LdN 301: die Dimension des Problems

Eingangs mein großes Kompliment für die Sonderfolge. Ähnlich wie bei den Windkraft-Folgen habe ich wieder viel dazu gelernt. Ein Thema mit dem sexy Namen „Digitalisierung der Verwaltung“ so interessant, unterhaltsam und trotzdem auf hohem Niveau behandeln zu können, ist schon beeindruckend. Ich würde mich freuen, wenn es mehr solche Sonderfolgen gäbe.

Was mir etwas geholfen hätte, die Thematik in ihrer Bedeutung besser einzuordnen, wäre eine Beschreibung der Dimension des Problems gewesen, die ich grundsätzlich am Anfang des Beitrags erwartet hätte. Ich habe ja schon früher an der einen oder andere Stelle angemerkt, dass zumindest der Versuch einer Quantifizierung (insbesondere bei euren Energiewende-Themen) helfen könnte ein Problem besser zu verstehen. Dass liegt nicht nur daran, dass ich selbst möglicherweise eher ein Zahlenfreak bin, sondern auch daran, dass die Aussagekraft einer rein qualitativen Analyse schon sehr beschränkt ist.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, mal drei Zahlen aus einer 2018er Veröffentlichung von McKinsey zum Thema [1]:

  1. Die Schätzung, dass die Ämter 59% ihrer Arbeitszeit einsparen könnten, wenn sie ihre wichtigsten Dienstleitungen digitalisieren würden
  2. Die Schätzung, dass die Deutschen dadurch 84 Mio Stunden Lebenszeit im Jahr gewinnen könnten.
  3. Die Schätzung, dass das europaweite Eisparpotential bei Nutzung von KI und Big Data in der Verwaltung* bei ca. 150 – 300 Mrd Euro jährlich liegt.

Vorweg: Uns ist allen klar, dass die Aussagekraft solcher Schätzungen grundsätzlich begrenzt ist, selbst wenn sie nachweislich seriös durchgeführt wurden. Trotzdem ist allein der Versuch wichtig, diese Größenordnungen zu ermitteln, um ein Problem einzuordnen. Es geht also nicht darum ein Problem auf eine Zahl zu reduzieren, sondern – im Gegenteil – bei einem Problem die Zahlen nicht zu ignorieren. Denn es könnte ja sein, dass ein Problem qualitativ wichtig erscheint, quantitativ aber völlig irrelevant ist (oder anders herum).

Im vorliegenden Fall hört sich z.B. Punkt 1 nach einem ziemlich signifikanten Potential an, das vor allem realistisch zu heben scheint. Das würde z.B. bedeuten, dass jeder zweite Verwaltungsbeamte seine Zeit in bessere Beratung statt sinnfreies PDF abtippen stecken könnte. Außerdem könnte man die Personalnot in vielen Bereichen wirksam in den Griff bekommen.

Dagegen hört sich Punkt zwei eher ernüchternd an. Eine Stunde pro Person pro Jahr ist zwar nicht vernachlässigbar, aber auch kein Gamechanger. Wenn das stimmt, dann würde eine digitalere Verwaltung zwar – wenn man sie gerade braucht – viel Frust sparen, für den Normalbürger aber integral kaum einen Impact haben. Das mag falsch gedacht sein, aber genau diese Überlegungen wären m.E. super relevant für das Thema.

Punkt drei hört sich wiederum nach einem erheblichen Potential an, das aber kurzfristig nur begrenzt zu heben sein wird.

Die Relevanz und die Lösungsansätze der McKinsey Veröffentlichung will ich mal nicht weiter diskutieren. Vielleicht wird das ja auch noch Thema eurer zweiten Folge.

*ich interpretiere das aus dieser sehr kompakten Zusammenfassung – möglicherweise falsch – so, dass dieses Potential dann gehoben wird, wenn die Verwaltung europaweit perfekt vernetzt auf dem digitalen Niveau von google ihre Arbeit verrichtet.

[1]
https://www.mckinsey.com/de/~/media/McKinsey/Locations/Europe%20and%20Middle%20East/Deutschland/Publikationen/Digitalisierung%202022%20Was%20jetzt%20zu%20tun%20ist/innovativeverwaltung122018sterndaubklierdomeyer.ashx

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Leider haben wir in anderen Bereichen gesehen, wozu das führt wenn man es durchzieht. Frag mal die Mitarbeiter der Sparkassen und Banken, die fast alle Kundendienstleistungen digitalisiert und den persönlichen Kontakt abgeschafft haben. Was machen die, die dann keine Arbeit mehr haben?
Solange wir unser Auskommen nur über „Arbeit“ definieren, kann es nicht verwundern dass es Widerstände gegen Digitalisierung gibt.
84 Mio. Lebensstunden, die dann wofür genutzt werden können? Aktuell macht der Arbeitgeberflügel Vorschläge, die eben nicht nach Fortschritt, sondern dem Gegenteil klingen. Wieder mehr arbeiten. Obwohl wir diese ganzen Maschinen hauptsächlich dafür angeschafft haben, uns das Leben zu erleichtern und mehr Freizeit zu ermöglichen aka weniger zu arbeiten.

Das ist weniger arbeiten damit die „Oben“ mehr Geld einstreichen, da die Automaten billiger sind. Schöne neue Welt.

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Im Prinzip gebe ich dir Recht, die meiste Effizienz-Steigerung diente in der Vergangenheit dazu, die Arbeitgeber reicher zu machen.

In diesem Fall gebe ich aber zu bedenken: Verwaltungsarbeit ist nicht wertschöpfend. Es wäre doch schöner, wenn die Menschen aus der Verwaltung irgendwas arbeiten würden, wo unsere Gesellschaft auch was von hat. Verwaltung als reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme halte ich nur für bedingt sinnvoll.

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Leider führt das jetzt vom eigentlichen Thema weg, aber da ich die Vermutung habe, dass hier ein Missverständnis vorliegt:

Die 84 Mio Lebensstunden sind nicht die der Verwaltungsbeamten sondern die der Bürger, die „verwaltet“ werden. Dass diese Bürger durch Digitalisierung weniger Zeit auf Ämtern absitzen müssen scheint mir ein recht klarer Gewinn.

Aber selbst, wenn wir

auf Punkt 1 anwenden, also die Arbeitsersparnis auf Seiten der Beamten, finde ich die Aussage in ihrer Pauschalität nicht richtig.

Zum einen: dass Effizienzmaßnahmen auch für Arbeitnehmer von Vorteil sein können, dürfte deutlich werden, wenn man sich die Entwicklung des Lebensstandards in Europa von Beginn der Industrialisierung bis jetzt anschaut. Diese Entwicklung wäre ohne effizientere / technisch weiter entwickelte Prozesse undenkbar gewesen. Dass man die Arbeitgeberseite hier kritisch(er) im Auge haben sollte – geschenkt. Was daraus aber nicht folgen sollte, ist dass man ineffiziente und für den Arbeitnehmer in Summe lästigere Prozesse künstlich am Leben erhält.

Zum anderen: in diesem Fall ist der Arbeitgeber der Staat. Es dürfte also sogar in unserem Interesse sein, dass er (mit) profitiert.

Zwei Punkte habe ich ja schon angesprochen:

Viel problematischer würde ich sehen, dass viele Verwaltungsbeamte (wie in der Lage angesprochen) sich ganz gut mit ihren ineffizienten Prozessen eingerichtet haben und vielleicht gar kein Bedürfnis nach Verbesserung haben, selbst wenn es ihre Arbeitslast reduzieren könnte. Hier könnte neben einer ggf. nötigen Umschulung auch die Angst nach Arbeitsplatzverlust hinzukommen, wobei ich aus den o.g. Gründen da mittelfristig gar keine Notwendigkeit zum Stellenabbau sehe.

Mit Sicherheit ein Thema, mit dem man einen weiteren Thread füllen könnte.

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