Ich empfand die Darstellung der Gegenpositionen in der Lockdown Diskussion wenig geschickt. Es passiert generell schnell, dass nur auf die lautesten und irrationalsten Aspekte eingegangen wird. Ulf und Philip, die ich sowieso sehr schätze, waren hierbei besser als viele. Trotzdem fehlte mir hierbei etwas.
Ich selbst bin als Oberarzt in einer Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie tätig, was meinen Blick eventuell etwas verzerren mag. Ich denke aber, dass es nicht sinnvoll sein kann als Ziel einer Politik Inzidenzwerte oder Todesfälle durch eine bestimmte Erkrankung zu verwenden. Gibt man einem solchen Aspekt das Primat in der Entscheidung von so komplexen und schwerwiegenden Fragestellungen, ist nahezu vorprogrammiert, dass man irgendwann den Blick für andere Aspekte verliert.
Was also tun? Ich will ja nicht nur meckern ohne eine Alternative vorzuschlagen.
In der Medizin wird oft mit sogenannten qualitätskorrigierten Lebensjahren oder QALY gearbeitet. Ein QALY von 1 bedeutet ein Jahr in voller Gesundheit. Wenn wir also unsere Ziele der Pandemiepolitik darauf auslegen möglichst wenig Verlust an QALY zu haben, so sind offen dafür Aspekte einfließen zu lassen die über direkte COVID Folgen hinausgehen.
Dies könnte z.B. konkret bedeuten, dass das vorzeitige Ableben eines Covid Patienten 5 Jahre vor seiner biologisch zu erwarteten Lebenszeit ein Verlust von 5 QALY sind. Wenn ein Grundschulkind in einer sozial benachteiligten Familie Gewalt durch Überforderung der Lehrer erlebt und dadurch Folgen in seiner psychosozialen Gesundheit über 7 weitere Lebensjahrzente erfährt die seine Lebensqualität um 10% einschränken, so wären dies 7 QALY [Massiv vereinfacht]. Wenn wir also „Leben schützen“ wollen, so müsste der Schüler mehr zählen als der Verstorbene. Wenn man nun extrapoliert und angemessene Modellrechnungen zu den Schluss kämen, dass selbst hunderttausende verstorbene unter Covid nicht den selben Verlust an QALY hätten wie die zu erwarteten Folgen bei Schulschließungen, dann könnte das heißen, dass EGAL wie hoch die Inzidenz ist, die Schule offen bleiben muss. Ob das so der Fall ist vermag ich natürlich nicht zu sagen. Aber entsprechende Studien könnte man in Auftrag geben und fördern. Aktuell gibt es dafür aber keinen Anreiz, da NUR die Covid Fälle zählen.
Diese Art zu rechnen mag kalt wirken. Und niemandem der seinen Vater, Ehemann oder Kind verliert will ich damit absprechend dass dieser Mensch ihm wichtiger sein darf als alle Anderen. Aber die Politik hat eine Verantwortung für alle und sollte sich hier entsprechend utilitaristisch verhalten.
Was denkt ihr dazu?
Nur um meine Position nicht falsch wirken zu lassen. Ich habe im direkten Bekanntenkreis schwer betroffene Covid-19 Kranke. Auch wenn ich selbst als mitte 30 jähriger statistisch nicht schwer erkranken würde, sorge ich mich um Spätfolgen der Infektion mit Fatigue, Konzentrationsschwäche usw. Ich würde vom Bauchgefühl her sagen, dass auch bei Betrachtung der QALY ein harter Lockdown mit zeitlicher Begrenzung besser wäre. Aber die psychischen Folgen insbesondere der Kinder mit Leid das über ein Leben lang Folgen haben kann und wird besorgt mich. Wenn man finden sollte dass eine Schließung von Kita und Schule usw. am meisten QALY schützt, würde ich dahinter stehen und dies auch vertreten. Wenn aber immer nur mit den direkten Toten durch Covid argumentiert wird finde ich das zum kotzen.
Das Beispiel in der Sendung dass man bei der (absurden) Idee der Herdenimmunität hunderttausende Tote in Kaufnehmen würde und dies undenkbar sei, fällt meiner Meinung nach in diese Falle. Wir nehmen ständig Tote in Kauf in der Güterabwägung zu anderen Aspekten. (Wirtschaft vs. klima, Unfalltote vs. Mobilität, Herzerkrankungen vs. „freie Wahl“ beim Essen usw. usf.) Das soll kein Whataboutism werden und daher sind mir die anderen Beispiele für die hiesige Diskussion nicht so wichtig.
Ich würde mir von Ulf und Philip wünschen, dass sie noch klarer verdeutlichen, dass jede Strategie Leben kosten wird. Egal ob harter Lockdown, freie Fahrt für Corona oder was auch immer. Und dazu gehört, dass man auch den Verlust an Lebensqualität und nicht nur direkte Todesopfer zählt.