LdN 369: Neue kulturelle Regeln auf neue Generationen beschränken

Als ich eurer Diskussion gefolgt bin und mir so vorgestellt habe, wie es sich für mich anfühlen könnte, wenn ich mit einer bestimmten Sprache und bestimmten kulturellen Gewohnheiten aufgewachsen bin, da konnte ich doch emotional ganz gut nachvollziehen, dass sich Menschen ungern verändern möchten.

Ich frage mich jetzt, ob wir nicht neue kulturelle Regeln von älteren Generationen einfach nicht mehr erwarten sollten und das vielleicht sogar wo es geht in die Gesetzgebung mit einfließen lassen. Manche mögen vielleicht argumentieren, dass es Alterdiskriminierung wäre, wenn ältere Memschen etwa im Fernsehen gesellschaftlich noch eine andere Sprache benutzen dürfen, während jüngeren viel mehr angekreidet wird.

Ich finde es aber gewissermaßen auch unfair, wenn Menschen sich viele Jahre Mühe gegeben haben, sich eine bestimmte Art des Lebens zu erarbeiten, die für sie gut funktioniert, um dann alles umwälzen zu müssen. Ich bin generell kein Fan davon, Menschen etwas wegzunehmen, die sich an etwas bestimmtes gewöhnt haben. Viel effizienter und friedlicher ist es, sich stets auf die aktuell noch anwachsende und die künftigen Generationen zu fokussieren.

Konkret würde das mindestens bedeuten, dass man in der Bildung und daher bei Lehrer:innen darauf setzt, dass diese möglichst eine rational sinnvolle Kultur in Schulen leben und vermitteln. Damit das keine Extra-Belastung ist, müsste es hierfür gesonderte Stellen geben, die eine gesonderte Ausbildung haben.

Und gleichzeitig müssen wir als Gesellschaft eine Kultur leben, die tolerant bleibt auch veralteten Denkmustern gegenüber, solange diese auch von Menschen in entsprechendem Alter stammen.

Nur so ein spontaner Gedanke.

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Ich bin nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe, aber das wird sicherlich nicht funktionieren.

Angesichts der Herausforderungen durch Klima- und Biodiversitätskrise wird es nicht möglich sein, dem großen älteren Anteil der Gesellschaft eine Art „Bestandsschutz“ zu gewähren.
Menschen müssen sich immer an sich ändernde Gegebenheiten anpassen.
Auch muss der Gleichheitsgrundsatz gewährleistet sein.

Allerdings gebe ich dir recht, dass man immer tolerant, verständnisvoll und durchaus nachsichtig sein sollte… mit älteren Menschen, aber eigentlich auch mit jedem Menschen, solange er sich auf demokratischem, rechtsstaatlichem Boden bewegt.

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Meine Beobachtung ist, dass die Gesellschaft z.B. alten Menschen sowieso in vielen Dingen „Bestandsschutz“ gewährt. Selbst hartgesottene Feministinnen werden wohl in den wenigsten Fällen einem Rentner vorwerfen, er verwende kein gendergerechte Sprache. Rentner werden zudem (jedenfalls weitgehend) durch viele Sonderregelungen von den Effekten der ökologischen Wende in der Wirtschaft isoliert (Rente, Sonderregelungen beim Heizungsgesetz, usw.).

Gleichzeitig finde ich es durchaus zumutbar, auch von alten Menschen zu verlangen, dass sie nicht mehr das „N-Wort“ sagen. Unkomplizierte Alternativen gibt es genug.

Und dann ist es auch nicht unmöglich, sich als alter Mensch geistig noch zu bewegen. In der Jugend meiner Großmütter war es noch unschicklich, wenn eine katholische Frau einen evangelischen Mann geheiratet hat.

Heute haben die Damen einen Enkel, der geistig schwerbehindert ist (meinen Sohn), meine Schwester hat ein als alleinstehende Frau ein Pflegekind übernommen, meine Cousine heiratet bald einen türkischstämmigen Mann, Mein Cousin ist mit einer Spanierin zusammen, bei Festen sind immer auch homosexuelle Pärchen aus unserem Freundeskreis anwesend. Und ich kann mich nicht an einzige homophobe, xenophobe oder sonst irgendwie abwertende Bemerkung von den beiden über irgendjemanden erinnern. Nur an Freude, dass alle glücklich sind. Da sind viele meiner Altersgenossen erheblich festgefahrener in ihren Denkweisen.

Hinzu kommt, dass wir zwar in einer sehr veränderungsreichen Zeit leben, das aber auch nicht einmalig in der Menschheitsgeschichte ist. Ja, die Zeit von 1950 bis 2000 war in (West)Deutschland von einer großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Stabilität geprägt. Aber das war historisch eher die Ausnahme, als die Regel. Da muss man sich nur mal die Zeit von 1900 bis 1950 anschauen. Ein noch stärker ausgeprägter „Bestandsschutz“ als unsere Gesellschaft ihn ohnehin schon praktiziert wäre meiner Meinung nach ein Privileg, dass wir das erste Mal in der Menschheitsgeschichte einer alt werdenden Generation zuteil werden lassen. Dafür sehe ich angesichts der enormen (auch durch diese Generation verursachten) Herausforderungen keinen Anlass.

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Ich fühle zwar mit den Menschen mit, die sich damit schwer tun, aber es gibt drei wichtige Regeln dafür:

  1. Nur die Veränderung währt ewig.
  2. Es ist auch unfair, dass kommende Generationen jetzt für die Boomer zahlen müssen, die Jahrzehntelang nicht mehr in die Rentenkasse einzahlen wollten, aber hier sind wir nunmal.
  3. Nicht jede Person wird sich allen Regeln unterwerfen, der langsame und stetige gesellschaftliche Fortschritt sorgt dafür, dass sich das von alleine regelt. Die Grenzen verschieben sich, aber weder schnell, noch absolut.
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In welche Rentenkasse einzahlen? Haben wir nicht ein Umlagesystem bei dem das Geld direkt wieder rausfließt, sogar noch deutlich durch Steuergelder subventioniert?

Die Steuersubventionen sind ja der Punkt. Es wurde konsumiert auf Pump statt an die Zukunft zu denken. Die Rentenkasse kann man da gern als Metapher sehen. Auch passt es, da es üblich war, vor der Wahl jedes Mal die Renten zu erhöhen, was man nur schwer wieder zurückdrehen kann.
Auch jetzt wird der Beitrag eingefroren, statt sich mal mit einem zukunftsfähigen Konzept zu befassen.

Und wer sind die Alten?
Lisa Paus hat zum Beispiel gesagt, dass es weniger die Generation 70+ sind, die beim Klima auf Durchzug schalten, sondern die 40-60-jährigen und auf Omas For Future verwiesen.
An anderer Stelle gilt aber natürlich: Überweisung per PC, Zahlen mit Karte, Smartphone - nicht jeden 90-jährigen muss man da mitnehmen. Da ist dann die Politik in der Verantwortung, Schutzmechsnismen einzubauen, z.B. dass aller Digitalisierung zum Trotz, man trotzdem noch einen Termin am Amt per Telefon bekommt.

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Übersetzt:

  • Vergewaltigung in der Ehe weiterhin möglich für Frauen, die vor 1994 verheiratet waren (eine große kulturelle Leistung, gegen die Fritze Merz war)
  • Keine Lebenspartnerschaften für Erwachsene, die zum Zeitpunkt des Gesetzes schon 40 Jahre alt waren
  • für Frauen über 40 keine Medikamente oder Gurtsysteme, die nicht nur an männlichen Probanden getestet wurden

Kulturelle Entwicklungen sind für alle da und für jede Altersklasse.

Alles?
Man kann nahezu noch alles machen, man muss sich nur rechtfertigen für gewisse Handlungen, weil sich das Leben verändert hat.
Keiner muss auf Fleisch verzichten
Keiner muss gendern
Keiner muss …

Bitte kein Nebenthema aufmachen.

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Ich glaube auch nicht, dass das funktionieren kann - einfach aus dem Grund, dass Kinder unsere kulturellen Errungenschaften hauptsächlich durch Nachahmung erlernen. Anders ausgedrückt: „Du sollst nicht das tun, was ich tue, sondern das was ich sage“ hat bisher selten funktioniert und man macht glaube ich, wenn man die Jungen zu etwas verpflichtet, was die Alten nicht müssen wieder eine neue Konfliktlinie auf, die wir nun echt nicht brauchen.

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Kannst du mal schreiben, wovon genau die ausgenommen werden sollen? Ich verstehe es nicht und will dir nichts in den Mund legen.

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Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man heute ein allgemeines Tempolimit beschließt für alle Jahrgänge ab den heute 14-Jährigen. Warum nicht 18? Naja, 14 bis 18-Jährige könnten schon auf Basis der heutigen Gesetze Vorfreude entwickelt haben für das Rasen, und so unvernünftig es auch ist, ich bin einfach kein Fan davon, Menschen ihre Lebensfreude weg zu nehmen oder ihre Träume und Pläne zu zerstören.

Nicht falsch verstehen, ich bin persönlich für ein Tempolimit, aber das ist gerade mein Punkt hier: Wir sollten vielleicht viel vorsichtiger und dafür zukunftsgerichteter damit sein, wenn man Menschen etwas weg nimmt.

Im Ergebnis hätte das Tempolimit für die nächsten 20 Jahre keinerlei messbare Wirkung und wäre auch praktisch unkontrollierbar.

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Tempolimit ist keine kulturelle Regel, daher geht es über deinen ursprünglichen Gedanken etwas hinaus.

Letztlich schlägst Du vor, eine direkte Altersdiskriminierung bei umstrittenen Regelungsvorhaben zu etablieren, um eine von Dir postulierte indriekte Altersdiskriminierung zu bekämpfen. Letztere besteht in jeder Regeländerung, weil ältere Menschen vermeintlich weniger anpassungsfähig sind bzw. Menschen generell „Gewohnheitstiere“ sind. Trifft es das?

Zweite Frage: Anschließend die Anmerkungen von @ped und @Justjaythings - wäre ein solcher Vorbehalt (vorausgesetzt, man könnte die Verfassung entsprechend ändern und ihn umsetzen) Deiner Meinung nach ein großes Stillstandsprogramm?

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Als „kulturelle Regelung“ würde ich sowas sehen, wie dass man Frauen in der Geschäftswelt nicht als „Mädchen“ bezeichnet und sofort davon ausgeht, dass sie maximal Sekretärin sind und sie direkt Kaffee holen schickt.

Und das soll man jetzt erst für Menschen einfordern, die z.B. nach 1969 geboren wurden?

Das halte ich grundsätzlich für falsch, weil wir damit eine Denkweise schützen, die es nicht wert ist, geschützt zu werden. Diese Denkweise „So habe ich es gelernt, so soll es für immer bleiben“ ist nicht schutzwürdig, im Gegenteil, jeder Schutz dieser Denkweise verstärkt die Verankerung dieser Denkweise in der Bevölkerung und damit auch die Probleme, die daraus erwachsen. Wir müssen als Gesellschaft sinnvolle Ideale setzen - und das sinnvolle Ideal, gerade in einer sich immer stärker beschleunigenden Gesellschaft, ist Anpassungsfähigkeit und Neugier sowie Toleranz gegenüber „dem Neuen“ und Veränderung allgemein.

Wenn wir alten Menschen zugestehen, anachronistische Werte zu vertreten, werden auch junge (rückwärtsgewandte, konservative) Menschen sagen: „Warum darf der das, ich aber nicht? Ich will doch auch, dass die Gesellschaft wieder so ist, wie vor 50 Jahren“.

Wenn alte Menschen daher weiter das N-Wort benutzen oder sexistische Phrasen dreschen, müssen sie auch damit konfrontiert werden. Wegzuschauen und zu sagen: „Der ist halt so aufgewachsen, ist sein gutes Recht, so zu sein, wir sind da ganz tolerant“ ist da definitiv nicht die sinnvolle Lösung. Denn wenn wir diese Dinge bei alten Menschen tolerieren, wird es nie gelingen, diese Dinge gesellschaftlich angemessen zu stigmatisieren. Und das wollen wir.

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Ich denke beim Lesen an meine Großmutter, die die Ansicht vertrat, „früher unter H.“ war nicht alles schlecht und wir könnten das nicht verstehen, weil wir ja nicht dabei waren.
Unabhängig davon: In der Abwägung muss ich sagen, dass das Recht der Diskriminierten auf Menschenwürde schwerer wiegen sollte als das Gewohnheitsrecht der Diskriminierenden.
Es mag Sonderfälle geben, wo Menschen mit kognitiven Einschränkungen diese Umstellung nicht mehr packen. Aber die würde ich auch im Einzelfall bewerten und keinen Freibrief für ganze Jahrgänge geben wollen.

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Danke für die Spezifizierung. Ich wüsste nicht, wie das funktionieren sollte. Ich erinnere mich heute noch, ein Jahrzehnt später, wie ich bei meiner Schwester, gerade frisch den Führerschein bekommen, mitgefahren bin. Mit 30 fuhr sie durch eine Baustelle (eine richtige Baustelle, schmal, Kiesstraße). Hinter ihr drängelte einer und als ein schmaler Streifen neben der Spur frei war, quetschte er sich vorbei.
Wer wissen will, was es bedeutet, auf deutschen Autobahnen 130 zu fahren, komme mal an einem sonnigen Tag auf die A3 und fahre das deutsche Stück Linz-Passau - hinter der österreichischen Grenze fühlt man sich an Westernfilme erinnert, wenn die Pferde frei gelassen werden.
Es gibt gewisse Grundregeln, die nur funktionieren, wenn sie für alle gelten.
Ansonsten sollten wir schon konsequent sein - Computer weg, für die Großeltern der schwarz-weiß-Fernseher und das schöne grüne Telefon mit der Wählscheibe in jedes Wohnzimmer ab Jahrgang 1960.

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Solche Sonderregeln dürften schon am Diskriminierungsverbot im GG scheitern: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Es dürfte wenige Dinge geben, bei denen der Gesetzgeber alte Menschen explizit und ohne eine schwerwiegende Begründung von einer Pflicht ausnehmen darf.

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Gut möglich, dass man hier auch die StVO anpassen muss und auf bestimmten Strecken mit zu wenig Spuren ggf. das Tempolimit für alle einführen müsste. Aber das war auch nur ein schnelles Beispiel.

Ich muss leider lachen wenn ich höre, die Gesetze in Deutschland dürften nicht diskriminierend sein, während ich Diskriminierung durch den Staat tagtäglich erlebe. Menschen mit weniger Einkommen werden überall benachteiligt, Selbständige werden überall benachteiligt, Musliminnen werden überall benachteiligt. Eine Lehrerin mit Kopftuch ist u.U. staatlich verboten. Warum? Weil wir hier eine Kultur haben, in der ein Kopftuch als „nicht neutral“ eingestuft wird. Das ist eine kulturelle Norm, durch die wir so tun können, als würden wir sie gleich behandeln.

Ich finde eine Gleichbehandlung aller ja gut. Ich will eine neue kulturelle Norm, bei der alle Menschen gleichermaßen den generationsspezifischen Regeln unterworfen sind. Eine neue Norm, mit der wir wie beim Kopftuchverbot so tun können, als sei der Staat neutral, wenn alle Menschen denselben regeln untergeordnet sind, auch wenn diese Regeln einzelne Gruppen diskriminieren. Soll mir mal jemand erklären, wo da der Unterschied ist. :man_shrugging:

Ehrlich gesagt führt diese Diskussion zu nichts. Ich würde den Thread lieber schließen.

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Stimme Dir da im Grunde zu, hat nur mit dem Thread wenig zu tun. Dürften dann auch Lehrerinnen nur mit Kopftuch unterrichten, wenn sie ab 2024 eingestellt werden (vorausgesetzt, wir schaffen es, diese Diskriminierung in diesem Jahr noch abzuschaffen)? Alle älteren Menschen schauen in die Röhre?
Auf das Verhältnis von direkter und indirekter Diskriminierung in einer Gesellschaft mit ungleichen Ausgangsbedingungen bin ich oben kurz mit Blick auf deine Ausgangsidee eingegangen.
Sonst noch kurz zur Aufklärung, bevor wir den Thread beenden:
Artikel 3 Absatz 3 GG und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sind hier noch relevanter als Artikel 3 Absatz 1 GG. Sie enthalten spezielle Diskriminierungsverbote anhand bestimmter Merkmale und sind deutlich strenger als der allgemeine Gleichbehandlungssatz, der naturgemäß Grenzen in der sachgerechten Differenzierung findet. Religion und Alter fallen darunter, Selbständigkeit nicht, sozioökonomischer Status auch nicht (zu Letzterem gibt’s eine rege Debatte, u.a. forscht und berichtet die Antidiskriminierungsstelle des Bundes trotzdem teilweise zu sozioökonomischer Benachteiligung und Ferda Ataman würde das Merkmal mW gern ins AGG aufgenommen wissen).