Gibt es wirklich einen Fachkräftemangel?

Hallo Lage der Nation,

ich frage mich manchmal ob es wirklich den sog. Fachkräftemangel gibt. Ich denke die Lage ist etwas anders. Was es gibt ist ein Mangel an Mitarbeitern die eine Beschäftigung mit unterdurchschnittlicher Bezahlung antreten. Gerade im Bereich Gesundheit und Pflege. Warum sollte man unter diesen Konditionen so einen Job antreten. Auch aus dem Bereich Elektronik Ingenieure habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht. Richtige Bezahlung ist immer ein Thema. Daher frage ich mich wirklich ob es den Fachkräftemangel wirklich gibt oder ob das einfach ein hausgemachtes Problem der schlechten Bezahlung ist. Ich meinte das Thema ist bei LdN schon mal angesprochen worden. In den letzten Folgen wurde aber nur noch über „Fachkräftemangel“ gesprochen. Vielleicht kann man das Thema durchaus nochmal aufbereiten.

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Das ist alles eine Definitionsfrage.

Wenn wir den akuten Fachkräftemangel so definieren, dass wir die vorhandenen Stellen mit vorhandenen Qualifikationen abgleichen und es dem Arbeitgeber überlassen, zu bestimmen, ob die Qualifikation die Stelle abdeckt, haben wir einen eindeutigen Fachkräftemangel.

Wenn wir den chronischen Fachkräftemangel so definieren, dass das vorhandene Personalpotential des Landes nicht genügt, um zukünftig alle Arbeiten in allen Qualifikationsstufen zu bewältigen, kommt es auf viele Faktoren an: Wie viel Arbeit kann automatisiert werden? Können wir unser Personalpotential optimieren? Sind wir bereit, in Zukunft in bestimmten Bereichen Abstriche zu machen (z.B. vollautomatisierte Supermärkte, teilautomatisierte Pflege —> weniger menschlicher Kontakt. Oder natürlich eine Anhebung des Renteneintrittsalters…)?

Die Antwort auf den chronischen Fachkräftemangel dürfte davon abhängen, ob wir von Prognosen basierend auf aktuellen Entwicklungen ausgehen (also Trendfortschreibungen) oder von Prognosen basierend auf maßgeblichen gesellschaftlichen und politisch-rechtlichen Änderungen. Deutschland wäre zweifellos auch mit 40 Mio Einwohnern noch „lebensfähig“, aber das Leben und vor allem der Wohlstand würde darunter natürlich leiden.

Die Wahrheit dürfte letztlich irgendwo in der Mitte liegen, wie meistens. Ganz ohne Zuwanderung wird es - bei den aktuellen Geburtenraten - wohl nicht gehen, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Aber ich sehe hier auch das Problem, dass Fachzuwanderung der „easy way out“ ist - es ist einfacher, Fachkräfte aus anderen Ländern abzuwerben, als dafür zu sorgen, dass „schwere Fälle“ in unserer Gesellschaft zu Fachkräften werden. Und das kann natürlich auch kritisiert werden. Ich denke daher auch, dass die Prioritätenfolge sein sollte, zuerst alles zu tun, unser eigenes Arbeitskräftepotential maximal effektiv auszunutzen, bevor wir Fachkräfte aus anderen Ländern abwerben. Aber letztlich wird es beides brauchen: Zuwanderung und bessere Qualifizierung!

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Aus meiner Erfahrung: auch Fachberufe wie Augenoptiker, Hörakustiker, Podologen, IT-Systemelektroniker oder Phydiorherapeuten werden stark und teils lange gesucht. Sind keine Hilfstärigkeiten, auch nicht unterdurchscvnittlich bezahlt.

Das stimmt, wobei man ganz klar sagen kann, dass in jedem Bereich gilt:
Die Arbeitgeber, die ihren Bedarf nicht gedeckt bekommen, sind in der Regel diejenigen, die schlechte Arbeitsbedingungen liefern oder schlecht bezahlen.

In fast jedem Beruf gibt es „gute Stellen“ und „schlechte Stellen“ - bei einem Fachkräftemangel entwickelt sich zwangsläufig die Situation, dass der Arbeitnehmer sich „den Job aussuchen kann“, daher die guten Jobs stark umkämpft sind, die schlechten Jobs hingegen niemand machen will.

Als Bilanzbuchhalter kann ich da immer wieder die Steuerberatung anführen. Gute Jobs in der Bilanzbuchhaltung mit teils sechsstelligen Gehältern werden problemlos von hoch-qualifizierten Bilanzbuchhaltern ausgefüllt, da hat kein Arbeitgeber ein Problem, Personal zu finden. Die schlechtesten Jobs der Branche hingegen - und das ist meiner Erfahrung nach die Steuerberatung - sind fast unmöglich zu besetzen. Mein letzter Chef hat Jahre lang händeringend versucht, einen zweiten Bilanzbuchhalter oder zumindest einen Steuerfachwirt zu finden, aber einfach keine Chance gehabt, weil die freie Wirtschaft deutlich höhere Löhne (bei deutlich weniger stressiger Tätigkeit) zahlt wie die Steuerberatung…

Solche Beispiele gibt es in allen Bereichen. Auch als dringend benötigte Fachkraft (z.B. Ingenieure) ist das Problem, dass die Stellen, die nicht besetzt werden können, in der Regel einfach deutlich unter dem Durchschnitt der Branche liegen was Bezahlung und Arbeitsbedingungen betrifft. Fachkräftemangel trifft daher immer die Betriebe und Branchen, die am schlechtesten zahlen. Da kann man natürlich als Staat oder als Gewerkschafter sagen: „Tja, selbst Schuld!“, aber das Problem ist, dass diese Jobs mit schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen auch durchaus im systemrelevanten Bereich liegen. Nicht selten ist es die öffentliche Hand, die die schlechteste Bezahlung anbietet und deshalb kein Personal findet.

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Zum Thema:

In der Formel kommen aber ebenfalls die Lohn- bzw Kostenerwartungen ins Spiel. Wenn die Fachkräfte da sind, aber der Arbeitgeber nicht so viel zahlen möchte, wie von den Fachkräften erwartet wird, herrscht für den Arbeitgeber dennoch ein Mangel?

Es gibt sehr wenige Ausbildungsstellen die für die meisten Personen überhaupt in Frage kommen. Die meisten werden nicht vergütet oder kosten sogar etwas. In der Regel gibt es nur eine Ausbildungsstelle pro Großstadt, mit vermutlich 10-30 Azubis pro Jahrgang, die auch vergütet werden und dort einen Platz zu kriegen ist wiederum schwierig. Also wenn Physios wirklich gesucht werden ist das Problem definitiv hausgemacht.

Ja, so ist es. In der Regel schulische Ausbildung, weitgehend ohne Vergütung. In NRW zahlt das Land das Schulgeld. Erste Träger zahlen schon eine Ausbildungsvergütung. Logopäden und Ergotherapeuten nicht anders.
Wir brauchen diese Fachkräfte, machen es ihnen aber so schwer wie möglich. Obwohl die Ausbildung schon schwer genug ist, viel weiter sind viele Mediziner auch nicht.

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Zudem unterstellt man denhenigen, die im sozialen Bereich oder in der Pflege tätig sind, die nachen das ja „weil sie Spass daran“ haben.
Daher muss man da auch nicht soviel zahlen.
Idealismus wird in unserem Wirtschaftssystem sehr konsequent ausgebeutwt, leider.
Krude Logik

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Fachkräftemangel herrscht, wenn Arbeitgeber eine Stelle für eine Fachkraft nicht besetzen kann, weil es keine entsprechend qualifizierten Bewerber gibt.

Kein Fachkräftemangel herrscht, wenn Arbeitgeber eine Stelle für eine Fachkraft nicht besetzen kann, obwohl es entsprechend qualifizierte Bewerber gibt, die aber zu den angebotenen Konditionen keine Arbeit aufnehmen möchten.

Letzteres kommt zwar in Deutschland häufig vor. Aber die Fachkräfte finden dann b bei einem anderen Arbeitgeber eine in ihren Augen angemessen bezahlte Tätigkeit.

Bei der Agentur für Arbeit sind arbeitsfähige und arbeitswilligen Fachkräfte, wenn überhaupt, nur ganz kurz gemeldet.

Trotzdem sind sehr viele Stellen für Fachkräfte unbesetzt.

Ich bin z.B. sehr viel um Handwerk und in der Bauwirtschaft unterwegs. Auch, wenn aktuell der Neubau ziemlich eingebrochen ist, sagen mir alle Handwerks- und Bauunternehmer: Mein Umsatz wird nur durch mein Personal limitiert. Ich muss viele Aufträge einfach ablehnen. Könnte ich mehr Personal einstellen, würde ich sofort mehr Aufträge annehmen können.

=> Es herrscht Fachkräftemangel.

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Auch zum Thema:

Gerade in der Pflege würde ich aber schwer darauf tippen das die Bezahlung der Hauptgrund ist. Die Konditionen müssen gerade in diesem Bereich wirklich unterirdisch sein.

Von dem, was ich aus der Branche höre, sind es gar nicht so sehr die Gehälter, sondern die Arbeitsbedingungen, die durch die massive Unterbesetzung entstehen.

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Das Ausbildungsgehalt ist in der Pflege schon angehoben worden, da geht es schon im ersten Jahr bei rund 1000€ los.
Aber die Arbeitsbedingungen sind schon hart, psychisch wie körperlich, bei ständig knappem Personal.
Und auch in der pflege geht es um gewinnorientiertes Arbeiten…viel Druck…

Da „Fachkräfte“ ja generell Menschen mit einer abgeschlossenen Ausbildung meint, ist ein Mangel vermutlich nur in gewissen Fachbereichen vorhanden. In meinem Bereich, der IT, kann man sicherlich von einem Mangel sprechen. Ob das z.B. in der Verwaltung, Buchhaltung oder dem Vertrieb auch so ist müsste eigentlich einzeln geprüft werden.

Dass der Mangel jetzt nur wegen schlechter Bezahlung entstanden ist halte ich für zu simplifiziert. Ansehen, Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten etc spielen sicherlich auch überall eine Rolle. Auch dass man ja mit dem Bologna-Prozess mehr Menschen zu einem Hochschulabschluss gebracht hat, erhöht in vielen Bereichen den Fachkräftemangel.

Die Gehälter sind sicher auch ein Thema, insbesondere vor diesem Hintergrund:

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Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass die Diagnose Fachkräftemangel hier verhalten infrage gestellt wird. Wer sich fragt, ob sich das Thema wirklich nur um Zukunftssorgen für Deutschland dreht, oder ob dabei nicht vielleicht doch noch andere Interessenslagen eine Rolle spielen, dem kann ich einen älteren Artikel des Gegenstandpunkts empfehlen. Viele dort genannte Argumente sind verblüffend aktuell.

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Dass gerade bei dem Engagement der Industrie- und Handelskammern und Arbeitgeberverbände für mehr Migration nicht „Menschenliebe“ im Vordergrund steht, sondern eher die Interessen der Industrie an günstigen Arbeitskräften, ist denke ich offensichtlich.

Aus Arbeitgebersicht will man natürlich einen weiten Pool an potenziellen Arbeitskräften haben, desto mehr Arbeitnehmer um die gleiche Stelle konkurrieren, umso besser ist es für den Arbeitgeber. Das daher auch andere Interessen mitschwingen, ist kaum zu bestreiten. Die Frage ist, inwiefern diese Interessen die Prognosen bezüglich der benötigten Einwanderung beeinflussen.

Das wär schön, wa :smiley:

Gerade wenn man um dieses Interesse weiß, ist es doch folgerichtig, die von dieser Seite vorgetragene Notwendigkeit eben auf Richtigkeit zu überprüfen. „Benötigt“ werden die Arbeitskräfte wofür genau? Und handelt es sich dabei dann um ein gemeinsames Interesse von uns allen, oder meldet dort die Arbeitgeberseite gegenüber dem Staat ihren Wunsch nach (und Anspruch auf) günstige Arbeitskräfte an?
Falls das in der Folge geschehen ist, habe ich es wohl überhört. Stattdessen erinnere ich mich an den Fachkräftemangel als Faktum, dass er ja offensichtlich da sei, weil viele offene Stellen, und überhaupt sieht man ja. Ebenso, dass „wir“ die Menschen brauchen, weil „uns“ ja sonst der Laden vor die Wand fährt.

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Zu den Ausführungen von @BrewSwillis möchte ich noch folgendes beisteuern:

Viele Arbeitgeber haben es auch versäumt, selber den notwendigen Nachwuchs auszubilden. Hier wird dann zwar schnell darauf verwiesen, dass es auch dafür zu wenige Bewerber gab, aber genauso kann man argumentieren dass viele Ausbildungen seit langer Zeit einen schlechten Ruf haben, insbesondere im Handwerk, wo heute oft noch Sitten wie vor 50 Jahren herschen, was Bezahlung, Qualität der Ausbildung und Behandlung der Azubis angeht.
Man hat es jahrzehntelang selber verbockt, und nun wird gejammert um günstig in anderen Ländern Ausgebildete anzuwerben. Um weiter die Löhne und den eigenen Invest in den Nachwchs niedrig zu halten.

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Wir suchen ja auch immer Auszubildende der IT-Berufe.
Wenn ich sehe, wer sich da bewirbt, ist es kein Wunder, dass es Fachkräftemangel gibt.

Als Prüfer bei der IHK sehe ich dasselbe, viele Ergebnisse werden immer schlechter neben den immer noch vorhandenen sehr guten Abschlüssen.

Man könnte natürlich Schulnoten, Prüfungen generell einfach abschaffen. Aber das hochgelobte duale System in Deutschland wäre dann am Ende.

Und der Arbeitgeber kann die Kandidaten gar nicht mehr objektiv beurteilen.

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