzen“.

Das hat aber keine Auswirkungen darauf, dass ihre Stimme bei Abstimmungen genauso viel wiegt wie die aller anderen. Sie sind vollwertige Mandatsträger.

Nein, die „schlechteren“ Abgeordneten haben dann die Wähler:innen, weil sie „falsch“ gewählt haben. Eine „sinnvolle“ Zusammensetzung des Parlaments durch Auf- und Abwertung bestimmter Stimmen im Nachhinein zu erzwingen gefährdet die Gleichheit der Wahl.

Welchen Vorteil würden sie durch eine Stückelung erzielen?

Wenn ich Prof. Thorsten Fass richtig verstehe, dann liegt die Problematik fast ausschließlich an der CSU: sehr viele Direktmandate, aber bundesweit nur ca. 5% Zweitstimmenanteil => Bundestag braucht ca. 840. Abgeordnete.
Vielleicht bräuchte man daher eine Lösung, die spezifisch auf diese Problematik eingeht.
Umgekehrt: wenn in ca. einem Drittel der bayerischen Wahlkreise nicht die Person mit den meisten Stimmen in den Bundestag kommt, ist das auch nicht so ganz elegant und auch kein seltenes Vorkommnis mehr.

Für die LdN nach der Wahl: es wäre interessant, mal zu beleuchten, wie die Sitzverteilung im Bundestag aussehen würde unter anderen Wahlsystemen, z.B. dem britischen winner-takes-all-in-jedem-Wahlkreis & es gibt keine Zweitstimme-System.
Schwieriger empirisch für die Bundestagswahl zu diskutieren, aber inhaltlich eigentlich sehr interessant, und möglicherweise eine Lösung für das von @vieuxrenard angepackte Problem: ranked-choice-voting für die Erststimme- ein Ansatz, den es inzwischen ja schon in mehreren Ländern gibt.

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Was ist mit Direktmandaten von Menschen, die keiner Partei angehören, die überhaupt Mandate nach der Zahl ihrer Zweitstimmen bekommt? Ich denke, wenn eine solche Person gewinnt, müsste sie wie bisher einziehen können. Ich würde die Begrenzung der Direktmandate auf die Zahl der nach Zweitstimmen errungenen Mandate nur bei solchen Parteien eingreifen lassen, die die 5%-Hürde übersprungen haben. So wäre sichergestellt, dass neue politische Kräfte eine Chance haben, wenigstens mit Einzelbewerbern ins Parlament zu kommen. Dann könnte man auch die Grundmandatsklausel so lassen wie sie heute ist: Schaffen es drei Direktkandidierende einer Partei, dann gilt die 5%-Hürde für ihre Partei nicht mehr (vgl. § 6 Bundeswahlgesetz) und die Partei bekommt Mandate nach der Zahl ihrer Zweitstimmen.

Irgendwie müsste noch verhindert werden, dass die Union lauter „unabhängige“ Kandidat*innen aufstellt, die dann nach der Wahl „spontan“ der Unionsfraktion beitreten. Denn das wären im Endeffekt Überhangmandate ohne Ausgleich, wie wir sie früher hatten. Man müsste neben dem Wahlgesetz also auch das Parteiengesetz anpassen. Vermutlich machbar, aber kompliziert.

Gruß,
Matthias

Ich würde diesen Vorschlag mit (dem vielleicht einschlägisten Experten hierzu) Prof. Dr. Joachim Behnke besprechen, der genau zu diesem Problem forscht und berät und Vorträge hält um Konzepte zu entwickeln, wie ein aufgeblähter Bundestag verhindert werden kann. Ich habe mich auch schon etwas mit dem Problem beschäftigt und finde deinen Vorschlag sehr gut, habe bisher noch keinen viel besseren Ansatz gehört.

Mein Gedanke wäre, dass vielleicht die Einführung eines zweiten Wahlgangs (Stichwahl) für die Erstimme/Direktmandate hier eine Lösung sein könnte. Bin mir aber auch nicht ganz sicher, ob das wirklich aufgeht. Meine Annahme ist, dass die Direktmandate in Dt. fast immer an CDU/SPD weil Grünen/Linken-Wähler SPD wählen, um den CDU Kandidaten zu verhindern, und FDP/Konservative den CDU Kandidaten um einen „linken“ (meist SPD) Kandidaten zu verhindern. In der Erststimme wird also häufig strategisch gewählt, was dazu führt, das mehr Direktmandate an SPD/CDU gehen, als Ihnen nach Ihrem Zweitstimmenergebnis Sitze im Bundesttag zustehen. Würde man einen zweiten Wahlgang einführen – eine Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten – müssten Wähler*innen nicht strategisch Wählen sondern könnten den Kandidaten/in wählen, den sie tatsächlich am besten finden (- denn wenn der/die nicht unter die Top 2 kommt, können sie im zweiten Wahlgang immer noch CDU/SPD wählen um SPD/CDU zu verhindern.) Vielleicht würde dies dazu führen, dass auch mal Kandidaten von den anderen Parteien unter die Top 2 kommen (und dann die Stichwahl gewinnen). Dies wäre doch anzunehmen, wenn man betrachtet wie SPD/CDU eigentlich an Stärke/Beliebtheit verlieren (was sich auch im Zweitstimmenanteil spiegelt). Es erscheint doch wahrscheinlich, dass z.B. die Grünen in einigen Wahlkreisen dann auch im Erststimmenanteil über die SPD triumphieren (zumindest dort, wo die Grünen im Zweitstimmenanteil stärker ist als SPD).

Bsp.:
Wahlkreis X

  1. Wahlgang (Ergebnisse):
    CDU Kandidat: 20%
    ADF: 9%
    FDP: 7%
    SPD: 12%
    GRÜNE: 14%
    LINKE: 9%
  2. Wahlgang:
    Grüner vs. CDU-Kanidat*in
    Angenommen „Lagerwahlkampf“ (FDP-, AFD- und CDU Anhänger wählen CDU; „Linke“ Wähler wählen Grün):
    CDU: 26%
    GRÜNE: 35%
    → Grüner Direktkandiat!

Im Ergebnis denke ich, dass das das mildere und demokratischere Mittel wäre eine Verteilung von Direkmandaten zu erwirken, die stärker der Verteilung der Zweistimmen entspricht.

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Ein anderer Vorschlag ließe sich leichter erklären und hätte weniger rechtliche Folgen: Einfach jeden Wahlkreis mit ungerader Zahl mit dem angrenzenden Wahlkreis der die nachfolgende Zahl trägt zusammenlegen.
Die Folge wäre eine Reduzierung der „Persönlichkeit“ der Wahl und stärkere Betonung der Wahllisten der Parteien.