Nach zwanzig Jahren, die ich an diversen Wahlen teilgenommen habe, muss ich für mich feststellen, dass ich noch nie rundum zufrieden war, was mit Sicherheit auch daran liegen mag, dass den Großteil der Zeit die CDU den Kanzler gestellt hat.
Ich denke schon, dass mit der Politik unzufrieden zu sein ein relativ normaler Zustand ist. Unterschied zu früher ist die Erwartungshaltung, dass die Politik nun auf die eigenen Wünsche eingehen solle.
Dabei hat das auch ein Konrad Adenauer oder ein Helmut Kohl und ein Gerhard Schröder erst nicht für sinnvoll oder nötig erachtet.
Ich schlage ein Umbenennen dieses Threads in „Europawahl Grünen-Ergebnis“ vor
Ein Aspekt wurde noch nicht angesprochen, nämlich das die Grünen wohl auch „pazifistische“ Wähler verloren haben, die gegen Waffenlieferungen sind. Zitat:
Ich habe mich von den Grünen abgewendet, weil ich das Gefühl habe, dass die Grünen mit dem „Keine Waffen in Kriegsgebiete“ ziemlich gelogen haben. [Tagesthemen Minute 10:20]
Aber nun nach vorne blickend, was mache ich aus grüner Perspektive in der Koalition, um 2025 mein Ergebnis bei der Bundestagswahl zu halten?
Grüne Themen
- Wohlstand durch Klimaanpassung versprechen? Die Schweizer haben sich am Sonntag bei der Abstimmung zum Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien in einer Abwägung von Energiesicherheit vs. Naturschutz für die Energiesicherheit entschieden.
Das ist denke ich das einzige noch nicht stark verbrannte Thema, aber Geld für Projekte ist ja keines da. - Deutsche Migrationspolitik verteidigen, aber wie? Das ist kein mehrheitsfähiges Thema, aber 30% bis 40% der Wähler sind für eine pluralistische Gesellschaft
- Grüne Technologien wieder fördern, aber wie? Kein Geld da und Thema doch sehr verbrannt. E-Autos, Wärmepumpe, Solarindustrie in DE, … alles verkorkst.
- Schienenverkehr ausbauen? Kann man vergessen, selbst mit unendlich viel Geld wird es keine Auswirkung innerhalb des nächsten Jahres geben.
Ehemals grüne Themen
- Waffenlieferungen an die Ukraine weiter verteidigen und den Leuten immer wieder erklären, dass es hier um unsere eigene Sicherheit geht? Das scheint keine Wähler zu locken…
Ich bin ernüchtert, denn es ist für nichts Geld da und es gibt kaum Projekte die innerhalb von einem Jahr Strahlkraft entfalten könnten. Nicht mal mehr Naturkatastrophen bewegen die Menschen dazu Grün zu wählen.
Ich kann mich auch gerne an die eigene Nase fassen, denn hätte ich keine Kinder die passable Chancen haben Silvester 2099 zu feiern würde ich vermutlich auch nicht grün wählen…
Auch der Gaza-Konflikt könnte sie Stimmen gekostet haben. Vor allem bei jungen Wählern, oder?
Uff… also das macht die Union definitiv noch unsympathischer als eine „Verbotspartei“, die wenigstens indiskriminierend verbietet. Also eine Partei, die gegen die Interessen von Minderheiten mit Verboten vorgeht ist definitiv ein weit, weit größeres Problem als eine Partei, die sinnvolle Verbote z.B. zum Erreichen von Klimaschutzzielen fordert. Wobei ich hinterfragen würde, ob Cannabiskonsumenten wirklich keine „Masse an Privatpersonen“ sind.
Ich stimme hier @Flixbus zu, dass dieses Framing „Die Grünen sind eine Verbotspartei“ seitens Union und FDP reine Propaganda ist, auch FDP und Union arbeiten ständig mit Verboten, zuletzt erst ganz groß das Genderverbot… dieses Framing der Konservativen, dass alles, was sie verbieten, quasi „natürlich und damit gut“ ist, und alles, was Grüne oder SPD verbieten wollen, böse Verbotspolitik sei, sollten wir hier nicht reproduzieren.
Gendern war für mich nur ein Beispiel von vielen Dingen, wie sich die Grünen immer mehr von der Ökopartei entfernen, die ich einst gewählt habe. Und damit in meinen Augen von der Mehrheit der Gesellschaft, was ich schade finde, da eine starke Partei mit der Kernkompetenz Umwelt- und Naturschutz gebraucht wird.
Ich verlinke nachfolgend ein Interview von Boris Palmer, der bringt viele meiner Gedanken auf den Punkt. Der letzte Abschnitt des Interviews trifft meine Meinung zu 100%.
Wann wurde denn das Gendern von den Grünen speziell so thematisiert, wie du behauptest? Wer es möchte, macht es einfach. Ich habe das Thema Gendern in der Öffentlichkeit nur dann wahrgenommen, wenn von Union, BSW & Co dagegen gewettert oder es sogar verboten wurde.
Abtreibungen und Cannabiskonsum betreffen also nur kleine Randgruppen oder was ist die Aussage dahinter?
Auch mal witzig zu lesen, wenn auch älter
Hinsichtlich des Flops für die Grünen lasse ich mal das folgende Zitat aus der heutigen Ausgabe des Wall Street Journal hier:
Sehr pragmatisch und treffend ausgedrückt.
Also Boris Palmer ist für mich persönlich für die Grünen das, was Sahra Wagenknecht für die Linken war. Aber er scheint seine Zielgruppe zu haben - ebenso wie Wagenknecht. Dennoch: Ich teile die Meinung dieser beiden „gesellschaftlich konservativen“, die sich von ihren „gesellschaftlich liberalen“ Parteien abspalten, definitiv nicht.
Und gerade der letzte Satz, der deine Meinung zu 100% trifft, ist für mich ein klassisches Beispiel für eine rechte Querfront. Dieses Geschimpfe auf „Woke Culture“ sieht man sonst nur bei amerikanischen Republikanern oder deutschen Konservativen (und allem Rechts davon…).
Ja, wir brauchen eine starke ökologische Partei. Aber wir brauchen auch starke, progressive, sozialliberale Parteien (du siehst das vermutlich anders…). Und da unser System dank 5%-Hürde auf wenige Parteien beschränkt ist und die SPD die sozialliberal-progressive Nische definitiv nicht besetzt und die Linke leider nie als regierungsfähig erachtet wurde musste diese Nische nun einmal von den GRÜNEN gefüllt werden. Und auch wenn du das anders siehst: Das passt auch gut zusammen, eben weil die GRÜNEN zu einem großen Teil aus der linken Protestkultur der APO kommen.
Ich denke ein Problem der Grünen ist, dass Einzelstimmen von Hinterbänklern oder Menschen, die den Grünen zugerechnet werden, häufig mit deren Parteiführung und politischen Agieren vermengt werden.
Soll heißen, Menschen die sich sonst für die Grünen einsetzen, halten ein leidenschaftliches Plädoyer für das Gendern und das kommt beim gegnerischen Tribe so an als sei es Habeck selbst, der das Gendern per Dekret erzwingen will.
Daher ist das Problem vielleicht weniger bei den führenden Grünen zu suchen, sondern bei Aktivisten, die wenig kompromissbereit für eine Position einstehen und damit die gesamte Bewegung in Verruf bringen. Wir kennen diesen Mechanismus von linken Demos, die vom schwarzen Block in Verruf gebracht werden.
Helfen kann hier nur mehr Disziplin und Weitblick im Dienste der gemeinsamen Sache. Dank Asozial Media schätze ich die Chance darauf auf genau 0%.
Abgesehen davon, dass „ein leidenschaftliches Plädoyer“ oder „wenig kompromissbereit für eine Sache einstehen“ etwas vollkommen anderes ist, als etwas „per Dekret erzwingen“ zu wollen: Wenn Leute nicht auseinanderhalten können, wenn X etwas sagt und das dann Y zuschreiben, kann man das wohl kaum den Grünen anlasten. Vielleicht hat das dann einfach mehr mit einem Anti-Grünen-Diskurs zu, der in den letzten zwei Jahren in sehr unterschiedlichen politischen Milieus sehr gut verfing und der u. a. das Narrativ gängig gemacht hat, „die Grünen“ würden ständig nur über Themen wie „Gendersprache“ reden.
Ich bekomme sicher dafür gleich mächtig Gegenwind, aber ich fand Palmers pragmatische Art oft sehr erfrischend, auch wenn er manchmal einen bewusst aneckenden Stil pflegt.
Vor allem in der Corona-Krise war das für mich offensichtlich. Während Palmer Wege suchte, Lösungen zu finden um Dinge zu ermöglichen, hat seine Partei ebenso wie die Ampel stets vor allem betont was und warum alles nicht geht.
Erinnert sich noch jemand an das Tübinger Schnelltestprojekt? Letztlich wurde das Projekt von Spahn eingestellt, nach dem unter anderem Lauterbach mit seiner Fanbase sehr lautstark auf die große Gefahr fehlerhaft durchgeführter Tests hinwies. Später räumte Lauterbach dann ein, dass er den Effekt der Schnelltests unterschätzte und man das Projekt hätte doch laufen lassen können.
Auch heute noch nehme ich ähnliches Denken wahr. Statt ein Ziel in den Boden zu rammen und gemeinsam zu erörtern wie man es erreicht, konzentrieren sich alle großen Parteien (sowohl Regierung als auch Opposition) darauf zu erklären, warum aus ihrer Parteisicht Idee x von Partei y nicht geht und sei es weil ein problematisches Wort verwendet oder ein Partikularinteresse nicht berücksichtigt wurde. Ich denke da beispielsweise an Wohnungsbauprojekte in mir bekannten Großstädten, die von Koalitionspartnern aus vorgeschoben Gründen (Bsp enthalten Kritik in Form von zu wenige/viele Sozialwohnungen, Umweltschutz, Kleingartenbesitzer müssten enteignet werden, die Häuser würden mir die Sicht aufs freie Feld verstellen, Verlust von Ackerflächen) blockiert werden.
Unsere aktuelle Politelite betreibt vor allem destruktive Debatten. Da geht es (in der Aushandlungsphase einer Idee) meines Erachtens mehr darum, die eigene Klientel happy zu machen.
Wenn die das im Kompromiss nicht wiederfindet, braucht man sich über Verdruss nicht mehr wundern. Würden Unternehmen so arbeiten, sie würden binnen weniger Jahre pleite.
Da ist schon was dran.
Die naive Erwartung an Politik wäre ja, das alle gewählten Volksvertreter das Wohl Deutschlands und seiner Bürger im Einklang mit den Partnern in Europa und der Welt verfolgen.
Tatsächlich drängt sich subtil gelegentlich der Gedanke auf, das es einzelnen (?) doch eher um persönliche Macht und um die unbedingte Diskreditierung der politischen Gegner geht, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Allgemeinheit.
Aber nur gelegentlich….
Hängt das aber einfach nur mit einem allgemeinem Egoismus und einer Ich-Bezogenheit unserer Gesellschaft zusammen, wo das eigene Wohl über dem der Allgemeinheit steht, wo kein Verzicht oder Kompromiss mehr akzeptiert wird?
Sind somit unsere Politikvertreter nicht einfach nur ein Spiegelbild unserer Gesellschaft?
Mal als erklärende These?
War da nicht Spahn Gesundheitsminister?
Vor allem hat diese Partei durchgewunken, was eine CDU-dominierte Regierung mit Abstimmung von überwiegend Unions-Landesministern beschlossen hat.
So ein Verhalten ist in einer Extremsituation auch nachvollziehbar.
Dass bei den Grünen Aussage und Forderungen von Teilen der Basis, von Anhängern aber auch von beliebigen Aktivisten die man mit den Grünen in einen Topf wirft das Bild, das sich viele von den Grünen machen mitträgt ist kein neues Phänomen.
Zum Teil sind die Grünen auch selbst schuld, z.B. in der Kommunalpolitik wo man teils gegen Projekte agiert die z.B. für Verkehrswende oder Energiewende von der Partei auf Bundesebene befürwortet werden.
Oder weil man sich auch mit einer Parteispitze die vorwiegend Realpolitik betreibt nicht richtig von Extrempositionen von Teilen der Parteibasis distanziert.
Aber natürlich haben auch die Kampagnen gegen grün damit zu tun.
Der AfD dagegen gelingt das Gegenteil. Obwohl Meinungen die als Rechtsextrem gelten können fest verankert sind wird das von vielen Wählern als Ausnahme gesehen und Leute die durchaus die EU befürworten reden das Risiko eines Dexit unter der AfD klein. Man macht sich also die Partei wie man sie gerne hätte.
Ich muss aber sagen, dass ich auch nicht sagen könnte was die Grünen machen können um diesen Effekt dauerhaft abzustellen. Interviews mit Baerbock und Habbeck waren und sind ja stets sehr klar.
Toller Bürgermeister, der leider - grade bei Themen, die (weit) außerhalb seiner Kompetenz liegen - Gelegenheiten auslässt, den Mund zu halten.
Das ist aber eine Strohmann-Konstruktion, oder hatte ich geschrieben, dass bessere Kenntnisse automatisch zu größerer Zufriedenheit führen würden? Man kann sehr gut begründet unzufrieden mit der aktuellen Politik sein. Ich verstehe selbstverständlich einen großen Teil der Politik nicht (großes Interesse + Fachstudium erhöhen eher die bekannten Unbekannten, als die bekannten Bekannten ). Nur stört mich die undifferenzierte, kindische Ebene in weiten Teilen der Kritik und die daraus erwachsenden, gefährlichen Konsequenzen. AfD-wählen weil einen „die anderen Parteien alle enttäuscht haben“ ist so ein typisches Beispiel. Sehr oft begegnen mir in Diskussionen Menschen, die eine oder mehrere Knaller-Thesen in den Raum werfen (die Kennern bestimmter Kabarett-Programme oder Politiker-Reden vage vertraut erscheinen), dafür kein konkretes Argument haben und bei der ersten Nachfrage entweder alles in sich zusammen fällt oder ins große Ganze oder ein anderes Thema gesprungen wird. Einfachste technische Fragen schon zur (von den meisten als wichtigste Wahl betrachtete) Bundestagswahl können 2/3 der Wählenden seit Ewigkeiten nicht korrekt beantworten: pollytix-Umfrage offenbart Wissenslücken zum Wahlsystem - pollytix | strategic research Auf so einer Grundlage kaufen die wenigsten einen neuen Rasenmäher, aber für eine Wahlentscheidung reicht es.
Die schwerwiegenden Lücken bei grundlegenden Sachinformationen ziehen sich dabei durch bis zu denen, die Sowi an Schulen unterrichten sollten: „Hierzu haben wir einen eigenen Wissenstest
mit 15 Fragen zu Politik und Wirtschaft konstruiert. Die Ergebnisse zeigen, dass fast die
Hälfte der befragten Referendar(inn)en (45%) und etwas mehr als die Hälfte der befragten
Studierenden (54%) unseren Wissenstest mit 5 oder mehr falschen Antworten absolvierten.
Dabei konzentrierten sich die Wissensdefizite v.a. auf unsere Fragen zum politischen Bereich,
die im Durchschnitt deutlich häufiger falsch beantwortet wurden als unsere Fragen zum
ökonomischen Bereich.“ (Hippe, Hedktke 2011) Schon älter, aber ich würde einen Kasten Bier wetten, dass das nicht besser geworden ist.
Mir geht es doch um Folgendes, Boris Palmer ist offenbar für breite Teile der Gesellschaft mehrheitsfähig. Er gewann die letzte Bürgermeisterwahl in Tübingen als parteiloser Kandidat (trotz grüner Gegenkandidatin) im ersten Wahlgang mit über 52%.
Und er hat, vor allem auch was den ökologischen Umbau der Stadt Tübingen angeht, für mich große Erfolge vorzuweisen.
Diese Mehrheitsfähigkeit haben die Grünen meiner Meinung nach ein Stück weit wegen ihres Politikansatzes jenseits der Klima- und Umweltpolitik verloren.
Kommunalpolitik und Bundespolitik unterscheiden sich aber auch grundlegend.
Gerade kommunal ist pragmatisches Handeln einer der Grundpfeiler einer erfolgreichen Politik.
Hier geht es aber auch nicht darum allgemeine Regeln aufzustellen die so langfristig Bestand haben sollten, sondern darum im Rahmen gegebener Regeln und Systeme bestmögliche Lösungen zu finden.
Ich glaube nicht, dass ein Heizungsgesetz unter Palmer am Ende wirklich gut geworden wäre. Vielleicht wären solche Köpfe hilfreich um mehr pragmatische Ideen reinzubringen, aber als führende Politiker kann ich mir das nicht vorstellen.