Schön, dass ihr die Seite der Kritiker:innen der Maßnahmen behandelt habt. Und ich gebe euch Recht, dass ein kürzerer und härterer Lockdown im September im Nachhinein wahrscheinlich intelligenter gewesen wäre. Aber wie ihr die Skeptiker:innen der NoCovid-Strategie so schnell als abwegig abstempelt, entzieht sich meinem Verständnis.
Ihr sprecht davon, dass die Gruppe um Melanie Brinkmann die „Mehrheitsmeinung der Wissenschaft“ sei. Aber was ist zum Beispiel mit Klaus Stöhr, lange Zeit als SARS-Forschungskoordinator für die WHO und einen Pharmakonzern tätig, weltweit anerkannter Epidemiologe und Virologe. Klaus Stöhr behauptet, dass wir mit einer Inzidenz von ca. 130-160 über einen gewissen Zeitraum leben können. (Virologe fordert Umdenken der Corona-Strategie: „Wir können mit Inzidenzen von 130 bis 160 umgehen“ - Politik - Tagesspiegel) In Frankreich akzeptiert man momentan auch recht hohe Werte, um Schulen und Geschäfte offen zu halten und man kommt nicht in exponentielles Wachstum, sondern bleibt auf einem hohen Plateau. (Der Öffnungsplan von Schleswig-Holstein ist also nicht so komplett abwegig wie von euch dargestellt.) Außerdem gibt es nicht die eine Mehrheitsmeinung der Wissenschaft, denn dazu gehören auch Expert:innen, die die Schäden des Lockdowns in anderen Bereichen berechnen und daraus Konsequenzen ziehen müssen. (Stichwort Schulen, denn zum Beispiel Kinder sind weiteren Gesundheitsrisiken ausgesetzt, wenn der Lockdown zu lange andauert. Auch Kinder-Psychiatrien droht eine „Triage“, wenn zu viele Kinder mit Verhaltensstörungen Hilfe brauchen und diese nicht mehr bekommen können…)
Klaus Stöhr findet, dass sich die Bundesregierung nicht ausgewogen genug beraten lässt:
„In den Expertenrunden sollten möglichst viele Disziplinen vertreten sein. Jeder Einzelne hat nur seine Position im Blick. Wenn ich einen Intensivmediziner frage, wird er aus seiner Sicht so viele Schließungen als möglich verlangen. Ein Kinderarzt wird so viele Öffnungen als möglich verlangen.“ (Virologe: „Corona ist auf dem Rückzug“)
Dass eine Mehrheit der Bevölkerung für strikte(re) Maßnahmen ist, ist nicht verwunderlich, denn 1. sind sie seit einem Jahr von einer Medien-Berichterstattung beeinflusst, die die Pandemie als DIE eine große Bedrohung unserer Zeit darstellt (was natürlich auch irgendwo der Job von Journalist:innen ist, aber über die Ausgewogenheit könnte man an anderer Stelle streiten…). Und 2. spüren die allermeisten Menschen ja nicht die schlimmsten Folgen des Lockdowns am eigenen Leib. Selbständige, Kneipen- oder Café-Besitzer, Unternehmer:innen, die schmerzhaft ihre Existenz verlieren, usw. gehören eben nur zu einer Minderheit. Und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt sind, Geflüchtete und viele andere Gruppen haben sowieso keine große Lobby…
Zuletzt frage ich: Wo ist der Beleg dafür, dass ein ganz harter Lockdown funktioniert, dass dann wirklich die Inzidenz auf 35 oder sogar unter 5-10 gehen kann? (die Pandemiemüdigkeit sieht man doch, wenn man in Berlin mal mit der fast immer vollen S-Bahn fährt…) Und falls man das dann wirklich schafft im April oder so, wieso sollte die Inzidenz nicht jedes Mal nach Lockerungen wieder durch die Decke gehen? Im Sommer waren wir ja schon in manchen Regionen nahe der 0 und trotz weiter bestehender Maßnahmen wie Maskenpflicht gingen die Zahlen nicht erst im Winter, sondern bereits im Herbst durch die Decke.