LdN 273: Umwandlung der NATO in ein europäisches Verteidigungsbündnis

Tatsächlich wollte sich die Biden-Regierung ja auf China konzentrieren und suchte ein „stabiles und vorhersagbares Verhältnis“ zu Russland.

https://www.npr.org/2021/05/21/999196021/biden-wants-a-stable-predictable-relationship-with-russia-thats-complicated?t=1643452856487

Nun hat Russland da mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Ohne jetzt immer das Haar suchen zu wollen, ich finde auch diese Formulierung etwas unglücklich. Natürlich müssen wir uns (ganz allgemein) mit den Wünschen Russlands auseinandersetzen und sollten diesen im Sinne einer guten Nachbarschaft auch entgegenkommen.

Und ich glaube wir sollten uns auch keine Illusionen machen, dass wir Russlands Wünsche in der konkreten Situation ignorieren können. Russland scheint doch ein erhebliches Sicherheitsbedürfnis zu haben, was vielleicht historisch betrachtet nicht so verwunderlich ist und machen wir uns nichts vor, wir waren auch froh als die Bedrohung durch den Warschauer Pakt weg war und keine Panzer mehr an unserer Grenze standen.

Sich mit den Wünschen Russlands nicht zu beschäftigten, wird sicher nur zu weiterer Eskalation jetzt und in Zukunft führen. Das Problem ist nur, wie tut man das, ohne Russland darin zu bestätigen, seine Ziele mit militärischen Drohgebärden zu erreichen? Und wie tut man das, ohne die Ukraine bloßzustellen?

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Natürlich konnten wir froh sein, denn der Warschauer Pakt war eine reale Bedrohung für uns. Im Gegensatz dazu wird Russland aktuell weder von den USA, der Ukraine oder anderen europäischen Ländern bedroht. Dass was sie 'erhebliches Sicherheitsbedürfnis" nennen ist in der Realität der Wunsch nach Dominanz gegenüber seinen direkten Nachbarn.

Ist das so? Meines Wissen hat die Sowjetunion nach 1945 normalerweise keine Länder außerhalb ihrer Einflusssphäre so ohne Weiteres überfallen. Wie ausgeprägt die Bedrohungslage da wirklich war, lässt sich ohne Zugriff auf Archive usw. wohl kaum abschließend klären, was aber definitiv real war, war unser Gefühl des Bedroht-Seins und das ist genau der Punkt: Die Bedrohung muss nicht zwingend real sein, das eigene Gefühl bedroht zu sein kann es dennoch sehr wohl sein.

Man sollte sich vielleicht auch vor Augen halten, dass in der russischen Geschichte mehrfach Großkriege auf dem Boden dieses Landes stattgefunden haben mit jeweils katastrophalen Folgen für Russland (Napoleons Invasion, zwei Weltkriege). Dazu kommt die „Niederlage“ im kalten Krieg, wo die darauf folgende Schwächeperiode von der Nato --aus der Sicht der Russen muss man das vermutlich so sehen-- schamlos ausgenutzt wurde, um die Nato in Richtung Russland auszudehnen. Vergleichbares ist Deutschland nie passiert. Der einzige Krieg, der schließlich auf Deutschem Boden ausgefochten wurde, ist einer, den wir selbst angezettelt haben und dessen Ende wir heute als Befreiung sehen.

Ich halte das für zwei verschiedene Dinge, dass Sicherheitsbedürfnis für einen Zweck und die Dominanz für ein Mittel zu Befriedigung des selbigen, wobei so eine Dominanz natürlich auch aus anderen Erwägungen heraus „angenehme“ Nebeneffekte hat.

Wenn man das zusammennimmt, wird eine Ukraine in der Nato für die Russen vermutlich ungefähr so gut vorstellbar sein wie sowjetische Atomwaffen auf Kuba für die Amerikaner.

Das alles soll keinesfalls eine russische Invasion der Ukraine rechtfertigen, ich weiß auch noch nicht mal, ob ich die russische Perspektive wirklich so vollständig treffend widergebe, aber man muss sowohl die reale Lage als auch die Perspektive des Gegenübers zu verstehen versuchen, wenn man einen Konflikt lösen möchte. Sich einfach nur hinzustellen und zu sagen, „aber die Waffe in meiner Hand ist doch gar nicht geladen“, damit ist es nicht getan.

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Dazu ein ganz gutes Gespräch: ‎The Dishcast with Andrew Sullivan: John Mearsheimer On Handling Russia And China on Apple Podcasts

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Die Sowjetunion ist vorallem aus internen Gründen desintegriert. Die ihr zugeschriebenen Totengräber von Helmut Schmidt über Ronald Reagan bis Usama bn Ladin haben vielleicht eine nette Geschichte auf ihrer Seite.

Den Einwurf verstehe ich nicht. Auf Napoleon und beide WKs hatte der OP doch hingewiesen? Und welche Rolle hat Russland im 30jährigen Krieg gespielt, die man ihm heute noch vorwerfen könnte? Welcher der vielen Deutschen Staaten, die es vor 1933 gab, ist von Russland überfallen worden?

Das ist so. Nur ist das explizit keine moralische Bewertung, sondern lediglich die Feststellung, dass es sich hierbei nicht um Angriffe des Warschauer Pakts auf Nato-Staaten handelte. So etwas ist einfach nie passiert.

Afghanistan grenzte an die Sowjetunion. Die USA hätten in einem vergleichbaren umgekehrten Fall, auch belegt durch die Truman-Doktrin, kein Stück anders gehandelt.

Der Referenzrahmen unserer nationalen Geschichtserzählung beginnt üblicherweise mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871. Natürlich sind auch die Römer hier rumgelaufen und haben den Germanen mit dem Schwert ein wenig Kultur gebracht, die Auswirkungen auf unser nationales Selbstverständnis heute sind jedoch überschaubar.

Achja die berühmten „internen Gründe“. Wer kennt sie nicht?
Der Nato-Doppelbeschluss und die Unterstützung der Mudschahedin in Afghanistan haben natürlich mit dieser „internen“ Entwicklung nichts zu tun gehabt…

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Warum wohl? Weil die Sowjetunion wusste, was passieren würde, wenn einer ihrer Soldaten die Grenze überschreitet.

Ihr Verständnis für (sowjet)russische Gewaltpolitik ist wirklich rührend. Verständnis klingt auch besser als Apologetik, nicht wahr?

Im Hause Koch vielleicht.

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Das war wirklich sehr interessant. Der interessanteste hier neue Aspekt des Podcasts war in meinen Augen, dass Russland die Bedrohung weniger militärisch versteht als in dem durch die Bush-Doktrin explizit geförderten Regime-Change, in dem Sinne, dass nach der orangenen Revolution und der Rosenrevolution die nächste Revolutionszug auf dem roten Platz starten könnte.

Da liegt anscheinend auch ein großes Problem für unser Verständnis der Konfliktlage. Aus unserer Perspektive ist eine liberale Demokratie einfach nur etwas gutes und wenn wir derartige Bestrebungen in anderen Ländern unterstützen ist das auch dementsprechend nobel. Aus einer rein moralischen Perspektive ist das eine verständliche Wahrnehmung, Putin oder Xi Jinping feiern dieses Vorgehen aber vermutlich nicht so sehr wie wir.

Das taugt vielleicht sogar einigermaßen als Ansatzpunkt für Einklärung, warum Russland so aggressiv versucht, unser Vertrauen in demokratische Prozesse zu unterminieren.

Und nochmal für den @AndyM es geht mir kein Stück darum, dieses Verhalten zu entschuldigen, ich möchte lediglich verstehen, wie es zustande kommt, welche Ziele damit erreicht werden sollen.

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Wenig. Staaten haben halt Herausforderungen.

Da der Westen dabei sehr selektiv vorgeht, kann man das nobel ruhigen Gewissens streichen.

Wow, es war Russland, die sich einen Teil Polens einverleibt haben und dann, als die Polen sagten, das geht doch nicht, meinten, dann nehmt euch den entsprechenden Teil von Deutschland.
Ich sehe da durchaus Parallelen dazu, was 2014 in der Ukraine passierte.
Es gibt da einfach am Verhalten Russlands nichts schön zu reden.

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Also das ist dann doch deutlich komplizierter: Das Gebiet im Osten von Polen, um das es geht, war vor dem Ersten Weltkrieg Teil des Russischen Kaiserreichs gewesen wie natürlich auch Polen selbst. Das mit dem Versailler Vertrag neugegründete Polen führte einen Krieg gegen Sowjetrussland (und auch Litauen) und eroberte dieses Gebiet, das jenseits der vorgeschlagenen Ostgrenze Polens aus den Pariser Verhandlungen lag, nach dem damaligen britischen Außenminister die Curzon-Linie genannt.

Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde dann vertraglich zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion die Aufteilung u.a. Polens beschlossen, wodurch die Sowjetunion nach Beginn des Krieges in etwa das 1921 an Polen verlorene Gebiet wieder eingliedern konnte. Das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion einigten sich dann später im Zuge der Verhandlungen für die Nachkriegsordnung auf die Westverschiebung Polens, wofür nun die Curzon-Linie zu Grunde gelegt und andererseits die Oder-Neiße-Linie als neue Westgrenze definiert wurde.

Das Gebiet wurde auch nicht der russischen Sowjetrepublik angeschlossen, sondern wurde Teil der litauischen, weißrussischen und - hier schließt sich der Kreis - ukrainischen Sowjetrepublik und dieser Gebietsteil gehört auch heute noch zur Ukraine. Nur ein Teil Ostpreußens wurde in die russische Sowjetrepublik integriert.

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Wow, Du vergleichst jetzt nicht die Westverschiebung Polens 1945 mit der Osterweiterung der NATO? Zur Erinnerung: Die Ursache dafür war ein von Deutschland begonnener Krieg mit über 50Mio Toten, beschlossen wurde die Verschiebung von UdSSR, USA und UK gemeinsam (Stalin, Roosevelt, Churchill), und die Polen wurden zu keinem Zeitpunkt gefragt. Das sind riesige Unterschiede.

In erster Linie ging es mir nicht in Polen, sondern um die Aussage, Deutschland hätte derartiges nie erlebt.
Aber wie du richtig sagst, Polen hat zeitweise gar nicht existiert, wer also jetzt behauptet, dass Russland aufgrund früherer Grenzen ein Anrecht auf die Ostukraine hat, spricht indirekt Polen die Daseinsberechtigung ab, was zeigt, wie wenig dieses Argument Gewicht haben darf.

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Ich denke, ich verstehe was Du mir sagen willst, aber finde den Vergleich unpassend. Was ist von der Westverschiebung Polens heute in unserem kollektiven Gedächtnis hängen geblieben? Es war halt ein Ergebnis des von uns begonnenen Angriffskrieges. Auch wenn das für die Vertriebenen viel Leid bedeutet hat, ist da bei uns heutzutage hauptsächlich Schulterzucken. Ich vermute, dass die Russen die Angriffe Napoleons oder Hitlers nicht so sehen.

Wäre an der Stelle interessant einen Russen oder zumindest jemanden mit sehr guten Kenntnissen Russlands hier zu haben. Ich kann am Ende ja nicht wirklich beurteilen wie man in Russland die eigene Geschichte interpretiert. Das ist ja nicht nur eine Frage der reinen Fakten.

Apropos Fakten, Fakt ist, dass Russland --selbst wenn es formal auf der Siegerseite stand-- bei den vier großen Konflikten seit 1800 immer die Zeche gezahlt hat

-Napoleons Feldzug endete damit, dass man im eigenen Land die Erde verbrannt und Moskau angezündet hat
-Der 1. WK endete mit einem Diktatfrieden, der in Russland ungefähr so aufgenommen wurde wie der Versailler Vertrag bei uns, beendete außerdem die zaristische Monarchie und mündete in den Bürgerkrieg; danach war man so geschwächt, dass man längere Zeit große Angst vor einem Angriff Polens hatte
-Der 2. WK hat offensichtlich zu unermesslichem Leid auf sowjetischem Boden geführt
-Der kalte Krieg endete mit dem Zerbrechen der Sowjetunion, beendete den Status Russlands/der Sowjetunion als Superpower und in der Folge verliert man einen Großteil der ehemaligen Verbündeten/Satelliten an die Nato

Natürlich ist mir klar, dass Russland/die Sowjetunion gleichzeitig auch immer seine kleineren Nachbarn schikaniert hat, um das mal so lapidar zu formulieren, aber ich würde doch denken, dass die großen geschichtlichen Ereignisse die Geschichtserzählung deutlich mehr prägen und das Ergebnis war für Russland jeweils fatal.

Vor diesem Hintergrund hielte ich ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis Russlands für nachvollziehbar, nur sollte man (matti, andi, …) mir doch bitte zugestehen, dass ich in der Lage bin, das von der Beurteilung der Mittel zu trennen, die Russland zur Erreichung seiner Ziele wählt. Muss man wirklich jedes Mal darauf hinweisen, dass bei den Nachbarn einzumarschieren oder diese auch nur zu destabilisieren keine legitimen Mittel der Außenpolitik sind?

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Das ist zynisch, weil ja das Ziel von ethnischen Säuberungen.
Die Vertriebenenverbände gibt es noch, auch bei mir im Ort. 2015 erst wurde von unserer Kirche eine Fahrt in die Heimat der Gemeindegründer organisiert. Natürlich kenne ich die Geschichte meines Großvaters, habe die Orte auch besucht, aber aufgewachsen bin ich hier. Mit den Betroffenen stirbt die Erinnerung.

Über ein Sicherheitsbedürfnis Russlands darf immer verhandelt werden, hier geht es aber um ein wirtschaftliches Bedürfnis, das mit Waffengewalt durchgedrückt werden soll.
Und das steht nicht zur Verhandlung.
Soll Russland seine Übungen beenden und dann zu Verhandlungen einladen.

Das Fass will man nicht aufmachen. Wenn man über die ethnischen Säuberungen an Deutschen redet, muss man natürlich auch über die vorausgegangenen ethnischen Säuberungen durch Deutsche reden. Während der deutschen Besatzung sind über 17% der polnischen Bevölkerung umgekommen (6Mio Tote, davon 300k Soldaten). Zum Vergleich: Deutschlands 6Mio Kriegstote entsprachen 9% der Bevölkerung, 5Mio davon waren Soldaten. Hätte Deutschland keinen Krieg angefangen, hätte es keine Westverschiebung Polens gegeben, und damit auch keine Vertreibung.

Eventuell hat Russland den Eindruck, dass niemand einer solchen Einladung folgen würde, so lange sie keine glaubwürdige Bedrohung präsentieren.