Seit wir mit Corona leben wird nicht nur die Kritik an der Politik inhaltlich deutlicher, sondern auch der Ton zunehmend schriller. Leider stelle ich das auch in der LdN fest. Gefühlt ist die deutsche, die europäische Coronapolitik ein einziges Versagen auf der gesamten Linie.
Jede Bewegung der Bundesregierung und der Ministerpräsidenten wird nicht mehr nur kritisch begleitet, sondern mehr oder weniger in der Luft zerrissen - und zwar jede.
Ein gutes Beispiel ist die Aussetzung der Impfungen mit AstraZeneca Impfstoff für ein paar Tage:
Ihr - wobei in der Vehemenz nur Ulf - sagt, dass es ein Fehler war, die Impfungen auszusetzen und damit mögliche Menschenleben zu opfern aufgrund einer um wenige Tage verschobenen Impfung. Ihr fordert schon immer von der Politik Transparenz und Offenheit, Klarheit in der Kommunikation. Jetzt haben wir einen Impfstoff, der aus welch Gründen auch immer, in der Diskussion stand und steht, dann werden - was in der Tat absehbar war - noch unerkannte Folgen der Impfung erkannt, da ist ein ganz klarer Punkt für Offenheit und Klarheit, die Impfungen kurzzeitig auszusetzen.
Die daraus folgende Unterstellung, die Politik sei mal wieder zu doof, etwas richtig zu machen - sie habe ja lediglich die wenigen Verstorbenen ins Verhältnis zu setzen, zu denen die möglicherweise sterben würden wegen der verschobenen Impfung, ist meiner Auffassung nach unverantwortlich. Hier werden Tote gegen mögliche Tote aufgerechnet (Darf der Soldat das Flugzeug abschießen, das in ein volles Stadion gesteuert wird?).
Im Grunde genommen ist das die Essenz der Dauerkritik an den politischen Maßnahmen zu Corona-Pandemie: die Politik trifft nur falsche Entscheidungen, die zu vielen Toten führen, weil sie die einfachen und klaren Lösungen nicht findet und anwendet. Dann sprecht aber doch den Satz aus, der daraus folgt und der ein abgewandeltes Zitat ist: Politiker sind Mörder. Und das in allen demokratischen Ländern der Europäischen Union.
Da sitzen also in allen Ländern unfähige Frauen und Männer an den Schalthebeln der Macht, die täglich, wöchentlich, monatlich Entscheidungen treffen, die für weitere Toten führen, die die Staatsfinanzen weiter ruinieren, die für viele mit unerträglichen sozialen und psychologischen Folgen einhergeht.
Ulf - du echauffierst dich sehr gerne über mangelnde Verantwortung im politischen Betrieb. Glaubst Du ernsthaft, dass all den politischen EntscheidungsträgerInnen egal ist, welche Folgen ihre Entscheidungen haben, dass sie diese leichtfertig oder aus Bequemlichkeit heraus treffen oder nur weil sie eine Wahl vor der Türe haben? Dann sind wir wieder bei dem Mörder-Satz.
Mir missfallen auch viele Dinge, aber in einem fehlt mir in manchen Bereichen die Expertise, in anderen eine ausreichende Datenlage zur Analyse - deswegen kritisiere ich, aber mache das nicht in einem zunehmend absolutistischen Ton, wie ich ihn bei der LdN gehäuft höre. Einfache Lösungen gibt es nicht! Nebenbei - einfach mal öfter die Inzidenzkurven Deutschlands mit denen anderer europäischer Länder vergleichen und zusätzlich die Corona-Maßnahmen in anderen Ländern mit denen bei uns nebeneinander legen, dann finde ich, dass wir als Gesellschaft (das umschließt auch die Politik) es ganz gut angestellt haben bisher.
Um nochmal auf den Punkt zu kommen - Abwägung Tote durch Nebenwirkung vs mögliche Tote durch ausgebliebene Impfung. Ich bin schon länger der Meinung, dass wir nicht nur ständig die unmittelbaren Folgen durch die Infektion als Entscheidungskriterium für unser Vorgehen in der Pandemie heranziehen sollten, sondern dass wir weiter denken müssen.
Wir müssen den Kollateralschaden, der durch (langanhaltende) Coronamaßnahmen entsteht, herausfinden und bewerten. Nach meiner Kenntnis sind die Anzahl der Toten durch Feinstaub, eine statistische Größe, ebenso wie durch Lärmbelastung u.ä. - so gibt es unterschiedliche Lebenserwartungen je nach Wohnlage, Arbeitsplatz - und aus all dem lässt sich zuverlässig errechnen, wieviele (Menschen-)Lebensjahre in der Summe der Gesellschaft verloren gehen.
Bei einer Analyse der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima hat man folgendes herausgefunden(Quelle: Deutschlandfunk Podcast „Lehren aus Fukushima“ vom 07.03.2021):
Die Lebenserwartung der Evakuierten ist teils drastisch gesunken (Tschernobyl um 7 Jahre) und die Opferzahlen durch Evakuierung und Folgen der sozialen Isolation (weg von zuhause) waren höher als die durch den jeweiligen Reaktorunfall.
Und nun haben wir Kinder, die mehr oder weniger seit einem Jahr nur unregelmäßig in die Schule gehen, Freunde treffen oder gar Sport treiben können - die seit fast vier Monaten einfach nur zuhause sind - das soll keine Folgen haben?
Wir können als Gesellschaft keinen Sport treiben - welche Folge hat das für die gesamte Gesundheit der Menschen?
Wir haben viele alte Menschen, die auch seit Monaten fast niemanden mehr gesehen haben, die Angst haben vor die Türe zu gehen. In Fukushima sind innerhalb der ersten zwei Jahre nach dem Unglück evakuierte 2688 Menschen gestorben, bei denen eindeutig die soziale Isolation als Todesursache festgestellt wurde - 90% waren älter als 66 Jahre.
Muss es nicht darum gehen, die Erhaltung des menschlichen Lebens insgesamt zu betrachten und zu bewerten? Wie eben Ulf es bei der Abschätzung über die Impfaussetzung implizit gemacht hat?
Im Frühjahr 2020 war es unerlässlich, dem Rat der Virologen zu folgen - heute müssen wir viel mehr einbeziehen und eilt dann auch zu unbequemen Maßnahmen kommen. Und ich befürchte leider, dass wir Lebensjahre der heutigen Generationen kaufen und die Währung ist Lebenszeit zukünftiger Generationen - uns das weltweit und der Preis steigt mit jedem Tag, in dem wir die Pandemie nicht unter Kontrolle bekommen.
Und vielleicht kommen wir zu der bitteren Erkenntnis, dass wir 12 Mio Schülern ein Jahr Lebenserwartung nehmen, dass wir zig Mio älteren Menschen durch Einengung Ihrer Kontakte mehr Lebenszeit nehmen, als es ein Corona-Risiko gab/gibt.
Machen wir dann die Schulen auf und riskieren vielleicht 10-20.000 zusätzliche Tote um den Preis von 12 Mio Lebensjahren der jetzigen Schülergeneration. Schließe ich alte Menschen weg und untersage ihnen Kontakte mit der Folge, dass sie an Vereinsamung sterben, die nicht im Totenschein steht
Bin ich moralisch besser, wenn ich nicht sehe, wie die Kugel einschlägt, die ich abgefeuert habe.
Soviel zu Poltikbashing und alle in der Politik in der Verantwortung stehenden machen seit einem Jahr nichts richtig.
Marc