LdN 233 Umgang mit Umfragen, hier zu Corona-Maßnahmen

Anknüpfend an einen älteren Thread (LdN 228: Umfragen zur Akzeptanz von Corona-Maßnahmen) würde ich angesichts der letzten Lage gerne noch einmal den Aussagewert von Meinungsumfragen infrage stellen. Ich tue das als jemand, der jahrelang qualitative Sozialforschung betrieben hat. Meine Kritik bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Punkte:

  1. Die quantitative Zustimmung zu einer bestimmten Aussage sagt nur bedingt etwas darüber aus, was Menschen denken. Insbesondere weiß man häufig nicht, was Menschen mit bestimmten Aussagen assoziieren. Das zeigt sich u.a. daran, das schon kleinste Veränderungen in der Formulierung der Fragestellung zu signifikant anderen Ergebnissen führen können.
    Dies lässts ich auch für die Umfragen zu den Corona-Maßnahmen zeigen. So fragt der in der Lage zitierte „DeutschlandTrend“ (Ergebnisse u. a. hier) relativ unspezifisch nach „aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ und lässt nur die Antworten „gehen zu weit“, „sind angemessen“ und „gehen nicht weit genug“ zu.
    Fragt man aber spezifisch nach bestimmten Maßnahmen, z. B. Kontaktbeschränkungen oder Öffnung der Gastronomie, sehen die fast zeitgleich erhobenen Werte ganz anders aus (siehe diese Umfrage von YouGov), in der sich insgesamt 37 Prozent für Lockerungen bei Kontaktbeschränkungen einsetzen und nur 16 Prozenz Restaurants und Kneipen geschlossen halten wollen.

  2. Umfragen messen Meinungen, nicht Verhalten. Zum einen ist gerade bei Themen, die moralisch aufgeladen sind (dazu gehört Corona m. E. eindeutig) das Phänomen der sozialen Erwünschtheit ein großes Problem. Das bedeutet, dass Menschen bei Befragungen eine Anwort geben, von der sie denken, dass sie sozial akzeptiert ist. Ob das tatsächlich so ist, spielt keine Rolle, aber der Effekt der Verzerrung ist deutlich nachweisbar. Zum anderen zeigen etwa Umfragen beispielsweise aus dem Gesundheitsbereich, dass es einen eklatanten Unterschied gibt zwischen dem, was Menschen sagen was sie gut finden oder tun und dem wie sie tatsächlich handeln. Und auch hier gilt: je allgemeiner die formulierte Frage, desto höher die Zustimmung. Frage ich „Finden Sie Klimaschutz wichtig“, so kriege ich sicher über 80% Zustimmung. Frage ich „Würden Sie für den Klimaschutz auf Flugreisen verzichten“, sind es vielleicht nur noch 20% (der Wert ist jetzt geraten). Aber wie viele von diesen 20% dann tatsächlich auf Flugreisen verzichten würden, ist eine komplett andere Frage.

Auf Corona bezogen heißet das: „Die“ Maßnahmen abstrakt für angemessen zu halten, ist das eine. Konkrete Kontaktbeschränkungen oder Schließungen zu befürworten, ist noch einmal eine andere. Und sich dann auch noch an diese Maßnahmen zu halten (also z.B. die eigenen Kontakte tatsäclich einzuschränken) ist noch mal was anderes. Und das lässt sich m. E. nicht in solchen Umfragen abbilden.
Das ist wie gesagt vorwiegend ein methodisches Problem, das sich keineswegs nur auf Corona bezieht. Ein Bekannter von mir, der bei einem Marktforschungsinstitut arbeitet, meinte mal über einen wichtigen Kunden „der will immer nur Prozentzahlen, egal wie die zustandekommen“.

Die Frage, ob sich politische Maßnahmen an solchen (aktuellen) Umfragewerten orientieren sollten, steht dann noch einmal auf einem ganz anderen Blatt

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Das stimmt natuerlich alles, aber es wurden gar keine kausalen Zusammenhaenge im Beitrag angedeutet. Die Umfragen lassen wohl sehr wohl den Schluss zu, was die Mehrheitsmeinung ist. Daraus kann man natuerlich keine Kausalitaet ableiten (welche Gruppe die Massnahmen gut findet, etc) oder Rueckschluesse uebers Verhalten ziehen, aber die Aussagen wie sie getroffen wurden geben die Umfragen doch recht akurat wieder. Ob man sich allerdings auf eine einzelne Umfrage verlassen sollte, sei jetzt mal dahingestellt (aber das ist eine andere Frage).

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Ich ging es auch nicht um Causality, sondern um Caution, um es mal auf Englisch zu formulieren. Mein Punkt ist ja gerade, dass es eben je nach Fragestellung durchaus unterschiedliche Antworten auf die Frage gibt, was „die Mehrheitmeinung“ ist.

Womit lässt sich dieser Schluss belegen? Gerade da die angesprochene YouGov Umfrage ja eher das Gegenteil aussagt (nur 16% für geschlossene Restaurants und Kneipen)?`Gerade bei so einer Frage die so abstrakt nur die Maßnahmen als Ganzes betrachtet, kann ich mir ein (unterbewusstes) „im Allgemeinen finde ich die Maßnahmen ja gut (alles was mich nicht betrifft), nur X (was mich konkret betrifft) könnte gelockert werden“-Denken auch bei der Beantwortung einer solchen Frage sehr gut vorstellen.

zunächst einmal Danke für das ansprechen dieses Themas.
Ich bin auch überrascht darüber, dass in der Lage davon ausgegangen wird, das die Politik ohne Grund und Rückhalt in der Bevölkerung so handelt wie sie zur Zeit handelt, d.h. eher öffnet als schließt, nur sehr zögerlich Lockerungen zurücknimmt (Und da im speziellen Jens Spahn)

Ich denke die Ursache hierfür könnte sein, dass eine Dissonanz in der Bevölkerung besteht, die mit steigenden Zahlen eher noch zunimmt.
Aufgefallen ist mir diese Dissonanz in der Bevölkerung zum Ersten mal beim Deutschlandtrend vom 04.03.21.
Dieser liegt jetzt zwar schon zwei Wochen zurück, aber die Zahlen sind immer noch mit den heutigen Vergleichbar.
https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2533.html

Während 67 Prozent sagen, dass die Maßnahme in der jetzigen Form in Ordnung sind, oder sogar nicht weit genug gehen, siehe unten, sind 80 % (!) für eine Öffnung von Restaurants und sogar 82 % für eine Öffnung der Geschäfte.

Wie von Threadersteller also angesprochen, scheint es sich hier um den Gleichen Effekt zu handeln, wie z.B. beim Klimaschutz. Coronamaßnahmen, ja bitte aber bitte nur in Bereichen, auf die ich verzichten kann. Die Meisten sind der Meinung, dass die Zahlen runter müssen, konkret weitere Einschnitte in Kauf nehmen wollen aber die wenigsten.

Die Politik handelt also gerade nicht entgegen der Bevölkerungsmeinung sondern setzt nur das um, was sie aus konkreten Umfrageergebnissen erfährt und das ist nunmal, dass sich eine sehr große Mehrheit wünscht, dass trotz Corona Geschäfte und Restaurants wieder aufmachen sollen. Der Verweis auf die 60 % die auf die allgemeine Frage Lockdown härter / weiter ja / nein ist also eine zu große Vereinfachung der Situation, die die Basis der Beführworter größer wirken lässt, als sie es tatsächlich ist.

Dies soll bitte nicht als Aufforderung meinerseits verstanden werden alles aufzumachen, ich möchte nur einen möglichen Erklärungsansatz für die aktuelle Politik liefern.

Persönlich würde ich bei manchen Fragen auch mit „weitere Lockerungen“ antworten, das allerdings auch dann nur, weil ich denke dass noch deutlich mehr mit Schnelltests ginge, als aktuell umgesetzt wird, siehe z.B. das Konzert der Philharmoniker in Berlin jetzt am Wochenende. Ich bin ausdrücklich gegen eine blinde Öffnung ohne Testkonzepte, so wie sie ja zur Zeit leider u.A. bei den Schulen durchgeführt wird.

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Ich bin mir nicht sicher, ob PolitikerInnen sich (zu oft oder zu sehr) an der Mehrheitsmeinung orientieren sollten. Denn die Prämisse dabei ist, dass die Mehrheitsmeinung auch die richtige Meinung ist. Dies sollte zumindest kritisch gesehen werden, denn auch die Mehrheit kann sich zunächst irren. Auch sollte dabei bedacht werden, dass Meinungen subjektiv sind. Dies führt @kaigallup in seinem Post sehr genau aus.

In Deutschland werden PolitikerInnen gewählt, um Entscheidungen zu treffen. Sie sollen Risiken abwägen, Nebenfolgen bedenken und in die Zukunft denken. PolitikerInnen werden auch gewählt, damit sie stellvertretend für das Volk verbindlich entscheiden. Dies kann dann auch bedeuten, dass eine unpopuläre Entscheidung getroffen werden sollte, wenn sie dem Gemeinwohl dient, auch wenn sie nicht von der Allgemeinheit der Meinungen getragen wird.

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Sehr interessante Umfrage!

Ich teile die Einschätzung, dass solche Umfragen mit großer Vorsicht interpretiert werden müssen und nur zum Teil belastbar sind. Wenn man aber gerade diese Aussagekraft in Frage stellt, finde ich es schwierig, nun die Interpretation „umzudrehen“ und die Umfrage als Beleg für einen allgemeinen Öffnungswunsch in der Bevölkerung zu sehen. Die „zu große Vereinfachung der Situation“ trifft bei den spezifischen Fragen nach Laden-/Rastaurant-/Hotelöffnungen ja genau so zu.

Ich habe in der letzten Zeit den Eindruck gewonnen, dass viele Menschen sich sowohl mit einem kompletten harten Lockdown, als auch mit einer kompletten Öffnung aller Einrichtungen (unter Beachtung der Hygiene-Maßnahmen) arrangieren könnten; Hauptsache die momentane, inkonsequente Lockdown Light-Situation wird nicht fortgeführt. Entweder ganz oder gar nicht. Eine solche Position wird aber, so wie ich das gesehen habe, in den Umfragen gar nicht richtig erfasst.

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Ich finde die Umfragen bieten schon noch viel Interpretationsspielraum, besonders weil Sie viel zu offen gehalten wurden. Es gibt wirklich viele Maßnahmen und diese haben teilweise noch Abstufungen, dass es für mich fast schon unverantwortlich ist, eine Umfrage auf diese 3 Antworten in einer Frage abzustumpfen. Außerdem lernt man sehr früh, wenn man eine Tendenz haben will, dass man eine gerade Anzahl von Antworten vorgibt, da Menschen sonst schnell dazu neigen, die Mitte zu wählen. Das zeigt auch diese Umfrage wieder mal, dass ein ähnlich hoher Anteil komplett für Verschärfungen oder Lockerungen ist, aber der Großteil sich in die Mitte einbettet. Von daher hat diese Umfrage für mich nahezu keinen Wert um auf eine Stimmung zu schließen.

Leider werden in solchen Umfragen nur Wahlberechtigte berücksichtigt. Gerade Menschen unter 18 Jahren leiden unter dem „Lockdown“. Was wäre den wenn man die auch mal Fragen würde wie die so die Maßnahmen finden?

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Sehr guter Punkt! Die Frage, wer gar nicht befragt wird, öffnet noch mal ein ganz neues Problemfeld. Neben Minderjährigen betrifft das häufig Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, aber teilweise auch Menschen ohne Festnetzanschluss (ja, auch 2021 noch).

Bzw. wieder. Ich kenne ein paar Menschen, die keinen Festnetzanschluss haben, weil sie ihn nicht mehr brauchen und stattdessen nur noch mit dem Handy telefonieren.

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Wer schließt denn auch heutzutage noch nen Festnetzvertrag ab? Kenne keinen Studenten in meiner Bubble der einen Festnetzanschluss nutzt oder hat.

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Ich stimme allen Vorrednern zu, dass Umfragen problematisch zu berwerten sind. Die Argumente finde ich sehr interessant. Allerdings ging es ja z.B. in der Lage 233 um die Frage, warum Politiker die Umfragen nicht zur Kenntniss nehmen. Auch wenn ich dem Ambivalenz-Argument zustimme, kann ich mit reinem Gewissen aus dem Umfrageergebnissen ich eine breite Ablehung von Maßnahmen nicht belegen.

Der entscheidende Punkt ist, aber, dass das die Öffnungsbefürworter (seien es Interessenverter oder Politiker) immer wieder eine Ablehnung der Maßnahmen bei der Bevölkerungsmehrheit lautstark behaupten. Das ist mir bei den morgendlichen Interviews im Deutschlandfunk immer wieder aufgefalllen. Klar sind wir alle Maßnahmenmüde. Aber lehnt die Mehrheit das ab? Ich finde eigentlich keine Stütze für diese Behauptung. Auch wenn die Umfragen mit Festnetztelefonen durchgeführt werden (ich wieß gar nicht, ob das noch so ist) und ambivalente Ergebnisse zeigen, kann man aus der Schwäche der Umfrage nicht im Umkehrschluss argumentieren, dass die Bevölkerungsmehrheit die Maßnahmen ablehne. Leider wird im Deutschlandfunk bei dieser immer wiederkeherenden Argumentationsfigur nicht nachgehakt.

Mir persönlich scheint da ein Gerhardt Schröder zugeschriebener Satz als Erklärung für diese angebliche Mehrheitsmeinung (also Ablehung) noch am plausibelsten: Er brauche zum Regieren nur BAMS und Glotze. Von Umfragen war da nicht die Rede. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Philip in der Lage 233 mit „Mediengewitter“ so ähnlich argumentiert.

BTW: an die Lage: Vielen, vielen dank für Eure Analyse in der Lage 233 am Ende. Das hat mir sehr gut gefallen. ich finde es immer wieder interessant, wenn Ihr die Steine zusammensetzt.

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