Gibt es wirklich einen Fachkräftemangel?

Ab wann sprechen wir von einer Fachkraft?
Fehlen uns faktisch die Menschen dahinter, oder fehlen den vorhandenen Arbeitskräften die nötigen Qualifikationen?

Zum Thema

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Ich arbeite im Öffentlichen Dienst in München. Hier gibt es sehr viele offene Stellen im Bereich T-VL E6, zu denen auch die Sekretariate gehören, die nicht mehr besetzt werden können. Wer auf einer E6 einsteigt, bekommt im ersten Jahr auf einer 100% Stelle 1823.92€ Netto, ab dem zweiten 1942.24€. Eine Wohnung ist hier nicht mehr unter 1000€ zu bekommen und dann kommen die Neben-, und Lebenserhaltungskosten ja noch dazu. Ich kenne Leute, die solche Jobs nicht mehr machen und trotz ihrer Qualifikation (abgeschlossene kaufmännische Ausbildung) in der Gastro als Kellner*innen arbeiten, weil sie da mit Trinkgeld, Zuschlägen für Feiertage und Wochenenden mittlerweile besser da stehen.

Ich bin selber grade wieder auf Jobsuche (nicht zwingenderweise im OD) und merke, dass auf den besser bezahlten Stellen ab E13 die Konkurrenz sehr wohl da ist und es nicht so einfach ist, eine von diesen Stellen zu ergattern. Das ist natürlich nur mein subjektiver Eindruck in meinem Arbeitsbereich in dieser Stadt, aber ich denke auch, dass es den Personalmangel in erster Linie bei den schlechtbezahlten Jobs gibt und nicht bei den Guten. Da gibt’s noch genug Auswahl.

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Aktuelle relevante Meldung: Bundesagentur für Arbeit: Fachkräfte in jedem sechsten Beruf knapp | tagesschau.de
Und ein Link zur BA dazu: Engpassanalyse - Statistik der Bundesagentur für Arbeit
Unten sind die Indikatoren erklärt. Inflation und Mindestlohnerhöhung scheinen beim letzten Indikator (Entwicklung mittlere Entgelte) nicht berücksichtigt zu werden. Damit steht imo die These, dass die Gehaltsvorstellungen der Arbeitgeber oft nicht stimmen, noch immer im Raum.

Die Pflege ist mmn. unattraktiv geworden weil viele Tätigkeiten die „früher“ durch Ersatzdienstleistende erledigt wurden, jetzt von Fachkräften gemacht werden müssen die dadurch überhaupt nicht mehr wissen wie schnell sie zur nächsten Aufgabe rennen sollen. Dazu kommt, dass viele Ersatzdienstler durch ihren Dienst den Einstieg in den Beruf gefunden haben. Im Rettungsdienst sieht das nicht anders aus, früher sind Zivis einen großen Teil der anfallenden Krankentransporte gefahren - nicht weil die so schön billig waren, sondern in erster Linie weil man überhaupt nicht genug Kräfte generieren konnte und kann die bereit sind eine lange, teure und doch recht anspruchsvolle Ausbildung zu durchlaufen um dann etwas besseres Taxi zu spielen.
Mein Fazit: Berufe wie die Pflege müssen definitiv besser bezahlt werden und es muss anerkannt werden, dass es dort einfach Aufgaben gibt, mit denen man Fachkräfte nicht verheizen kann. Mmn lässt sich das Problem im Gesundheitswesen, wenn wir (hoffentlich Konsens) keine Billiglöhner wollen die ihren Lebensunterhalt nicht vernünftig bestreiten und zwangsläufig in eine Altersarmut laufen, nur mit einem Pflichtdienst lösen.

Man sollte halt einfach anfangen die Dienste dann eben wieder zu trennen.

Ich kann mir durchaus vorstellen dass man z.B. bei Krankentransport einfach nur Kraftfahrer braucht die in einer Schnellbesohlung ein etwas erweiterten 1. Hilfe Lehrgang bekommen.

Den z.B. der Transportdienst zur Dialyse hat eh gar nicht die Möglichkeiten eines RTW. (Brauchen sie auch nicht)

Ähnliche Trennung von Diensten ließe sich sicher auch in der Pflege machen.

Und dann wird es schon ein Unterschied ob man (für ihre Aufgaben) gut bezahlte Hilfskräfte sucht oder wirkliche Fachkräfte die dann ja aber auch teurer sind als die Hilfskräfte.

Wollen wir denn primär billige Hilfskräfte? Oder auch billige Fachkräfte? Ist es dann nicht ein Eigentor, wenn wir aus einer Hilfskraft durch Qualifizierung eine Fachkraft machen?

Solche Beispiele gibt es in allen Bereichen. Auch als dringend benötigte Fachkraft (z.B. Ingenieure) ist das Problem, dass die Stellen, die nicht besetzt werden können, in der Regel einfach deutlich unter dem Durchschnitt der Branche liegen was Bezahlung und Arbeitsbedingungen betrifft. Fachkräftemangel trifft daher immer die Betriebe und Branchen, die am schlechtesten zahlen. Da kann man natürlich als Staat oder als Gewerkschafter sagen: „Tja, selbst Schuld!“, aber das Problem ist, dass diese Jobs mit schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen auch durchaus im systemrelevanten Bereich liegen. Nicht selten ist es die öffentliche Hand, die die schlechteste Bezahlung anbietet und deshalb kein Personal findet.

Ich stimme da größtenteils zu. Aber, bei dem Thema „Die Bezahlung ist so schlecht“, darf man auch die Abgabenquote in DE nicht vergessen. Arbeitgeber zahlen nicht unbedingt weniger bzw. sogar mehr für ihre Mitarbeiter als in unseren Nachbarstaaten. Bei den Arbeitnehmern kommt aber verhältnismäßig wenig an. Das ist natürlich gerade bei den höher qualifizierten Jobs von Bedeutung. Hier sind andere Staaten alleine aufgrund der Abgabenbelastung schon attraktiver.

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Da muss man aber berücksichtigen, dass manches, wie ausreichende Krankenversorgung, in manchen anderen Staaten privat versichert werden muss.
Das berücksichtigt steht eine Familie mit zwei Kindern in der OECD-Studie (Stand 2020) gar nicht so schlecht da.
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/185987/umfrage/steuer-und-sozialabgaben-nach-laendern/
|Türkei| 38,2%|
|Frankreich| 37,9%|
|Schweden| 37,5%|
|Griechenland| 37,1%|
|Finnland| 36,7%|
|Italien| 36,4%|
|Belgien| 34,9%|
|Spanien| 33,9%|
|Deutschland| 32,9%|
|Norwegen| 32,2%|
|Österreich| 32%|
Edit: das sind natürlich Länder, die auch eine Sozialversorgung bieten. Großbritannien mit seinem kaputten NHS steht bei 26,4% und damit knapp über den Durchschnitt von 24,4%.

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Die Frage ist wer ist „wir“? Ich als Teil einer Gesellschaft finde das Fachkräfte adequat bezahlt werden sollten, bzw. deutlich besser bezahlt werden müssen als eine ungelernte Hilfskraft. Die Menschen, die dann unter den gestiegen Kosten leiden, werden als Antwort vermutlich sagen, die Fachkräfte sollen so billig wie möglich arbeiten. Arbeitgeber werden sich ebenfalls möglichst billiges Personal wünschen, da sie dann einen höheren Profit machen. Mich würde die Antwort auf die Frage interessieren, wie wir (als Staat und Gesellschaft) in diese Schieflage geraten sind, dass Jobs der früheren Mittelschicht überhaupt nicht mehr reichen um in einer Stadt leben und Miete zahlen zu können und wer davon eigentlich profitiert, aber das würde jetzt sehr weg gehen von der ursprünglich gestellten Frage dieses Posts. Ich finde aber, das man beides nicht komplett voneinander getrennt betrachten sollte, da es ja da eine Wechselwirkung gibt. Und wenn es um die Jobs beim Staat geht, wird der Markt auch nichts regeln. Ich fürchte, es wird sich erst dann etwas ändern, wenn die Einrichtungen kurz vorm Kollaps stehen.

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Oh, die Antwort würde vermutlich sehr lang (und sicher sehr kontrovers). Ich will mal ein paar Stichpunkte liefern:

  • Entmachtung der Gewerkschaft. Wodurch eigentlich? Zum Teil sicher selbst verschuldet,
  • Hintertreibung der Tarifautonomie, z.B. Tarifverträge mit arbeitgebernahen „Christliche Gewerkschaften“)
  • Globalisierung: Outsourcing in Länder mit kooperativen Kostenvorteilen
  • Fehlende bzw. inkompetente Industriepolitik, um die Branchen, die hier komparative Vorteile gehabt hätten, zu sichern
  • der hoher Anteil un- und semi-kompetenter Unternehmer im Mittelstand, die so Margen- und daher Eigenkapitalschwach sind, dass sie entweder unangemessen niedrige Löhne zahlen oder dicht machen können
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Etwas polemisch aber 2-3 Beispiele aus meinem Umfeld.

  • Beschweren über Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, Mindestlöhne zahlen, selber Porsche fahren. (Sparte: Sozialwesen sowie Einzelhandel)

  • Personalabbau und Lohndumping in der Industrie bei den Leuten, die „die Arbeit“ (Schicht/Außendienst beim Kunden) machen bei gleichzeitiger Schaffung neuer Posten im mittleren Management und Erhöhung der Boni ab den Jobs mit 120k aufwärts Jahresgehalt. Auch hier die Beschwerde man findet keine guten Mitarbeiter. (Sparte: größeres IT Unternehmen)

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Ich würde gern noch eine Überregulierung in manchen Bereichen hinzufügen. In Deutschland (oder Europa) geht viel mehr Arbeitszeit für unproduktive Arbeit drauf als nötig. Genannt seien Prüfverfahren, der Umgang mit Datenerfassung und Verarbeitung, das Erstellen und befolgen hyperkomplexer Regelungen (hier sei auf die Regeln zur Berechnung des Ausgleichsenergiepreis verwiesen - ein Regelwerk mit deutlich über 100 Seiten).

Diese unproduktive Arbeit will auch bezahlt werden und beschert uns so Wettbewerbsnachteile.

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Ich würde das Argument gerne etwas mehr beleuchten, denn kann es nicht sein, dass die meisten Arbeitgeber gar nicht die Möglichkeit haben höhere Löhne zu bezahlen?

Ich würde es mir sehr wünschen, aber wenn ich es für meinen Arbeitgeber, ein schwäbischer Weltkonzern mit weit über 100.000 Mitarbeitern durchspiele, dann geht es nicht auf.

Fachkräftemangel haben wir noch nicht, aber die Anzahl geeigneter Bewerber nimmt auch bei uns ab. Unser Standort ist mindestens eine Stunde weg von jeder Großstadt entfernt, aber trotzdem konnten wir vor 10 Jahren bei Stellenbesetzungen unter mehreren Duzend qualifizierten Bewerbern wählen.
Bei der letzten Nachbesetzung im November gab es nur drei Bewerber die wir kennenlernen wollten.

Wir bezahlen nach IG-Metall Tarifvertrag. Alle Ingenieure je nach Stelleneingruppierung EG15, oder EG16 mit 15% Leistungszulage. Ausnahmslos. Wir können keinem Bewerber mehr bieten, ohne den Tarif für alle anzupassen. Einem Ingenieur 100k zu geben wäre möglich, aber allen? Vermutlich nicht.

Was können wir also tun, bzw. was tun wir?

  • Wir bieten Remote an.
  • Wir ermöglichen Workcation (Homeoffice bis zu 1 Monat im Jahr im EU Ausland).
  • Arbeitnehmer kann zwischen MacOS, Windows und Linux wählen.
  • Die initiale Eingruppierung erfolgt normalerweise 3 Stufen unter Stelleneingruppierung mit 10% Leistungszulage. Hier kann man je nach Berufserfahrung und Selbstvermarktung auch weiter oben einsteigen.

Aber was wird unsere Konzernleitung entscheiden, wenn es wirklich mal an Bewerbern mangelt wird? Da wir Entwicklungsabteilungen über den Globus verteilt haben, wird man neue Stellen wohl eher in low cost Locations aufbauen und nicht in Deutschland.

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Möglicherweise ist das der Knackpunkt. Wir machen einerseits die Arbeit relativ teuer in Deutschland (mit der Sicherheit eines komplexen Sozialsystems), die Kosten für die Arbeitgeber/Unternehmen sind damit generell hoch und steigen; und die Personalkosten sind dabei eine Möglichkeit Kosten zu senken.
Die Arbeitnehmer leiden aber ebenso unter steigenden Ausgaben, und sind auf adäquate Löhne angewiesen, Verzicht bzw sparen ist oft kaum signifikant möglich.

Fachkräfte suchen dann natürlich nach der für sie lukrativsten Arbeitsvariante, und Unternehmen nach Sparmöglichkeiten ggf im Ausland.

Schwierig

Ein Single schon, da hat Deutschland mit 49 % die zweithöchste Steuer- und Abgabenquote (ibid.)

Ja, das ist leider bitter. Wir Singles haben nicht unbedingt eine Lobby und das Grundgesetz gibt dem Gesetzgeber recht, das die Familie als besonders schützenswert erachtet. Aus Sicht des Arbeitgebers spielt es aber keine Rolle, ob die KV-Abgaben einer Person oder einer ganzen Familie zugute kommen. Und man muss auch berücksichtigen, dass der kinderlose Single weniger Probleme hat, etwas mehr zu arbeiten, als der Familienvater.

Zur Liste von @TilRq will ich auch noch einen Punkt hinzufügen:
Die geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt in Rente gehen. Die sorgten gepaart mit der Frauenrechtsbewegung für einen zwischenzeitlich starken Arbeitnehmerzuwachs. Das nahm den Druck auf die Arbeitgeber um Arbeitnehmer sich zu bemühen. Das ist ja auch ein wichtiger Grund, warum es sich gerade so verschiebt.

Zustimmung, aber mit Vorsicht: Mit dem Framing „Überregulierung“ versuchen Libertäre auch gern, möglichst viel Regulierung zurückzudrängen (das unterstelle ich Dir, @pitus, nicht!). Aber sehr viel Regulierung ist sehr vernünftig.

Beispiel: Viele Handwerksunternehmer (die auch nicht alle libertär sind) regen sich sehr über die Berufsgenossenschaft auf, weil die auf die Sicherheitsbelehrung von Mitarbeiter sowie deren Dokumentation dringen. Diese Vorgaben sind aber m.E. ein wesentlicher Grund, warum es in Deutschland vergleichsweise wenige Arbeitsunfälle gibt.

Weiteres Beispiel: Der Ganze Aufwand um die DSGVO herum. Da wird viel Bürokratie erzeugt, die in dem Umfang nach meinem gar nicht vom Gesetz oder der Rechtsprechung gefordert wird, sondern nur gemacht wird, weil viele die DSGVO nicht verstehen und lieber mal „auf Nummer sicher“ gehen. Der Satz „Datenschutz, dürfen wir leider nicht“ ist wahrscheinlich der am missbräuchlichsten verwendete Satz und beruht auf Unkenntnis oder ist schlicht eine Ausrede für Faulheit (oder weil man die Wahrheit („will ich nicht“) nicht sagen möchte). Ansonsten: Ja, die DSGVO macht Arbeit, die manchmal total nervt. Aber eben sehr sinnvoll ist.

Beispiel: Arbeitszeiterfassung. Man kann sich all den Kram wie Arbeitszeitgesetz und Mindestlohn sparen, wenn das nicht kontrollierbar ist.

usw.

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ok, aus dem weitere Verlauf können wir also ergänzen … und ich habe noch einen:

  • wirklich überflüssige Überregulierung
  • Lohn- und Gehaltsnebenkosten (Sozialversicherungssystem, Teilfinanzierung über die Arbeitgeber)
  • Rückgang der Geburtenrate
  • weit verbreitete latente Xenophobie (Ablehnung von Immigration, kein eigener Beitrag zur Integration)