Das finde ich schon eine sehr eigenwillige Interpretation: In der NATO-Russland-Grundakte verpflichteten sich NATO und Russland, die Souveränität aller Staaten zu achten. Zudem erkannte Russland explizit an, dass es kein Vetorecht gegen die NATO-Mitgliedschaft anderer Länder hat. Das wurde später als Zustimmung Russlands zur NATO-Osterweiterung interpretiert.
In den „Verträgsentwürfen“ von Putin von Ende 2021 forderte Russland hingegen eine Rückabwicklung der NATO-Osteerweiterung. Die Osteuropa-Experrin Sabine Fischer schreibt dazu:
Im Kern geht es in den beiden Vorlagen darum, in Europa eine russische und eine amerikanische Einflusszone zu errichten. Washington und die anderen Nato-Mitglieder sollen sich verpflichten, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Zudem soll das Bündnis seine militärische Infrastruktur auf den Stand von 1997 zurückbauen, also noch vor den Erweiterungsrunden 1999 und 2004. Und die USA müssten ihre Atomwaffen aus Europa abziehen. Würden die Vertragsentwürfe in ihrer jetzigen Form umgesetzt, entstünde aus russischer Perspektive eine sicherheitspolitische Pufferzone auf dem östlichen Nato-Territorium und nicht etwa entlang der Außengrenzen der Nato. Die Staaten in Moskaus unmittelbarer Nachbarschaft könnten nicht mehr mit westlicher Unterstützung rechnen. Russische Gegenangebote gibt es dafür nicht. [Quelle]
Zu Mearsheimer: Ich finde den Grundansatz des Realismus ja durchaus überzeugend, aber ich fand es auch frappierend, mit welcher Arroganz er jegliche anderen Erklärungsansätze für Putins Handeln beiseite wischt und dabei immer wieder offenbart, dass er vom konkreten Fall einfach keine Ahnung hat. Schon der Hinweis, dass der DLF das Interview einem Faktencheck unterzogen hat und dass Mearsheimer diesen an mindestens einem Punkt nicht bestanden hat, spricht Bände. Unter anderem bestreitet Mearsheimer, dass Putin in einem längeren pseudowissenschaftlichen Artikel von 2021 die Existenz einer ukrainischen Nation negiert hat [Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern – Wikipedia]
Noch ein Beispiel: Mearsheimer argumentiert, dass es angesichts von nur 200.000 Soldaten im Februar 2022 absurd wäre, anzunehmen, Putin habe die gesamte Ukraine erobern wollen. Das nimmt er dass mehr oder weniger als Beweis dafür, dass es Putin gar nicht im imperialistische Ziele gehe. Was er weglässt: Natürlich wollte Putin nicht mit 200.000 Soldaten das komplette Territorium der Ukraine erobern. Er wollte damit halt „nur“ Kyjiw erobern, die gewählte Regierung des Landes ermorden und ein Marionettenregime installieren. Und das entspricht genau seinem imperialistischen Ziel, die Existenz einer von Russland unabhängigen Ukraine zu beenden.