Sicherlich gibt es „die westlichen Medien“. Dass es sich um eine komplexe Medienlandschaft über verschiedene Sprachräume verteilt handelt, unbenommen. Auch das darin enthaltene Meinungsspektrum widerspricht nicht der Existenz von Konsensnarrativen und dominanten Narrativen.
Meine Wahrnehmung ist natürlich beschränkt, ich denke nicht, dass sie mich daran hindert die großen Erzähllinien zu identifizieren. Mein Verständnis beruht hier spezifisch auf einer Fundierung in der Theorie der Medienwirkung, die in der Rezeption aufbauenden Erzählungen eine zentrale Rolle zuschreibt gerade bei Rezipienten, die nicht über vertieftes Domänenwissen verfügen.
Nehmen wir doch einfach mal das Medium, dem wir die Existenz dieses Forums verdanken. So hat Philip Banse in Folge 275 zusammengefasst, was die akute Lage ist:
[…] bevor wir da in die Details gehen, muss man sich das glaube ich nochmal vor Augen halten, Ulf, Russland schickt sich an in einen anderen Staat, einen unabhängigen von allen anerkannten Staat einfach einzumarschieren, weil […]
Ich denke - und wenn er das liest, mag er mich korrigieren - hier wird nicht eine eigene Einschätzung wiedergegeben, sondern das dominante mediale Narrativ. Der bevorstehende russische Einmarsch ist über einen weiten Bereich der Medienlandschaft Konsens. Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit, Einschränkungen usw. kommen wenn erst anschließend.
Wie ich im Eingangsbeitrag meine anfängliche Sicht beschreibe („Den einen Teil des Narrativs, den ich selbst überhaupt [nicht] hinterfragt habe, ist die Massierung von Truppen durch Russland im Grenzgebiet, sowie spezifisch die Aufstellung für einen Einmarsch.“) und auch aus dem obigen Zitat von Anfang Dezember herauslesbar bin ich davon ausgegangen, dass es eine zwar nicht offen benannte, aber doch unzweideutige Drohkulisse gibt, auch wenn ich dahinter andere Motive vermutet hatte. Erst im Anschluss ist mir klargeworden, dass es eher ein mehrdeutiges Muster von Truppenbewegungen ist, wobei neben einer Abschreckung eine Provokation durchaus eine wahrscheinliche Intention ist. Genauso ist eine komplett missverstandene Intention denkbar, aber Russland hat die Vorteile der dominant gewordenen medialen Deutung für sich entdeckt.
Sicherlich hat das seinen Platz, aber dass es die Kurzformel für den Konflikt geworden ist, halte ich für ein Medienversagen. Oder auch nicht, wenn man das Einkommen von Medienunternehmen mal in den Mittelpunkt stellt, denn ich denke dieses dominante Narrativ ist schlicht eine gut verkaufbare Geschichte. Das würde ich neben der Reproduktion eines eigenen Selbstverständnisses tatsächlich auch für das Motiv der meisten Medien halten.
Und machen wir uns nichts vor, wäre Omikron eine größere Geschichte, hätte dieser „Konflikt“ nicht die gleiche Prominenz erlangt. - Nebenbei die Kernannahme zum Konsensnarrativ zu Omikron ist, dass es sich um eine unaufhaltbare, dafür milde Variante handelt. Stimmt eigentlich auch nicht und bedarf einer Einordnung. - In jedem Fall damit eignet sich die Variante als Nachrichtenereignis hauptsächlich dazu das Ende der Großerzählung von der Pandemie einzuleiten. Während die Ukraine die nächste große Geschichte ist.