Lieber Ulf, lieber Philip,
auch ich finde auch gut, dass Ihr das Thema Ungerechtigkeit nochmal aufgegriffen habt, insbesondere mit Blick auf die Generationengerechtigkeit. Ihr streift dabei auch das Thema ALG II (vulgo Hartz IV). Bei diesem Thema argumenteiert Ihr aber meiner Meinung nach am eigentlich Problem vorbei.
Ihr weist daraufhin das die Hartz IV-Sätze extrem niedrig seien, weil wir (oder die Entscheider?) glauben der Leistungsbezug müsse ätzend sein, weil die Leute zu faul seien zum Arbeiten. Dies Argumentation mag es so geben, geht aber meiner Ansicht nach an einem viel größeren Problem vorbei: Die Konstruktion des ALG II und weiterer Transferleistungen (vor allem Wohngeld und Kinderzuschlag) führt dazu, dass überhaupt kein Anreiz besteht zu arbeiten. Alle Anreize wirken darauf die Leistungsbeziehenden vom Einstieg in die Erwerbsarbeit abzuhalten.
So setzt in der Grundsicherung (AlG II, Hartz IV) bei einem Hinzuverdienst ab 100 Euro eine Anrechnung von 80 Prozent ein und kann bis 100 Prozent gehen. Da wundert es einen dann auch nicht, dass der Anteil derjenigen, die bis 100 Euro verdienen, mit 25 Prozent bei den Leistungsbeziehenden etw. doppelt so hoch liegt wie bei allen Minijobern (vgl. IAB-Stellungnahme 20/2019). Bei der Grenze von 200 Euro, bei der der Transferentzug noch Mal steigt, liegt dieses Verhältnis bei 57 Prozent zu 35 Prozent.
Wollen Personen im AlG II-Bezug von 100 Euro auf 120 Euro zusätzliches Nettoeinkommen durch Erwerbstätigkeit kommen, müssen sie zum Mindestlohn im Monat knapp 11 Stunden mehr arbeiten. Das entspricht einem Nettostundenlohn von etwa 1,90. Würdet Ihr dafür arbeiten gehen? Ich nicht.
Es ist aber nicht nur die Anrechnung auf das AlG II, die zu einer hohen Grenzbelastung gerade bei leistungsberechtigten Geringverdienenden führt. So setzt bei 450 Euro die Sozialversicherungspflicht - bis zum Ende des Midi-Bereich mit steigenden Beitragsätzen - ein, das Erwerbseinkommen wird auch auf die weitern Leistungen angerechnet und es kommt ab einem gewissen Einkommen die Einkommensteuer hinzu. Modellrechnungen mit den Rechtsgrundlagen von 2018 (das ist schon etwas her, soweit ich weiß, gab es aber keine grundlegenden Reformen des Transfersystems) zeigen, dass da Zusammenspiel dieser Faktoren dazu führt (für die Wohnungskosten wurde bei den Berechnungen eine Durchschnittswert genommen), dass z.B.:
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eine alleinstehende Person bei einem Anstieg des Bruttoerwerbseinkommens von 1200 (31 ½ WS zum Mindestlohn 2018) auf 1420 Euro mit einem Anstieg des Nettoeinkommens von 0 Euro rechnen kann, das in diesem Bereich bei 1058 Euro liegt. Ohne Erwerbseinkommen würde das Nettoeinkommen aus Transferleistungen 765 Euro bestehen. Die Differenz zwischen 0 WS Erwerbsarbeit und 31 1/2entspricht einem Nettostundenlohn von 2,21 Euro.
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Eine alleinerziehende Person mit zwei Kindern (6 und 12) hat ohne Erwerbseinkommen Anspruch auf 1740 Euro Transferzahlungen. Mit einem Bruttoerwerbseinkommen von 2500 Euro (65 WS bei Mindestlohn) hätte dieser Haushalt ein Nettoeinkommen von 2070 Euro, was einem Nettostundenlohn von 1,18 entspricht. Das Nettohaushaltseinkommen von 2070 wird aber schon bei einem Bruttoerwerbseinkommen von 1300 Euro zur Verfügung. In dem Bereich von 1300 bis 2500 führt also ein Anstieg des Bruttoerwerbeinkommens nicht zu einem Anstieg des Nettohaushalteinkommens!!!
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Ein Paarhaushalt ohne Kinder hat ohne Erwerbseinkommen ein Nettohaushaltseinkommen aus Transfers von 1230 Euro. Bei einem Bruttoverdienst von 2000 Euro liegt das Nettohaushalteinkommen bei 1600 Euro. Der Bereich des 100% Transferentzugs geht hier von 1200 Euro bis 1900 Euro.
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Ein Paar mit zwei Kindern hat bei fehlendem eigenen Einkommen Anspruch auf 1,930 Euro. Hier steigt z.B. das Nettohaushalteinkommen um 40 Euro wenn das Bruttoerwerbeinkommen von 1900 Euro auf 2450 Euro steigt.
(alle Zahlen bis auf die Umrechnung in Arbeitsstunden bzw. Nettostundenlöhne stammen aus dem IAB-Forschungsbericht 9/2018)
Auch wenn das AlG II-Narrativ häufig lautet, die Sätze sollen so niedrig sein, damit die Leistungsempfänger*innen einen Anreiz zur Aufnahme von Erwerbsarbeit haben, führt die faktische Ausgestaltung des Transfersystems dazu, dass über weite Einkommensbereiche die Grenzentzugsraten bei 80, 90 oder gar über 100 Prozent liegen und damit jeder Anreiz zur Arbeitsaufnahme oder Erhöhung der Arbeitszeit zerstört wird. Würden derartige Entzugsraten bei der Einkommensteuer eingeführt, würden diese sicherlich ratzfatz als grundgesetzwidrig kassiert. Es wird also gerade bei denjenigen, die wenig Einkommen haben, besonders viel von diesem Einkommen abgeschöpft. Das ist meiner Ansicht nach das eigentlich Ungerechtigkeitsproblem und nicht so sehr die Höhe der AlG II-Sätze.
Zudem wird den Transferleistungsbeziehenden und ihren Kindern systematisch deutlich gemacht Arbeit lohnt sich nicht. Wahrscheinlich mit den entsprechenen Folgen für die Bildungsaspiration und Arbeitsmotivation.
Die Lösung finde ich naheliegend: alle Transferleistungen zu einer zusammenfassen (mit variablem Teil für die Wohnkosten) und eine konstante Entzugsrate von x-Prozent (30, 40, 50 je nachdem was finanzierbar ist) über den gesamten Einkommensverlauf (unter Abschaffung der Sozialversicherungsbefreiung für geringfügige Jobs – aber das ist ein anderes Thema). Arbeit lohnt sich dann. In jedem Bereich der Einkommensveretilung.
Klar kann man hier wieder eine „Was-ist-mit-Spezialfall-XY“-Diskussion führen, aber der verkrampfte Versuch möglichst viele Einzelfälle abzudecken, führten am Ende nur zu einem wurstigen und ungerechten System, wie es zur Zeit vorliegt.