LdN 275 Sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche

Jegliche Empörung, Verurteilung und Wut über sexualisierte Gewalttätigkeit kann ich verstehen, allerdings scheint ab einem gewissen Punkt nicht weitergedacht zu werden.
Offensichtlich ist Gewalt in der katholischen Kirche kein ausschließlich individuelles Problem. Das soll nicht heißen, dass die individuellen Täter nicht massivste Grausamkeit gegen die Betroffenen ausgeübt haben und dass das kein Problem wäre. Doch der Umstand, dass sich ein immer wieder auftretendes Muster zeigt (Täter(x) werden geschützt und versetzt, Betroffene zum Schweigen gebracht und bedroht), was ein noch größeres Dunkelfeld vermuten lässt als sonst üblich bei sexualisierter Gewalt - das zeigt doch sehr genau, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt. Und das ist, bei aller Verschiedenheit, eine Gemeinsamkeit für andere Gewaltformen, die zur katholischen Kirche gehören. Im Podcadt genannt wurde außerdem die Diskriminierung queerer und nicht der Sittenlehre entsprechend lebenden Menschen so wie Menschen mit bestimmten politischen Meinungen (Schwangerschaftsabbruch). Letzteres ist nicht nur wegen der Meinungsfreiheit brisant. Da nämlich auch viel Gesundheitsversorgung von katholischen Trägern geleistet wird - z.B. Krankenhäuser - führt das dazu, dass ein großer Teil der Mediziner*innen gar nicht dazu beitragen darf, dass die entsprechende Gesundheitsversorgung geleistet werden kann. Somit ist auch die Möglichkeit Schwangerer, einen Abbruch machen zu lassen, massiv beschränkt, sodass hier körperliche Selbstbestimmung strukturell stark eingeschränkt wird. Außerdem zu nennen ist, dass behinderte Menschen, oft in kirchlich (katholisch) betriebenen Wohneinrichtungen leben und zugehörigen kirchlichen (katholischen) Behindertenwerkstätten arbeiten, weil sie oft de facto nicht das Grundrecht auf freie Wahl des Wohnsitzes ausüben können und sie gleichzeitig massiv finanziell ausgebeutet werden - die geleistete Arbeit wird nicht (!) entlohnt, sondern es gibt ein Taschengeld; das entspricht der Definition von Sklaverei sehr genau - während sie von den Gewinnen durch die Arbeit nichts sehen. (Das ist zwar nicht beschränkt auf diese eine Kirche bzw. Organisation, aber dennoch für sie relevant.)

All diese Formen von Gewalt sind ein Teil dessen, wie Berufstätigkeit oder verschiedene Art von Zugehörigkeit bei bzw. Betroffenheit von der katholischen Kirche geregelt ist und grundsätzlich umgesetzt wird. Es ist ein Muster, nach dem sich (potenzielle oder tatsächliche) Mitarbeiter*innen richten müssen bzw. womit Betroffene leben müssen, weil grundsätzlich keine oder nicht ausreichend wirksame Gegenmaßnahmen bzw. Alternativen existieren.

Aus dieser Faktenlage heraus halte ich es für irreführend, von einer moralisch legitimen Grundlage bei der Kirche auszugehen (wie es oft passiert, wenn es heißt, die Kirche erfülle eigene Werte von Nächstenliebe nicht) und sie deshalb trotz „Ausnahmen“ als legitim zu betrachten. Viel charakteristischer für die katholische Kirche ist eine Beschreibung als Institution, die durch Kontrolle, Verwaltung und Disziplinierung grundsätzlich gewaltvoll Macht ausübt - ohne jegliche demokratische Legitimation und unter gravierender Missachtung von Grundrechten. Die Fakten zu verschiedener struktureller Gewalt durch die katholische Kirche sprechen dafür, dass all das eben keine „Fehler“ sind, sondern im Gegenteil in sich stimmig: Menschen werden systematisch Möglichkeiten verweigert, ein bestimmtes Leben zu leben, indem ihnen Wahlmöglichkeiten genommen werden oder eine angemessene Aufarbeitung der gegen sie verübten Gewalt zu bekommen (was ebenfalls Lebensmöglichkeiten beschränkt).

In aller Deutlichkeit diese Misstände öffentlich zu kritisieren halte ich für wichtig. Was mir allerdings in der öffentlichen Debatte allgemein fehlt ist, die katholische Kirche auch als ein System struktureller Gewalt zu benennen, als gesellschaftliche Bedrohung ernst zu nehmen und gezielt und offen daran zu arbeiten, dass die katholische Kirche als System diese Macht - und damit die Möglichkeit von Gewalt gegen so viele - wirklich verliert.

(x) Ich habe in sämtlicher Berichterstattung zum Thema sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche ausschließlich von männlichen Tätern gehört. Sicherlich vor allem deshalb, weil sehr viele geistliche Posten - von denen oft in dem Kontext berichtet wird - grundsätzlich in der katholischen Kirche nur Männern vorbehalten sind. Um das sichtbar zu machen habe ich dort die männliche Form benutzt. Ich meine damit nicht, dass nur Männer diese Gewalttaten begehen würden oder dass solche Taten von nicht-männlichen Menschen weniger ernst zu nehmen wären.

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Das ist definitiv so, es IST ein strukturelles Problem… Allerdings halte ich das nicht für einen übersehenen Punkt in der Diskussion, es ist der Kern der aktuellen Auseinandersetzung. Strukturelle Ursachen zu leugnen, auf Fehlverhalten der Einzelnen zu verweisen, die Heiligkeit der Institution dabei aber nicht in Frage stellen zu lassen, das war die erste Verteidigungslinie vor über zehn Jahren. Inzwischen wird sie nur noch in den rechtskonservativen Kreisen betrieben (dort allerdings leider weiterhin sehr ausgeprägt), alle anderen haben das inzwischen erkannt und selbst die meisten Bischöfe räumen es ein.

Aufgrund dieser erhöhten Sensibilität auch in der Leitungshierarchie gebe ich nun auch dem Forum Synodaler Weg eine Chance, wirklich Änderungen zu bewirken, bislang hielt ich es in erster Linie für Beschäftigungstherapie für die Reformwilligen, um die Untätigkeit auf Leitungsebene zu kaschieren. Allerdings wird sich nur ändern, was auf Ebene der Bistümer auch durch den jeweiligen Bischof entschieden werden darf (z. B. Arbeitsrecht), auf Veränderungen in zentralen Bereichen (Zölibat, Zugang zu Weiheämtern für Nicht-Männer) werden wir vergeblich auf römische Reformen warten.

Das ist wirklich eine ganz andere Diskussion, die nicht mit der hiesigen Diskussion vermischt werden sollte: Behinderte Menschen sind - v. a. bei intellektuellen Beeinträchtigungen, in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt oder zumindest darin bedroht. Im besten Fall gibt es ein unterstützendes Umfeld oder eine gesetzliche Betreuung, um die Selbstbestimmung zu ermöglichen. Das Arbeitsentgelt in den Werkstätten ist ziemlich genau geregelt, die Wirtschaftskreisläufe Betreuung und Produktion sind voneinander getrennt. Die Beschäftigung dort wäre bei Einhaltung von Mindestlohnstandards nicht aufrechtzuerhalten. Kann man sicherlich unter verschiedensten Aspekten diskutieren, hat aber überhaupt nichts mit der katholischen Trägerschaft von Werkstätten zu tun.

Stimme zu. Deshalb ist der öffentliche Druck auf die katholische Kirche absolut berechtigt und auch notwengig. Dass ohne diesen Druck keine Veränderung erfolgt, wurde in den letzten 12 Jahren leider bewiesen.

Jain. Erstens, wie bereits gesagt, ist das Problem gesellschaftlich deutlich erkannt. Zweitens ist es richtig, diesem System muss Macht entzogen werden, etwa die massiven arbeitsrechtlichen Freiheiten in den eigenen Tarifverträgen. Drittens allerdings - was in Ihrem Beitrag so durchklingt, die Kirche solle als Ort des organisierten Verbrechens (ich überspitze) mehr oder weniger gänzlich stillgelegt werden, auch in den betriebenen Einrichtungen und Diensten, das halte ich für überzogen. Es gibt in der Kirche auch die gewaltfreien Orte, in denen Menschen Unterstützung und Förderung erfahren, in denen sie sich in guter Weise entfalten können. Und das sage ich, obwohl ich zu den Fahnenträgern gehöre, die zum Sturm gegen nicht nur überkommenen, sondern auch schädlichen und in Teilen kriminellen Strukturen ankämpfen.

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Danke! Das war mit auch sehr wichtig!