Einmarsch in die Ukraine - Gesicherte Erkenntnisse oder mediale Erzählung?

Folgende Passage aus diesem Spiegel-Artikel hat mich zu diesem Thema veranlasst:

Russland hat nach westlichen Angaben mehr als 100.000 Soldaten samt schwerem Gerät an der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Der Westen befürchtet deshalb einen russischen Angriff auf das Nachbarland.

Aus meiner Sicht ist das eine signifikante Deutungsverschiebung, gerade für den Spiegel, der zu den Medien gehört, die das Narrativ vom unzweideutigen russischen Einmarschvorhaben innerhalb der deutschen medialen Landschaft getragen haben. Wobei ich nicht weiß, ob das eine dann doch bestehende Vielfältigkeit der Einschätzung auch in der Spiegel-Redaktion wiedergibt, irgendeiner Einsicht entspricht oder auf die Äußerungen der kürzlich auf Mäßigung umgeschwenkten ukrainischen Regierung Rücksicht nimmt.

Das hat mich nochmal an einen Gedanken erinnert, der mir schon vor einigen Tagen kam: Den einen Teil des Narrativs, den ich selbst überhaupt hinterfragt habe, ist die Massierung von Truppen durch Russland im Grenzgebiet, sowie spezifisch die Aufstellung für einen Einmarsch. Woher weiß man das eigentlich? Russland veröffentlicht offensichtlich nicht aktuell, wo sich alle Teile seiner Streitkräfte aufhalten. Im Prinzip stammt diese Information, was veröffentlichte Quellen angeht, aus der Auswertung von Satellitenbildern. Die Zuordnung dieser Bilder zu Einheiten der Streitkräfte kann mit gewissem Rechercheaufwand aus offenen Quellen ein stückweit abgeglichen werden, während Geheimdienste natürlich noch andere Aufklärungsmöglichkeiten haben. Die Antwort ist also neben diversen westlichen Sicherheitsdiensten kommt die Information über die Massierung auch von kommerziellen Analysten.

Bleibt die Interpretation: Das Narrativ vom sicheren russischen Einmarsch stützt sich nicht einfach auf die Präsenz der Truppen, sondern es behauptet eine klar herauslesbare Intention in ihrer Aufstellung.

Da Russland im erweiterten Grenzgebiet sowieso Einheiten permanent stationiert hat, sind hier Einheiten ausschlaggebend, die sich außerhalb ihres Stationierungsortes (in einer anderen Region) befinden, ohne dass es dafür eine offizielle Erklärung, wie etwa eine Übung, gibt. Ich bin mir sicher, die russischen Truppen in Weißrussland werden zur Bedrohung gezählt, aber das wäre ein Gegenbeispiel, weil ihre momentane Präsenz durch eine angekündigte Manöverübung gedeckt ist. Das heißt schon an dem Punkt, kann man zu einer unterschiedlichen Interpretation kommen, denn dass Weißrussland sein Gebiet als Ausgangspunkt einer Offensive zur Verfügung stellt, ist nicht die Kleinigkeit, für die es die meisten vermutlich halten.

Schauen wir mal auf diese Übersichtskarte des Fachverlags Janes, die auch Abschätzungen zur Truppenstärke an einzelnen Standorten enthält:

In der Region sollen ein Drittel der Zahl von hunderttausend russischen Soldaten permanent stationiert sein. Neu hinzugekommene Einheiten bedeutet übrigens soweit ich verstanden habe seit Frühjahr 2021. Während sich im Herbst/Winter die Zahl nochmal erhöht hat, sind einige Einheiten schon länger auf dem Gebiet, das hier als „in der Nähe“ der Ukraine gezählt wird.

Auf der Karte wird die Zahl von BTG angegeben, eine battalion tactical group. Für die Interpretation finde ich folgendes auffällig: Die beiden größten Konzentrationen von nicht permanent stationierten Einheiten sind in Pogonowo die 1st Guards Tank Army (1. Gardepanzerarmee) mit 5-6 BTG, das ist etwa 150 km von der ukrainischen Grenze entfernt. Die andere ist im Norden in Jelnja bei Smolensk die 41st Combined Arms Army (41. Kombinierte Waffenarmee) mit 6-7 BTG, das ist 250 km von der ukrainischen Grenze entfernt. Jelnja ist schon recht weit weg, aber auch Pogonowo liegt, je nach Definition natürlich, eher außerhalb des Grenzgebiets. Wie man sieht gibt es Stationierungen wesentlich näher an der Grenze.

Mit „gezählten“ Einheiten über 100 km von der Grenze entfernt, die sich zudem wohl seit ein, zwei Monaten nicht bewegt haben, kann man in Zweifel ziehen, wie gut Russland nach drei Monaten Aufmarsch für den narrativ dominanten unmittelbar bevorstehenden Großangriff positioniert ist. Durchaus möglich, dass sich daraus Reaktionen, wie beispielsweise das Umschwenken bei den Ukrainern oder die Zurückhaltung der deutschen Politik erklären lassen.

Naja, allzu offensichtlich kann Russland es ja nicht treiben. Es muss - auch gegenüber der eigenen Bevölkerung (gibt es da eigentlich Stimmen aus den Resten der Zivilgesellschaft?) - immer noch von „Übungen“ gesprochen werden können.

Ansonsten wird hier noch einiges zusammengefasst (Paywall): Ukraine-Konflikt: Wo Putins Truppen stehen - SZ.de

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Tun sie tatsächlich nicht. Wie gesagt im Fall der russischen militärischen Präsenz in Weißrussland gibt es eine Erklärung. Was dagegen die Stationierung von Einheiten im erweiterten Grenzgebiet zur Ukraine angeht, scheint die Position der russischen Regierung zu sein, dass sie über den Verbleib eigener militärischer Einheiten innerhalb des eigenen Landes keine Rechenschaft ablegen muss.

Aber nehmen wir diese Beobachtung „allzu offensichtlich kann Russland es ja nicht treiben“. Wenn Russland hier nicht allzu offen agieren kann und das offensichtlich ist, warum ist dann das dominante Narrativ im Westen - Russland droht der Ukraine mit einem Einmarsch?

Nein, die Russen proben sicher nur für die großen Ostermärsche, mit denen der lupenreine Demokrat Putin die Friedfertigkeit seines Arbeiter- und Bauernparadieses verdeutlichen will. (Wenn Sie Ironie finden dann bitte behalten)

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Tenor des Artikels, den ich dir verlinkt habe: Die ganze unfassbar teure Einheiten- und Materialverlegerei, die da betrieben wird, ist viel zu aufwändig für „nix“. Aber schon der ganze diplomatische Reiseverkehr aktuell zeigt doch, dass das Risiko besteht. Die russischen Forderungen (NATO schließt Länder aus etc.) sind unerfüllbar, das wissen sie auch selbst, und sie haben 2014 ja schon mal das Gebiet der Ukraine verletzt, es besteht also ein Präzedenzfall. Alles andere ist Realitätsverleugnung, ich glaube da braucht man nicht weiter drüber zu diskutieren.

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interessant ist ja, dass der ukrainische Verteidigungsminister derzeit keine Gefahr eines russischen Einmarschs sieht - eine Nachricht, die in Deutschland leider fast untergegangen ist - sie ist trotzdem zu finden, u. a. hat auch am Sonntag bei Anne Will Jürgen Trittin darüber geprochen

hier ein Artikel:

Ukrainie: derzeit keine Hinweise auf russischen Einmarsch

Mir geht es nicht darum zu sagen, dass es keine Anzeichen gibt, die die Deutung zulassen, Russland bereitet vor die Ukraine anzugreifen. Mein Punkt ist, diese Anzeichen waren niemals so eindeutig, dass es das dominante Narrativ in den westlichen Medien gerechtfertigt hätte. Jedenfalls nicht mit der veröffentlichten Evidenz.

Aber auf das Argument, es wäre zu teuer nicht anzugreifen, wird wohl kaum jemand ernsthaft bestehen.

Das ist zirkuläre Logik, der Reiseverkehr ist das Ergebnis davon, dass der Angriff als sicher dargestellt wird. Teil des Narrativs ist ja, dass die Politiker im Westen etwas tun müssen, um ihn zu verhindern. Entsprechend gibt es viel Gegenwind, wenn in den Redaktionen der Eindruck entsteht, sie würden nicht genug tun. So erfährt es gerade die Bundesregierung.

Der Schluss Maximalforderungen werden nur gestellt, weil man eine Absage herausfordern will, entspringt letztlich auch der Gewissheit, dass ein Angriff sicher bevorsteht.

Alle diese Überlegungen fallen in sich zusammen, wenn die Kernaussage des Narrativs nicht zutrifft. In diesem Thema wollte ich nur nochmal den spezifischen Aspekt der Interpretation der Truppenpräsenz ansprechen. Eine offensichtliche Alternative ist, dass Russland exakt diese Situation herbeiführen wollte, aber ohne tatsächlich einen Angriff zu planen. Auf die westlichen Medien als treuen Verbündeten bei diesem Unterfangen konnte es sich in diesem Fall verlassen.

Das Dumme ist, dass es dann schwierig ist, abzuschätzen, ob der der droht, es ernst meint oder nur blöfft. Ich denke, man kann dem Westen dann nicht übel nehmen, sich auch auf das schlimmste vorzubereiten.

Es kann natürlich auch sein, dass Putin aufgrund der schlechten Impfquote im Land nur seine Truppen isolieren und vor Ansteckung schützen möchte, da ist ein Land wie Belarus, wo keiner mehr rein oder raus darf, der perfekte Ort.

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Ich kann wirklich nicht einschätzen, was da wirklich in der Ostukraine und Russland vor sicht geht. Und ich würde mal behaupten dass das den allermeisten hier im Forum genauso geht, zumindest wenn sie ehrlich sind.

Was ich aber weiss ist, wie Staaten die Medien benutzen, um einen Krieg zu legitimieren. Das haben wir im Irak gesehen, das haben wir in Afghanistan gesehen. Und das hier erinnert mich stark daran. Selten hat man die Öffentlichkeit mit so wenig Fakten mit Drohszenarien medial überschwemmt. Wie üblich sollen wir mal wieder alles glauben, die Geheimdienste wissen schon alles, dürfen es aber nicht sagen, sie wissen schon.

Ich sage gar nicht dass Russland keine schlimmen Absichten hat. Nur beschleicht mich das Gefühl dass die USA und die NATO das gerade sehr gelegen kommt. Und sie haben nun die Medienmaschine angeworfen um auch alle Nachfragen zu verhindern und die Bevölkerungen auf ihre Seite zu bringen. Und das macht mir schon etwas Angst, denn die Ukraine ist Europa, hier geht es nicht um ein weit entferntes Land.

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„Die westlichen Medien“ gibt es nicht. Das Spektrum der Meinungen ist da breit, von am liebsten präventiv zuschlagen (~Springer) zu dem was du schreibst.
Aber:

  1. Man kann als freies Medium den Truppenaufmarsch nicht ignorieren.
  2. Dazu kommen die nahe Geschichte, in der Russland das Territorium der Ukraine verletzt hat, und dieses unsägliche Pamphlet unter Mitwirkung von Putin, das die Zugehörigkeit der Ukraine zum historischen Russland behauptet und als heute wünschenswerten Zustand beschreibt.

Diese gemeinsamen Fakten lassen sich nicht wegignorieren und man kann nicht darüber berichten, ohne die Möglichkeit eines Angriffs zu behandeln. Und genau so wird es auch in den Beiträgen beschrieben, die ich in letzter Zeit mitbekommen habe, von Spiegel Online über Süddeutsche bis Tagesschau. In Beiträgen von Experten geht man vielleicht mal auf die Wahrscheinlichkeitsfrage ein, meistens mit dem Ergebnis, dass vermutlich Russland sich das nicht leisten würde, man es aber natürlich nicht so richtig genau weiß.

Genauso können alle, die mit der Ukraine „befreundet“ sind, die Befürchtungen dort nicht ignorieren und nichts tun. Das wird doch nicht durch die Medien erzeugt.

Selbst wenn Russland absichtlich provoziert und nicht wirklich einmarschieren will, wenn man nichts tut, wer weiß wie weit Putin geht? Die Ukraine scheint für ihn keinen Wert zu haben. Für uns aber jedes Menschenleben in jedem Dorf dort, und zwar zurecht.

Dazu kommt noch, dass die Krise in den letzten Jahren nie weg war und allein unser sehr gestörtes Verhältnis zu Russland diplomatische Aufarbeitung und Klärung bedarf. Aus meiner Sicht möglichst durch Einlenken der russischen Seite, denn Krim, Nawalny & Betrachtung der Ukraine als eigene Einflusssphäre sind nicht okay.

Also ehrlich, du hast ein sehr merkwürdiges Medienverständnis. Und auch eine sehr merkwürdige Wahrnehmung der aktuellen Berichterstattung.

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Sie versuchen mir also beide ernsthaft einzureden, dass die vergangen zwei großen Krieghandlungen der USA und NATO (Irak, Afghanistan) nicht ebenso mit falschen Behauptungen über die Medien gespielt eingeleitet wurden? Ok, wenn das nicht mal als Basis für eine Diskussion dienen kann, dann ist sie wahrlich sinnlos hier.

Dass USA und NATO in Bezug auf Interventionismus nicht vertrauenswürdig sind, ist die eine Sache. Die andere ist, wie wir im Konflikt mit Russland damit umgehen. Auch mit einem Grundmisstrauen gegenüber USA/NATO kann man die Fakten (Truppenaufmarsch durch Russland, Annektion der Krim, Ostukraine) nicht ignorieren. Was zieht man also für eine Schlussfolgerung daraus?

Gerade weil die Ukraine in Europa liegt, glaube ich, dass insbesondere von westlicher Seite kein Krieg absichtlich provoziert werden wird.
Im Gegensatz zu Stellvertreterkriegen am anderen Ende der Welt sind in Europa die eigene Bevölkerung und eigene Territorien ziemlich nah dran. Wieso sollte die NATO hier einen Krieg provozieren?

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Nun, das ist die Frage. Ich zitiere mein Kritik von knapp zwei Monaten nochmal:

Also mal jenseits der Frage, wie die Medien das darstellen sollten, wäre es durchaus interessant gewesen zu sehen, was ohne die mediale Reaktion im Westen passiert wäre.

Fatal wäre nur gewesen, festzustellen, dass Putin die Folgen einfach egal gewesen wären oder schlimmer noch, er die Passivität so ausgelegt hätte, dass er schon damit durchkommen wird.
Er ist offensichtlich bis heute davon überzeugt, dass ihm von den Staaten, denen er Gas liefert, keine Gefahr droht.

Sicherlich gibt es „die westlichen Medien“. Dass es sich um eine komplexe Medienlandschaft über verschiedene Sprachräume verteilt handelt, unbenommen. Auch das darin enthaltene Meinungsspektrum widerspricht nicht der Existenz von Konsensnarrativen und dominanten Narrativen.

Meine Wahrnehmung ist natürlich beschränkt, ich denke nicht, dass sie mich daran hindert die großen Erzähllinien zu identifizieren. Mein Verständnis beruht hier spezifisch auf einer Fundierung in der Theorie der Medienwirkung, die in der Rezeption aufbauenden Erzählungen eine zentrale Rolle zuschreibt gerade bei Rezipienten, die nicht über vertieftes Domänenwissen verfügen.

Nehmen wir doch einfach mal das Medium, dem wir die Existenz dieses Forums verdanken. So hat Philip Banse in Folge 275 zusammengefasst, was die akute Lage ist:

[…] bevor wir da in die Details gehen, muss man sich das glaube ich nochmal vor Augen halten, Ulf, Russland schickt sich an in einen anderen Staat, einen unabhängigen von allen anerkannten Staat einfach einzumarschieren, weil […]

Ich denke - und wenn er das liest, mag er mich korrigieren - hier wird nicht eine eigene Einschätzung wiedergegeben, sondern das dominante mediale Narrativ. Der bevorstehende russische Einmarsch ist über einen weiten Bereich der Medienlandschaft Konsens. Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit, Einschränkungen usw. kommen wenn erst anschließend.

Wie ich im Eingangsbeitrag meine anfängliche Sicht beschreibe („Den einen Teil des Narrativs, den ich selbst überhaupt [nicht] hinterfragt habe, ist die Massierung von Truppen durch Russland im Grenzgebiet, sowie spezifisch die Aufstellung für einen Einmarsch.“) und auch aus dem obigen Zitat von Anfang Dezember herauslesbar bin ich davon ausgegangen, dass es eine zwar nicht offen benannte, aber doch unzweideutige Drohkulisse gibt, auch wenn ich dahinter andere Motive vermutet hatte. Erst im Anschluss ist mir klargeworden, dass es eher ein mehrdeutiges Muster von Truppenbewegungen ist, wobei neben einer Abschreckung eine Provokation durchaus eine wahrscheinliche Intention ist. Genauso ist eine komplett missverstandene Intention denkbar, aber Russland hat die Vorteile der dominant gewordenen medialen Deutung für sich entdeckt.

Sicherlich hat das seinen Platz, aber dass es die Kurzformel für den Konflikt geworden ist, halte ich für ein Medienversagen. Oder auch nicht, wenn man das Einkommen von Medienunternehmen mal in den Mittelpunkt stellt, denn ich denke dieses dominante Narrativ ist schlicht eine gut verkaufbare Geschichte. Das würde ich neben der Reproduktion eines eigenen Selbstverständnisses tatsächlich auch für das Motiv der meisten Medien halten.

Und machen wir uns nichts vor, wäre Omikron eine größere Geschichte, hätte dieser „Konflikt“ nicht die gleiche Prominenz erlangt. - Nebenbei die Kernannahme zum Konsensnarrativ zu Omikron ist, dass es sich um eine unaufhaltbare, dafür milde Variante handelt. Stimmt eigentlich auch nicht und bedarf einer Einordnung. - In jedem Fall damit eignet sich die Variante als Nachrichtenereignis hauptsächlich dazu das Ende der Großerzählung von der Pandemie einzuleiten. Während die Ukraine die nächste große Geschichte ist.

Um noch darauf einzugehen: Das ist eine sehr problematische Sichtweise, die ich dringend rate abzulegen. Keinem Staat kommt es auf jedes Menschenleben an. Man kann für diesen Fall das Gegenteil demonstrieren:

  1. Gerade die historischen Ausführungen von Putin scheinen eine zwar problematische aber eben emotionalisierte Sicht auf die Ukraine als kleines, slawisches Brudervolk zu offenbaren, das nicht ganz mündig ist und entfremdet wird. Dagegen wird kaum ein westeuropäischer Politiker oder Staatsbeamter, nicht mal viele osteuropäische außerhalb der Ukraine, geschweige denn US-amerikanische, ein wirkliches Näheverhältnis zur Ukraine haben. Bestenfalls ist sie ein Symbol für den Kampf der freien demokratischen Welt gegen die Diktaturen.
  2. Das asymmetrische Stärkeverhältnis zwischen Russland und Ukraine führt ja gerade dazu, dass es sich nicht zu einem bewaffneten zwischenstaatlichen Konflikt kommt, außer Russland würde sich tatsächlich dazu entscheiden. Weil aber Russland nicht offen in den Donbass-Konflikt interveniert, ist hier die Lage symmetrischer und damit tödlicher. Das ist der Ort in der Ukraine, wo wirklich Menschen in Dörfern sterben. Die Separatisten und die russische Seite haben ihren Anteil daran, aber eben auch die Ukrainer. Es ist nicht so, dass der Westen seine wesentlich größeren Einflussmöglichkeiten auf die Ukraine voll genutzt hat, um die Befriedung voranzutreiben. Im Gegenteil wurde die ukrainische Armee von einigen westlichen Ländern besser ausgestattet, was die Aussichten und damit die Entschlossenheit der Ukrainer diesen Konflikt militärisch für sich zu entscheiden gestärkt hat. Käme es auf jedes Menschleben an, würde man nicht so agieren.

In dieser Hinsicht, eine geschlossene Wertegemeinschaft, gibt es tatsächlich keinen „Westen“.

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Puh, viel passiert seit heute morgen…
@WilliWuff

Das hat niemand behauptet. Die Kommentare nach deinem ersten wurden nur alle gleichzeitig freigeschaltet.
Abgesehen davon - kann nur unterschreiben, was @sereksim dir geantwortet hat. Irak (Öl) und Afghanistan (Pseudo-Antwort auf Terrorismus) hat vor allem ja auch andere Beweggründe für die NATO-Aktivitäten.

@laotuzi

Mag sein, werden wir aber wohl nie herausfinden :wink:

So sehe ich das auch.

Danke für diesen Satz. Damit habe ich glaube ich jetzt erst verstanden, was dein Verständnis des Wortes „Narrativ“ ist, nämlich das, was ich als „Grundkonsens“ bezeichnet hätte. Ich bin aber sowohl bei Omikron als auch bei der Ukraine der Meinung, dass das etwas weniger stark ist, als du es beschreibst. Beim Thema Ukraine wäre ich eher bei „Russland stellt ein Problem dar.“ und bei Omikron/Corona bei „mildere Variante“ und „zeitlich sollte es so langsam Richtung Endemie gehen“. Ich glaube, da sind aber durchaus verschiedene Einschätzungen legitim.

Okay, sehe auch hier jetzt besser was du meinst. Ich würde dir trotzdem gerne widersprechen. Die o.g. Narrative oder Grundkonsense bauen - und das gilt meiner Erfahrung nach auch für andere Themen - auf Einschätzungen der Fakten mit Experteneinschätzungen auf, die gerade bei wichtigen Themen (ein Gegenbeispiel wäre das wie in der Lage aufgezeigt meist verkürzt dargestellte Thema Kasachstan) zwischen mehreren verschiedenen Quellen abwägen. Ich erkenne bei der medialen Rezeption der Ukrainekrise keine Abweichung von diesem Muster. Ich unterstützte auch die Ansicht, dass westliche Staatsführungen ihre Handlungen oft an Mediendarstellungen orientieren. Nur sehe ich eine stärkere Wechselwirkung, die auch verstärkte Medienöffentlichkeit bedingt durch politische Aufmerksamkeit, weil ein Thema als faktisch wichtig oder per se potenziell (hier eben für den Frieden in Europa) riskant wahrgenommen wird. Ob Putin diese Mechanismen absichtlich nutzt oder nicht, ist - befürchte ich - zweitrangig, weil es letztendlich auf eine stärkere Provokation (um endlich das gewünschte Echo zu erreichen) oder sowieso auf die Eskalation hinausläuft.

Auch hier noch kurz ein Satz zu: so streng, wie du es verstanden hast, habe ich die Sichtweise nicht. Weniger absolut, mehr als „in Abwägung als wichtiges Gut mit einbeziehen“, auch eine potenzielle mediale Öffentlichkeit auf Menschen in Notsituationen zu politischen Problemen führt (womit wir wieder bei der eigentlichen Diskussion wären).

Nun vielleicht führt es eher in die Irrre. Narrativ meint schon das, was man annehmen würde, nämlich ein Primat der Erzählung über Faktendarstellung und Analyse.

(Warum ich für Omikron eine erzählerische Verkürzung - also durch Mutation ist diesmal eine unaufhaltsame, aber milde Variante entstanden - behaupte. Wenn man sich die Komplexität diese Variante zu analysieren anschaut, ist es sehr schwierig, diese Zuschreibung als intrinisische Qualität des Virus abseits seiner Immunumgehung zu etablieren. Beides kann teilweise oder sogar vollständig auf die Immunumgehung zurückgehen. Vollständig würde bedeuten, die Variante ist nicht schwerer zu kontrollieren als Varianten davor, wenn man nicht-pharmazeutische Interventionen verwendet, und jemand, der tatsächlich weder (nachhaltigen) Viruskontakt oder Impfung hatte, hätte ein vergleichbares Risiko der Erkrankung. Für beides gibt es Anzeichen - auch die Ausbremsung mit eher lockeren Gegenmaßnahmen in Deutschland gehört dazu - aber diese Niveau an wissenschaftlicher Analyse ist viel zu hoch für die öffentliche Rezeption und wird mit dem Narrativ von der unaufhaltsamen, aber milden Variante ersetzt. Was vermutlich sogar als faktenbasiert verstanden wird, denn die Problematik wird nur klar, wenn man den wissenschaftlichen Diskurs selbst verfolgt. Selbst Wissenschaftskommunikatoren haben sich dieser Vereinfachung bedient.)

Ansonsten ist die unterschiedliche Sichtweise denke ich ausreichend dargelegt.

Ich will nochmal kurz etwas anderes anfügen, was enger auf dieses Thema bezogen ist. Wenn Russland die Ukraine morgen angreifen würde, dann würde ich nicht zugestehen falsch gelegen zu haben. Warum? Russland hatte natürlich lange vor der jetzigen Situation die Möglichkeit die ukrainische Grenze oder den ukrainischen Luftraum jederzeit zu verletzen. Es hätte auch die Möglichkeit im Donezbecken schnell eine militärische Präsenz zu zeigen. Aber wenn morgen eine Invasionsstreitmacht in der Ukraine steht, dann gibt es meines Erachtens eine deutliche Lücke in den veröffentlichten Informationen.

Die Karte von Janes oben ist aus einem Artikel von Anfang Februar. Ich nehme an sie ist einigermaßen aktuell. Ich will hier keine besondere Expertise behaupten, aber ich kann eine Karte lesen, ich habe eine Vorstellung von Distanzen und von Logistik. Mit der dortigen Aufstellung von Einheiten, kann man nicht morgen in der Ukraine stehen bereit dafür größere Teile des Landes zu erobern. Bisher befinden sich zu viele der „grenznahen“ Einheiten im Hinterland des Grenzgebiets und müssten erstmal auf Vorwärtspositionen verschoben werden. Wenn das passiert oder wenn die Truppen in Weißrussland nach dem Ende des Manövers doch nicht abziehen, kann man darin weitere eskalative Schritte sehen.

Aber meinem Verständnis nach gab es hier im Januar eine eher statische Situation, die dennoch medial als Anschwellen der Bedrohung begleitet wurde. Das kommt natürlich auch via der medialen Kontakte zu Sicherheitskreisen von Regierungen wie der britischen oder der US-amerikanischen, die durchaus ein innenpolitisches Interesse an dem Konflikt als Ablenkung von anderen Problem haben. Das ist ein anderer Aspekt, den ich noch als Möglichkeit in den Raum stellen will.

Angeblich sollen sich Einheiten der 41. Kombinierten Waffenarmee aus Jelnja jetzt nach Süden bewegen. Schauen wir mal, ob das stimmt. Geschlossen wird das wohl aus Tiktok-Videos, ich hätte lieber Vorher-Nachher-Satellitenaufnahmen von Jelnja. Unabhängig davon möchte ich nochmal darauf hinweisen, dass sie sich damit erst jetzt in Richtung des ukrainischen Grenzgebiets bewegen würden, während sie bereits zu den 100000 Soldaten „an der Grenze“ gezählt wurden.