Interessanter Beitrag, ist mir in dieser Form noch nicht begegnet. Offenbar erlaubt die aktuelle Corona-Verordnung von Baden-Württemberg diese Möglichkeit, wobei das IfSG sich ausdrücklich auf die RKI-Werte bezieht. Hier sehe ich einen möglichen Konflikt in der Verordnung. Allerdings handelt es sich bei „Diffusität“ auch um einen unbestimmten Begriff, sodass nicht ersichtlich wird, was genau damit gemeint ist. Müsste man mal in die Begründung schauen… Das heißt aber auch, dass jedes Gesundheitsamt in BW diese Entscheidung so treffen kann. Soweit mir bekannt ist, beinhalten die jeweiligen Corona(schutz-)Verordnungen der Länder einen direkten Hinweis, auf welche Inzidenzwerte man sich bezieht, z. B. die des RKI, was die Regel sein müsste.
Für Sachsen kann man beispielsweise zeigen, dass die Inzidenz des RKI fast immer regelhaft geringer ist als die, die die Landkreise und kreisfreien Städte angeben (vgl. „Neuinfektionen der letzten 7 Tage (Inzidenz)“). Und das ist schon seit Monaten so…
Aus meiner Sicht ist es überhaupt keine gute Idee, den Inzidenzwert als alleinigen Indikator für die Entwicklung der Pandemie zu bewerten – es sei denn, man einigt sich auf ein Berechnungsverfahren und die dazugehörige Datengrundlage. Interessant ist auch, das nur nebenbei bemerkt, dass auf einmal gefühlt alle von ‚Inzidenz‘ sprechen, während es im letzten Jahr häufiger noch ‚Fallzahl(en)‘ war(en)… Bemerkenswerte Diskursverschiebung (die natürlich auch durch § 28a IfSG bedingt ist).
Die Gründe dafür, dass ‚Inzidenz‘ kein guter Indikator ist, in Kurzfassung:
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Der Inzidenzwert ist zunächst nichts anderes als eine Standardisierung/Transformation (was den Vergleich einfacher machen soll) von Fällen auf eine bestimmte Anzahl von Einwohnern/-innen (üblich sind auch Angaben gerechnet auf eine Million) – Die Variablen, die ich beeinflussen kann, sind also: Anzahl der Einwohner/innen, Anzahl der Fälle
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Es ist zunächst zu klären, woher ich die Daten beziehe, auf die sich die Anzahl der Einwohner/innen bezieht: Kommen diese eventuell aus dem Statistischen Landesämtern, aus dem Einwohnermelderegister, gar aus dem Zensus? In der Vergangenheit wurde sehr deutlich, dass schon diese Datengrundlage in den verschiedenen Ländern und Kreisen nicht einheitlich angewendet wird und es somit zwangsläufig große Schwankungen des Inzidenzwerts gibt und geben muss.
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Anzahl der Fälle: Hier ist eine der entscheidenden Fragen, auf welches Datum ich mich beziehe – Meldedatum, Übermittlungsdatum, Erkrankungsdatum? All diese Verfahren zur Fallermittlung werden in Deutschland angewendet! Durch die vielen Meldeketten (z. B. Gesundheitsamt > Landesuntersuchungsanstalten/Landesämter für Gesundheit > ggf. Landesministerium > RKI) kommt es natürlich ebenfalls zu Verzögerungen. Das Meldedatum ist ungleich dem Übermittlungsdatum. Eine sehr gute Beschreibung gibt es hier für Rheinland-Pfalz:
Corona: Hinweise zur Berechnung der 7-Tage-Inzidenz
Anmerkung aus den Fallzahlen zu Sachsen (Link beim MDR): „Anmerkung zu abweichenden RKI-Werten: Während wir mit den Zahlen des Meldetages rechnen, berechnet das RKI den Inzidenzwert mit dem Erkrankungstag. Außerdem werden beim RKI die Zahlen der Neuinfektionen vom Vortag sieben Tage zurück gerechnet.“
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Die Inzidenz (= Neuerkrankungsrate) gibt Auskunft über die Anzahl der Neuerkrankungen, die Prävalenz über bestehende Fälle. Konsequenterweise müsste man in die Berechnung des Inzidenzwerts alle Fälle abziehen, die nicht neu erkranken, also mutmaßlich die, die schon eine Infektion durchgemacht haben. Das ändert dann die Variable Einwohner/innen. Durch neuere Studien ist allerdings bekannt, dass die neu entdeckten Corona-Varianten (VOC) durchaus auch eine Mehrfachansteckung möglich machen. Insofern ist das Argument nicht ganz stichhaltig.
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Einfaches Rechenbeispiel: Habe ich in einer Gemeinde oder einem Kreis, der 5.000 Einwohner/innen hat, 7 Fälle am Tag, also insgesamt 49 in einer Woche, habe ich eine 7-Tage-Inzidenz auf 100.000 Einwohner von 980. Das ist ein statistischer Effekt, der aber den Vergleich nahezu sinnlos macht. Aus diesem Grund waren auch im Dezember ganz viele Kamerateams auf einmal im Erzgebirge und wollten unbedingt wissen, wie es den Menschen denn da so geht in den kleinen Gemeinden mit diesen hohen Inzidenzwerten. Ein absoluter Fail!
Dazu kann man sich hier die Werte mittlerweile auch aufgeschlüsselt auf Gemeindeebene anschauen (es führt nur nicht zu mehr Einsicht): Infektionsfälle in Sachsen - Coronavirus in Sachsen - sachsen.de
Aus diesen Gründen ist es total abwegig und überhaupt nicht zielführend, den Inzidenzwert in ein Gesetz zu schreiben und dazu noch Schwellenwerte zu definieren, an denen etwas passieren soll. Das würde schon eher gehen, wenn alle die gleiche Datengrundlage und das gleiche Berechnungsverfahren anwenden, dann lässt sich darüber diskutieren. Aber solange die Bundesländer nicht angehalten sind, sich an einem einheitlichen Standard zu orientieren und diesen in ihre Verordnungen zu schreiben, den ein Gesetz auf Bundesebene, etwa das IfSG, vorgibt, dann gute Nacht bzw. Augen zu und durch.
Ich würde mich freuen, wenn man mal in einer „Lage“ den Inzidenzwert problematisiert und auf diese Thematik auferksam macht, bzw. die jeweiligen Grundlagen der Berechnung und Datenerhebung erläutert. Das habe ich – bitte korrigiert mich – so noch nie in einer „Lage“ gehört, es wäre aus meiner Sicht allerdings sehr sinnvoll, um der teilweise sehr unreflektierten Verwendung (viel zu häufig leider auch in der Politik) des Inzidenzwerts mal etwas Differenziertes entgegenzustellen (@vieuxrenard/@philipbanse).