Folgende Passage aus diesem Spiegel-Artikel hat mich zu diesem Thema veranlasst:
Russland hat nach westlichen Angaben mehr als 100.000 Soldaten samt schwerem Gerät an der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Der Westen befürchtet deshalb einen russischen Angriff auf das Nachbarland.
Aus meiner Sicht ist das eine signifikante Deutungsverschiebung, gerade für den Spiegel, der zu den Medien gehört, die das Narrativ vom unzweideutigen russischen Einmarschvorhaben innerhalb der deutschen medialen Landschaft getragen haben. Wobei ich nicht weiß, ob das eine dann doch bestehende Vielfältigkeit der Einschätzung auch in der Spiegel-Redaktion wiedergibt, irgendeiner Einsicht entspricht oder auf die Äußerungen der kürzlich auf Mäßigung umgeschwenkten ukrainischen Regierung Rücksicht nimmt.
Das hat mich nochmal an einen Gedanken erinnert, der mir schon vor einigen Tagen kam: Den einen Teil des Narrativs, den ich selbst überhaupt hinterfragt habe, ist die Massierung von Truppen durch Russland im Grenzgebiet, sowie spezifisch die Aufstellung für einen Einmarsch. Woher weiß man das eigentlich? Russland veröffentlicht offensichtlich nicht aktuell, wo sich alle Teile seiner Streitkräfte aufhalten. Im Prinzip stammt diese Information, was veröffentlichte Quellen angeht, aus der Auswertung von Satellitenbildern. Die Zuordnung dieser Bilder zu Einheiten der Streitkräfte kann mit gewissem Rechercheaufwand aus offenen Quellen ein stückweit abgeglichen werden, während Geheimdienste natürlich noch andere Aufklärungsmöglichkeiten haben. Die Antwort ist also neben diversen westlichen Sicherheitsdiensten kommt die Information über die Massierung auch von kommerziellen Analysten.
Bleibt die Interpretation: Das Narrativ vom sicheren russischen Einmarsch stützt sich nicht einfach auf die Präsenz der Truppen, sondern es behauptet eine klar herauslesbare Intention in ihrer Aufstellung.
Da Russland im erweiterten Grenzgebiet sowieso Einheiten permanent stationiert hat, sind hier Einheiten ausschlaggebend, die sich außerhalb ihres Stationierungsortes (in einer anderen Region) befinden, ohne dass es dafür eine offizielle Erklärung, wie etwa eine Übung, gibt. Ich bin mir sicher, die russischen Truppen in Weißrussland werden zur Bedrohung gezählt, aber das wäre ein Gegenbeispiel, weil ihre momentane Präsenz durch eine angekündigte Manöverübung gedeckt ist. Das heißt schon an dem Punkt, kann man zu einer unterschiedlichen Interpretation kommen, denn dass Weißrussland sein Gebiet als Ausgangspunkt einer Offensive zur Verfügung stellt, ist nicht die Kleinigkeit, für die es die meisten vermutlich halten.
Schauen wir mal auf diese Übersichtskarte des Fachverlags Janes, die auch Abschätzungen zur Truppenstärke an einzelnen Standorten enthält:
In der Region sollen ein Drittel der Zahl von hunderttausend russischen Soldaten permanent stationiert sein. Neu hinzugekommene Einheiten bedeutet übrigens soweit ich verstanden habe seit Frühjahr 2021. Während sich im Herbst/Winter die Zahl nochmal erhöht hat, sind einige Einheiten schon länger auf dem Gebiet, das hier als „in der Nähe“ der Ukraine gezählt wird.
Auf der Karte wird die Zahl von BTG angegeben, eine battalion tactical group. Für die Interpretation finde ich folgendes auffällig: Die beiden größten Konzentrationen von nicht permanent stationierten Einheiten sind in Pogonowo die 1st Guards Tank Army (1. Gardepanzerarmee) mit 5-6 BTG, das ist etwa 150 km von der ukrainischen Grenze entfernt. Die andere ist im Norden in Jelnja bei Smolensk die 41st Combined Arms Army (41. Kombinierte Waffenarmee) mit 6-7 BTG, das ist 250 km von der ukrainischen Grenze entfernt. Jelnja ist schon recht weit weg, aber auch Pogonowo liegt, je nach Definition natürlich, eher außerhalb des Grenzgebiets. Wie man sieht gibt es Stationierungen wesentlich näher an der Grenze.
Mit „gezählten“ Einheiten über 100 km von der Grenze entfernt, die sich zudem wohl seit ein, zwei Monaten nicht bewegt haben, kann man in Zweifel ziehen, wie gut Russland nach drei Monaten Aufmarsch für den narrativ dominanten unmittelbar bevorstehenden Großangriff positioniert ist. Durchaus möglich, dass sich daraus Reaktionen, wie beispielsweise das Umschwenken bei den Ukrainern oder die Zurückhaltung der deutschen Politik erklären lassen.