Anknüpfend an einen älteren Thread (LdN 228: Umfragen zur Akzeptanz von Corona-Maßnahmen) würde ich angesichts der letzten Lage gerne noch einmal den Aussagewert von Meinungsumfragen infrage stellen. Ich tue das als jemand, der jahrelang qualitative Sozialforschung betrieben hat. Meine Kritik bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Punkte:
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Die quantitative Zustimmung zu einer bestimmten Aussage sagt nur bedingt etwas darüber aus, was Menschen denken. Insbesondere weiß man häufig nicht, was Menschen mit bestimmten Aussagen assoziieren. Das zeigt sich u.a. daran, das schon kleinste Veränderungen in der Formulierung der Fragestellung zu signifikant anderen Ergebnissen führen können.
Dies lässts ich auch für die Umfragen zu den Corona-Maßnahmen zeigen. So fragt der in der Lage zitierte „DeutschlandTrend“ (Ergebnisse u. a. hier) relativ unspezifisch nach „aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ und lässt nur die Antworten „gehen zu weit“, „sind angemessen“ und „gehen nicht weit genug“ zu.
Fragt man aber spezifisch nach bestimmten Maßnahmen, z. B. Kontaktbeschränkungen oder Öffnung der Gastronomie, sehen die fast zeitgleich erhobenen Werte ganz anders aus (siehe diese Umfrage von YouGov), in der sich insgesamt 37 Prozent für Lockerungen bei Kontaktbeschränkungen einsetzen und nur 16 Prozenz Restaurants und Kneipen geschlossen halten wollen. -
Umfragen messen Meinungen, nicht Verhalten. Zum einen ist gerade bei Themen, die moralisch aufgeladen sind (dazu gehört Corona m. E. eindeutig) das Phänomen der sozialen Erwünschtheit ein großes Problem. Das bedeutet, dass Menschen bei Befragungen eine Anwort geben, von der sie denken, dass sie sozial akzeptiert ist. Ob das tatsächlich so ist, spielt keine Rolle, aber der Effekt der Verzerrung ist deutlich nachweisbar. Zum anderen zeigen etwa Umfragen beispielsweise aus dem Gesundheitsbereich, dass es einen eklatanten Unterschied gibt zwischen dem, was Menschen sagen was sie gut finden oder tun und dem wie sie tatsächlich handeln. Und auch hier gilt: je allgemeiner die formulierte Frage, desto höher die Zustimmung. Frage ich „Finden Sie Klimaschutz wichtig“, so kriege ich sicher über 80% Zustimmung. Frage ich „Würden Sie für den Klimaschutz auf Flugreisen verzichten“, sind es vielleicht nur noch 20% (der Wert ist jetzt geraten). Aber wie viele von diesen 20% dann tatsächlich auf Flugreisen verzichten würden, ist eine komplett andere Frage.
Auf Corona bezogen heißet das: „Die“ Maßnahmen abstrakt für angemessen zu halten, ist das eine. Konkrete Kontaktbeschränkungen oder Schließungen zu befürworten, ist noch einmal eine andere. Und sich dann auch noch an diese Maßnahmen zu halten (also z.B. die eigenen Kontakte tatsäclich einzuschränken) ist noch mal was anderes. Und das lässt sich m. E. nicht in solchen Umfragen abbilden.
Das ist wie gesagt vorwiegend ein methodisches Problem, das sich keineswegs nur auf Corona bezieht. Ein Bekannter von mir, der bei einem Marktforschungsinstitut arbeitet, meinte mal über einen wichtigen Kunden „der will immer nur Prozentzahlen, egal wie die zustandekommen“.
Die Frage, ob sich politische Maßnahmen an solchen (aktuellen) Umfragewerten orientieren sollten, steht dann noch einmal auf einem ganz anderen Blatt