Some stray thoughts:
• Skandale um Personen haben immer auch eine partei- und machtpolitische Komponente. In dieser Hinsicht sind auch die Fälle Spiegel und Heinen-Esser nur bedingt miteinander vergleichbar. Die Causa Heinen-Esser wurde kurz vor der Landtagswahl in NRW zusehends zum größeren Problem, da u.a. auch die Nummer 2 auf der Landesliste und aktuelle Bauministerin Ina Scharrenbach mit hinein gezogen wurde, und auch Hendrik Wüst sich allmählich Fragen anhören musste, wann er über die Urlaubsreisen seiner Minister:innen informiert war. Deshalb wurde dort Schadensbegrenzung betrieben und der Rücktritt von Ursula Heinen-Esser erschien notwendig, um das schnell abzumoderieren. Partys auf Mallorca sind vermutlich noch schlechter zu verkaufen als Familienurlaube.
• Bei Andreas Scheuer gilt es glaube ich heute als sicher, dass er nicht Minister geblieben wäre, wenn die Corona-Krise die Aufmerksamkeit nicht vollkommen umgeschichtet hätte. Als dann später etwas Gras darüber gewachsen war, hat man ihn einfach im Amt gelassen, damit andere CDU/CSU-Minister:innen neben dem ministeriellen Super-GAU selbst wie solide und verantwortungsvolle Staatsdiener:innen wirken konnten.
• Der wahltaktische Selbstentwurf der Grünen besteht entscheidend darin, in Sachen Korruption und Politskandalen weniger vorbelastet zu sein als Union, SPD und FDP. Mithin beruht auf der politischen Integrität die Glaubwürdigkeit der Partei, was möglicherweise die geringere Fehlertoleranz erklärt. Zudem zeigen die Umfragen bisher, dass die Causa Spiegel den Grünen nicht geschadet hat (zu früh, um das definitiv zu sagen). Aber das Kalkül dürfte gewesen sein, hier schnell zu intervenieren und sich nicht wochenlang mit der Sache zu beschäftigen. Zumal Spiegel in der Bundespolitik wenig gewachsene Unterstützung haben dürfte und mit Lisa Paus eine Alternative mit exzellenten Credentials in Finanz- und Familienpolitik bereitstand.
• Die Gender-Komponente ist mE komplexer, als sie bisher diskutiert wurde. Ich würde mich der Position anschließen, dass die familiäre Belastung hier als Entschuldigung nichts taugt. Cornelius Pollmer schrieb vor einigen Tagen im SZ-Feuilleton, dass es in Deutschland ca 10-15 Menschen gibt, von denen man erwarten können sollte, dass sie selbst in familiären Krisensituationen das Wohl der 80 Millionen Einwohner des Landes, dem sie verpflichtet sind, noch vor die eigene Familie stellen: eben die Mitglieder der Bundesregierung.
•Gleichzeitig halte ich es angesichts der unterschiedlichen Maßstäbe, die bei der Vergabe von politischen Ämtern an Frauen und Männer angelegt werden, schon für möglich, dass Anne Spiegel der Meinung war, sich Belastungen im Sinne des Fortkommens ihrer politischen Karriere noch weniger anmerken lassen zu dürfen, als dies bei einem Mann der Fall gewesen wäre. Und dass sie möglicherweise der Auffassung war, man hätte ihr die Aufgabe oder Nicht-Übernahme eines Amtes als unverzeihliche Schwäche ausgelegt. Zudem stellt die Gesellschaft unterschiedliche Ansprüche an Männer und Frauen, was die Verfügbarkeit für die eigene Familie angeht - einem Mann wäre es im Zweifelsfall sicher leichter gefallen, nicht mit in den Urlaub zu fahren. Dass als Gegenbeispiele häufig auf Winfried Kretschmann oder Franz Müntefering verwiesen wird, die kürzer getreten sind, halte ich für einen zumindest fragwürdigen Vergleich, zumal es sich um extrem etablierte Politiker handelt, die schon alles bewiesen hatten.
• Ich halte deshalb auch die Position, dass Anne Spiegel Frauen und Müttern in der Politik einen „Bärendienst“ erwiesen habe, für ziemlichen Unsinn. Aus Anne Spiegel einen Allgemeinfall für die politische Eignung konstruieren zu wollen ist so abwegig, wie aus dem Fall Andi Scheuer abzuleiten, dass Menschen aus Bayern oder mit zu viel Gel im Haar keine Ministerien leiten sollten. Wenn jemand den Fall Spiegel als Vorwand nimmt, um die Eignung von Frauen und Müttern für politische Spitzenämter in Frage zu stellen, dann ist daran nicht Anne Spiegel Schuld, sondern einzig die frauenfeindliche Einstellung derjenigen, die diese Position vertreten, oder bei denen sie verfängt.