Fehlen einer Störfaktor freien Pandemie-Messgröße

Hallo,

das kann man wahrscheinlich nicht der Bundesregierung anlasten, da ich hierzu noch von nirgendwo etwas gehört habe, aber wieso gibt es keine Messgröße, die unabhängig von gemachten Tests, Positivrate und anderen „Störfaktoren“ ist?

Ich bin wahrlich kein Querdenker und äußerst unzufrieden mit der Nicht-Reaktion der Landes- und Bundesregierung, aber man muss kein Experte sein um festzustellen, dass die Inzidenz von 50 in der ersten Welle etwas anderes war als es eine 50er Inzidenz heute wäre.

„Reale“ Werte, wie Hospitalisierungsrate und Todesfälle sind ja nicht als Früh-Indikator geeignet… Einzige Idee die ich hätte, wäre eine repräsentative Stichprobe. Oder irgendwelche Schätzmodelle, die Stichproben, Inzidenz, Positivquote und Teststrategie verheiratet, um die Dunkelziffer herauszurechnen…

Weiß da jemand, ob es sowas gibt oder warum es sowas nicht gibt?

VG

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Ich denke an sich schon, dass das möglich ist, über die Positivrate und andere Faktoren die Dunkelziffer abzuschätzen und das reale Infektionsgeschehen zu extrapolieren, aber das wird wahrscheinlich 'n komplexeres Modell sein, für das man immer die tagesaktuellen Zahlen zur Positivrate, Verhaltensmuster etc. benötigt. Ich schätze mal, dass diese Abschätzung letztendlich aber doch etwas schwieriger ist und Faktoren wie angestrebte Teststrategie und das Verhalten des Menschen schlicht zu ungenau und schlecht quantifizierbar sind. Aber das taz-Interview mit dem Dirk Brockmann namens „Der Knackpunkt ist der Mensch“ ist sehr hilfreich, da erklärt er das nochmal besser als das was ich mir zusammen gereimt habe :smile: Ansonsten gibt’s auch das SIRD-Modell zur Infektionsdynamik (Karl-Heinz Trödter von der Goethe-Uni Frankfurt), da wird die Dunkelziffer auch diskutiert, aber das ist schon richtig tief in der mathematischen Modellierung, also nicht so leichte Kost :sweat_smile:

Es kommt wahrscheinlich sehr darauf an, was du mit einer Pandemie-Messgröße erreichen möchtest. Wenn eine Überlastung der Gesundheitsämter das relevante Kriterium für die Pandemiebekämpfung ist und dies eine Pandemie-Messgröße abbilden soll, was noch letzten Sommer der Fall war, ist die Inzidenz als alleiniger Parameter schon eine gute Herangehensweise.

Wenn man jedoch die allgemeine pandemische Lage bewerten möchte und eine Pandemiebekämpfung bei höherer Inzidenz „anstrebt“, ist die Inzidenz - wie du schon sagst - als alleiniger Parameter aufgrund der Störanfälligkeit nicht geeignet. Wenn es konkret um Früh-Indikatoren geht, sind daher eher Parameter geeignet, die mit der Ableitung der Inzidenz skalieren (z.B. R-Wert, wöchentlicher Inzidenzänderung, Verdopplungszeiten etc.). Diese werden u.a. von Malte Kreutzfeld und Prof. Christian Fries auf Twitter täglich bewertet und dabei auch Störeinflüsse auf diese Messgrößen diskutiert. Hier übrigens ein Thread, der erklärt, wieso der vom RKI im Sitationsbericht veröffentlichte R-Wert Mumpitz ist.

Gute Frage! Grundsätzlich würde ich sagen hilft nur messen, messen, messen, und zwar mit Plan!
Modelle sind etwas grundsätzlich anderes als gemessene Werte, das sie erstens sehr stark von den zugrunde gelegten Annahmen abhängig sind und zweitens zwangsläufig vereinfachen müssen, d.h. für ein Modell sind z. B. alle Schulen oder alle Supermärkte gleich - was in der Realität einfach nicht der Fall ist. Z. B. müsste nach dem bekannten Modell der TU Berlin, auf dem auch die Prognose mit einer 2000er-Inzidenz im Mai basiert, theoretisch bei jedem Supermarktbesuch von einer Stunde Dauer jede Infizierte Person genau eine andere anstecken. Das kann man machen, wenn man mal etwas überschlagen will, aber es sagt einem einfach nichts über das tatsächlich Infektionsgeschehen.
Das beste Mittel sind einfach Kohortenstudien, also die langfristig regelmäßige Untersuchung eines repräsentativen Ausschnitts der Gesamtbevölkerung, so wie es beispielsweise in UK gemacht wird. Ich habe leider bis heute nirgendwo eine Begründung gelesen, warum es das nicht schon längst gibt. Selbst bei der vom RKI vor fast einem Jahr angekündigten bundesweiten Antiköprer-Studie wuden m. W. bis heute keine Ergebnisse veröffentlicht. Damit wüsste man zumindest mal, ob 2-, 4- oder 6-mal so viele Menschen infiziert waren wie offiziell getestet wurden.
Ein Vorschlag, trotz fehlender Kohortenstudien zu einem aussagekräftigeren Wert als der 7-Tage-Inzidenz zu kommen, wurde in diesem Thesenpapier im November gemacht. Dort heißt es:

Zwei neue Steuerungsinstrumente werden vorgeschlagen, die angesichts fehlender Kohorten-Studien auf die Melderate zwar nicht verzichten können, diesen fehleranfälligen Wert jedoch durch andere Parameter aussagekräftiger machen.Der neu entwickelte notification index NI beschreibt die Dynamik der Entwicklung auf nationaler oder regionaler Ebene. Er setzt die Melderate (M „x Fälle/100.000 Einwohner“) und die Rate positiver Testbefunde (T+) zur Testhäufigkeit (Tn) und zu einem einfachen Heterogenitätsmarker (H) in Bezug und erlaubt es, den Bias z.B. durch die Testverfügbarkeit oder durch das Auftreten eines einzelnen großen Clusters auszugleichen. Der zweite Index (Hospitalisierungs-Index HI) beschreibt die Belastung des Gesundheitssystems in einer Region und berechnet sich als Produkt von NI und der Hospitalisierungsrate.

Durch die Kombination der Meldeinzidenz mit Anzahl und Positivquote der Tests hat man schon mal eine größere Vergleichbarbeit im langfristigen Vergleich. Der „Heterogenitätsmarker“ soll erfassen, welchen Anteil klar eingrenzbare Ausbrüche (z. B. in einem Altenheim) an der Gesamtinzidenz haben.
Ergänzend dazu wurde ja inzwischen auch vorgeschlagen, die Meldeinzidenz der über 50-Jährigen gesondert zu berücksichtigen (ggf. ebenfalls kombiniert mit Testanzahl und Positivenrate), da diese frühzeitige(re) Schlüsse auf die zu erwartende Hospitalisierungsquote zulässt.
Ein grundsätzliches Problem bleibt, dass ein aggregierter Wert (also für ein Bundesland oder gar einen gesamten Staat) eigentlich nur wenig Sinn ergibt, weil das Infektionsgeschehen einfach regional und sogar lokal sehr unterschiedlich ist.

Die Diskussion gab es so ähnlich schon in einem anderen Thread, auch zur Frage von repräsentativen Stichproben:

Und auch zur ‚Inzidenz‘ gibt es eine aktuelle Diskussion:

Hier noch eine Antwort von Dirk Brockmann zu dieser Thematik:

Infektionsmodellierer Dirk Brockmann (RKI) - Jung & Naiv: Folge 503 - YouTube (ab 2:22:21)

Falls ihr ein wenig Zeit mitbringt, kann ich euch auch das gesamte Video empfehlen (er redet sehr langsam, sodass 2x Geschwindigkeit kein Problem ist :wink: ).

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Zur Debatte passt auch ein Papier der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Statistik (DAGStat), das eine einheitliche, systematische und transparente Erfassung von Daten sowie Transparenz bei der Bezugnahme u.a. auf Modelle fordert: https://www.dagstat.de/fileadmin/dagstat/documents/DAGStat_Covid_Stellungnahme.pdf

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