Nachdem die beiden Hosts unseres Podcasts ja Jurist und Journalist sind, bietet sich das Thema Verdachtsberichterstattung und seine Auswüchse förmlich an.
Nach einer Woche, in der sich der Spiegel zweimal bis auf die Knochen blamiert hat, würde mich mal die Meinung der beiden zu den Fällen Till Lindemann und Luke Mockridge interessieren. Die sind politisch bestimmt nicht so relevant wie die Schlagzeilen über Hubert Aiwangers ekelhaft rassistischen Schulranzeninhalt, aber die Problematik der Verdachtsberichterstattung ist ähnlich.
Für den Fall, dass es noch nicht jeder mitbekommen hat: Till Lindemanns Fall wurde erst gar nicht vor Gericht gebracht, weil die Staatsanwaltschaft keinen ausreichenden Anlass für Ermittlungen hatte. Gegen Luke Mockridge gab es schon, vor dem Erscheinen der Artikel im Spiegel, ein eingestelltes Verfahren. Damals hat sich offenbar die Zeugin, das angebliche Opfer, in Widersprüche verwickelt.
In beiden Fällen berichtete der Spiegel in einer Art toxischem Feminismus über beide Kulturschaffende, die zwar nicht gewählt werden müssen, aber deren einziges Kapital ihr Wirkung beim Publikum ist.
Ich frage mich dabei: Wie rechtfertigt sich ein solcher „Journalismus“? Im Endefekt gibt es dabei doch nur Verlierer. Die Angeblichen Opfer werden als Lügnerinnen geoutet. Die beiden Männer werden bis an ihr Karriereende als „igendwie zwielichtig“ wargenommen, weil „irgenwas bleibt ja immer hängen“. Und die echten Opfer von sexueller Gewalt haben es bestimmt nicht leichter, wenn sie sich jemandem anvertrauen wollen.
Geht es denn nur noch um Click-Zahlen und Abo-Kunden?
Könnte sich bei genauerem Hinsehen gar herausstellen, dass Justiz und Journalismus zwei unterschiedliche Dinge sind?
Wie kommst du auf diese Aussage? Die Staatsanwaltschaft hat lediglich die Artikel gelesen und mit den Journalist:innen gesprochen. Es gibt keine Anhaltspunkte für die Staatsanwaltschaft, weil diese bis heute keine Ahnung hat, um welche Personen es sich überhaupt handelt.
Die Staatsanwaltschaft teilte mit, dass »die Auswertung der verfügbaren Beweismittel« keine Anhaltspunkte erbracht hätten. Sie stellte allerdings auch klar, dass ihre Beweismittel vor allem die Medienberichte waren. Denn: keine einzige Frau, die Lindemann sexualisierte Gewalt vorwirft, konnte durch die Ermittler befragt werden. Sie hätten ausschließlich mit Journalistinnen und Journalisten gesprochen, so die Staatsanwaltschaft.
Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft Medien gebeten, die Namen und Adressen von Quellen zu benennen, auch den SPIEGEL. Aus Gründen des Quellenschutzes haben wir mit Verweis auf unser Zeugnisverweigerungsrecht abgelehnt, die anderen Medien offenbar ebenso. Wir haben allerdings den Informantinnen, mit denen wir in Kontakt waren, die Bitte der Staatsanwaltschaft weitergegeben.
Darüber hinaus haben die Ermittler laut ihrer Pressemitteilung Akten zum Fall der Irin Shelby Lynn gelesen und mit der YouTuberin Kayla Shyx gesprochen, welche sich in einem Video zu den Vorwürfen geäußert hatte. Diese hätte »kein eigenes Erleben strafrechtlich relevanter Vorfälle schildern« können. Das hatte Shyx allerdings auch nie behauptet, sondern lediglich das Castingsystem beschrieben.
Neben der Unterscheidung zwischen Justiz und Journalismus würde ich auch auf die Unterscheidung zwischen moralischer und juristischer Unschuld verweisen. Es gibt ja Gründe, warum es bei derartigen Straftaten selten eine eindeutige Beweislage gibt. Im Fall Lindemann wies Ronen Steinke schon im Juni darauf hin, dass es genau so kommen würde:
Die Strafverteidigerin Christina Clemm beschreibt noch einmal, wie Betroffene und Zeuginnen solcher Straftaten unter Druck gesetzt werden:
Zudem muss man sich die Realität schon arg zurechtbiegen, um in einem Post einerseits angesichts zig voneinander unabhängiger Berichte von Betroffenen über „Verdachtsberichterstattung“ zu jammern und andererseits mit absoluter Sicherheit von „angeblichen Opfern“ und „Lügnerinnen“ zu sprechen.
Der größte Luftzug in der Hundepfeife ist dann wohl das konstrukt des „toxischen Feminismus“. Vielleicht hat sich der Autor aber auch einfach nur vertan und wollte den Kommentar eigentlich bei The Pioneer posten?
Lag es vielleicht an der etwas größeren Reichweite von Ines Anioli, dass die Medien aufgesprungen sind?
Das Stimmt natürlich.
Frau Shyx wurde ja auch schon, in einem anderen Prozess, verboten ihre Vorwürfe zu wiederholen.
Strafverteidiger erklärt Verfahrenseinstellung auch:
Die Problematik bei diesen Journalismus ist Ungewissheit über Zeugenaussagen, die Unterscheidung zwischen Moral und Justiz und die lange Vergangenheit. Nehmen wir Kevin Spacey. Der Fall ist durch Gerichte eindeutig zu Gunsten von Spacey ausgegangen. Dieser hat jedoch ebenfalls im Vorfeld zu gegeben sich früher nicht immer 100% korrekt zu heutigen Maßstäben verhalten zu haben.
Und hier kommt das nächste Problem. Früher waren die moralischen Maßstäbe wirklich Andere. Das ist kritisiert worden und durch einen gesellschaftlichen Prozess sind die Maßstäbe gestiegen (Beispiel Rauchen im TV, in den 1970/80ern völlig normal, heute gesellschaftlich verpönt).
Was passiert im Journalismus ist, dass nun Verhalten von früher mit Maßstäben von heute verglichen werden. Dazu noch mit Zeugenaussagen, die oft ebenfalls widersprüchlich sind und auch stark nach Geltungssucht und monetären Vorteil riechen. Natürlich könnte man hier auch wirkliche Opfer übersehen bzw. ebenfalls falsch beurteilen.
Ich wusste nicht wie eine gute Berichterstattung hierzu aussehen sollte, zumal in der Click Zahlen Welt auch ausgewogene Artikel nicht gelesen oder nur sehr verkürzt dargestellt werden (Siehe BILD zu Heizungs- Hammer).
Würde jedoch gar nicht berichtet, dann würde der Aufschrei groß sein, warum denn gar nicht berichtet wird (Siehe Sylvester Nacht von Köln).
Also alles sehr schwierig und ehrlicherweise kaum zu lösen.
Vielleicht eine letzte Bemerkung: Viele Künstler und Schauspieler haben Millionenschäden durch diese Presse erlitten. Darum ist der Verdacht nach Rufmord ebenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen.
Spacey musste 31 Millionen USD an die Produzenten von HoC zahlen, was ein Gericht bestätigte. Der Gerichtsentscheid beruhte auf den Anschuldigungen und dem damit verbundenen Imageverlustes.
Nun will Spacey gegen das Gericht und die Produzenten klagen. Gegen die Presse kann er nicht klagen, was bei mir viele Fragezeichen verursacht.
Diese Bezeichnung finde ich persönlich unsäglich. Die Metoo-Debatte und auch Berichte zum Thema einschließlich verantwortungsvollem Verdachtsjournalismus sind wichtig und müssen möglich sein, denn wir sind gesellschaftlich noch nicht an dem Punkt, dass die Rechte von Frauen wirklich und strukturell geachtet und gewährleistet werden.
Natürlich muss verantwortungsvoll mit einer Veröffentlichung umgegangen werden, damit es zu keinem „Kachelmann-Effekt“ kommt. Insbesondere wenn Aussage gegen Aussage von jeweils einer Person steht, wird ein Missbrauch kaum zu beweisen und damit nicht strafrechtlich verfolgbar sein. Natürlich gilt dabei die Unschuldsvermutung.
Du aber drehst die Sache um und stellst die Frauen, deren Aussage nicht zu einer Anklage oder Verurteilung führt, als Lügnerinnen dar, was einfach falsch ist. Ein Freispruch mangels Beweisen heißt noch lange nicht, dass sie gelogen haben. Sicher gibt es auch Lügen, aber so leicht fällt es einer Frau nicht, Anzeige zu erstatten. Warum glaubst du so bereitwillig den Männern und nicht den Frauen? Ist dir nicht klar, welcher Druck gerade auf den Opfern von Missbrauch liegt? Es ist doch völlig klar, dass sich viele Betroffene nicht trauen werden, vor Gericht auszusagen, da die Verteidigungsmaschinerie des Rammstein-Unternehmens dann über sie hinwegrollt. Möchtest du, dass sich Frauen nicht mehr trauen, sich zu Wort zu melden und solche Vorfälle zu schildern, weil sie befürchten müssen, am Ende als Lügnerinnen angeprangert zu werden?
Fortsetzung
Zum Fall Lindemann finde ich deine Einlassung wirklich schwierig. Als Frau fühle ich mich fast schon angegriffen von der schelmischen Freude, die ich zwischen den Zeilen deines Beitrags heraushöre. „Jetzt haben der Journalismus und die lügnerischen Frauen, die unbescholtene Männer in den Dreck ziehen, mal endlich ihr Fett abbekommen.“ So klingt es für mich, auch wenn du es vielleicht nicht so gemeint haben solltest.
Du vergisst, dass es nicht nur eine Frau war, die von Machtmissbrauch und Übergriffen berichtete. Ein Veranstalter berichtete von einer „Suck-Box“ unter der Bühne. Und hast du einmal die ekelhaften Text/Gedichtzeilen, die Vergewaltigung (ja, unter KO-Tropfen) verherrlichen, gelesen? Nein, dann empfehle ich dir das. Kunstfreiheit hin oder her. Ein Puzzleteil kommt zum anderen und das Bild, das sich ergibt, ist nicht das eines unbescholtenen Bürgers.
Es waren sehr junge Frauen. Die Situationen (Hast du dir die Erklärungen der Mädchen angehört oder im Detail gelesen? Ich schon) wurden als verunsichernd und absolut beängstigend beschrieben. Was für eine Macht hat ein Mensch wie Till Lindemann über diese junge Frauen. Mach dir das bitte klar.
Ich persönlich bin dafür, auch den Frauen Vertrauen entgegenzubringen. Zu oft haben sich solche Vorwürfe im Nachhinein als richtig herausgestellt und sogar zu strafrechtlicher Verfolgung geführt (siehe Harvey Weinstein).
Soll Herr Lindemann ohne gerechtes Verfahren hinter Gitter? Sicher nicht.
Ist eine öffentliche Debatte über Machtmissbrauch und toxische Männlichkeit erforderlich? Ja, aber natürlich.
In einem Land,
in dem Teile der männlichen deutschen Fußballspitze den spanischen Verbandschef verteidigen, der einfach so vor aller Augen eine Frau packt und küsst,
in dem ein FDP-Chef öffentlich einen völlig geschmacklosen Altherren-Bett-Witz über seine gerade entlassene Generalsekretärin machen kann,
in dem Frauen weder in der Regierung noch in den Parteien noch im Parlament noch in den Wirtschaftsspitzen angemessen vertreten sind,
in dem viele gesellschaftlichen Bereiche nach den Bedürfnissen von Männern gestaltet sind,
ist es unbedingt erforderlich, dass es möglich ist, über Missbrauchsverdacht zu berichten, auch wenn es ohne juristische Konsequenzen bleiben könnte, weil selbstverständlich die Unschuldsvermutung gilt.
Ich halte mich nicht für eine Feministin, aber ich finde die Art und Weise dieser Threaderöffnung wirklich grenzwertig, @Micha.
Ich finde aber doch problematisch, dass diese Trennung in den Artikeln nicht wirklich zum Ausdruck kommt. Wenn man die Lindemannartikel liest, ging es dort eben nicht nur darum, dass der Typ pervers ist und ein ekliges System zur Ausnutzung weiblicher Fans etabliert hat, sondern es wurde eben auch ganz stark eine darüberhinausgehende Verwerflichkeit in den Raum gestellt.
Das Problem ist, dass moralische Überzeugungen kaum journalistisch, schon gar nicht mit so einer prominenz ad hominem abgehandelt werden können, denn was Lindemann mit seinen Fans anstellt sollte ehrlich gesagt niemanden besonders interessieren. Auch Spiegel und Co. sind keine Sittenpolizei. Deshalb wird in den Artikeln stets auf die strafrechtliche Ebene verwiesen, quasi als Rechtfertigung für die hohe Aufmerksamkeit das dem Thema gewidment wird. Man muss sich dann nicht mehr vorwerfen lassen, schlicht reaktionär zu sein.
Wenn man sich also strafrechtlichen Anschuldigungen bedient, sollte man dann schon auch hinterher so ehrlich sein, die (strafrechtliche) Unschuldsvermutung als allgemeine moralische Wertvorstellung gelten zu lassen.
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass Lindemann ein perverses A**** ist und ich denke, dass die Berichterstattung berechtigterweise darauf aufmerksam gemacht hat. Es bleibt aber ein ungutes Gefühl, dass hier verschiedene Moralebenen verwischt wurden und man sich in unredlicher Weise, rechtlich einschlägiger Vorwürfe bedient hat um davon abzulenken, dass man hier einfach nur die persönlichen Praktiken eines Künstler sittlich und ad hominem angreifen wollte.
Doch sollte es. Es waren/sind sehr junge Frauen. Ihnen gegenüber steht der Machtapparat eines Stars mit seinem Geld, seinem Einfluss und seiner Logistik.
Da sollte man ganz genau hinsehen.
Dafür reden sie dann lieber mit der Presse?
Ganz ehrlich das ist der Teil der für mich so langsam an dem ganzen Theater annervt.
Entweder man hat handfeste Anschuldigungen, dann kann man Anzeige erstatten oder man sucht nach Aufmerksamkeit, dann tuschelt man mit der Presse.
Jepp und hat damit offensichtlich deine Aufmerksamkeit gewonnen.
Meine Schwester (Rammsteinfan seit Jahrzehnten) hat dazu nur gemeint, dass keine Bühnenshow jemals so gebaut war, dass Lindemann Zeit dafür gehabt hätte, da die Zeit die er für das Publikum nicht sichtbar war nur aus Minuten zum Platzwechsel bestanden haben.
Wozu also so eine Box die man rein praktisch aus Zeitgründen nie nutzen kann?
Man bekommt für anonyme Hinweise keine Aufmerksamkeit. Soweit ich das weiß, haben sich viele Frauen nur anonym gemeldet.
Also bitte, was soll das heißen? Ich sag jetzt mal nichts dazu.
Es ist und bleibt ein schwieriges Thema.
Selbst ein Unschuldiger wie Kachelmann (war er doch, oder?) ist zerstört worden.
Die Berichterstattung über die Rehabilitierung der Angeklagten erweist sich also auch nicht als ausreichend.
Sehe ich natürlich auch so, aber was meinst du mit „genau hinsehen“. Es wurde nicht nur „gesehen“, es wurde klar bewertet und öffentlich verächtlich gemacht.
Als demokratische Gesellschaft ist die einzige Moral, auf die wir uns geeinigt haben, das Gesetz. Das sieht nun einmal vor, dass man schon recht früh sexuell selbstständig ist. Wenn wir in manchen Fällen nicht wollten, dass ältere Menschen mit jungen Menschen verkehren, müssten wir das schon auch klarstellen. Alles andere ist dann rein individuelle Sexualmoral und das muss man klarstellen. Man muss dann so offen sein und sagen, dass Lindemann eben nicht gegen allgemeingültige Regeln verstßen hat, sondern einfach nur eine andere Sexualmoral an den Tag legt als wir (bzw. die jeweiligen Autoren).
Es geht nicht um Moral. Es geht mindestens um Machtmissbrauch.
Oder man hat dank etlicher eigener und fremder Erfahrungen mit Justitia schlicht kein Vertrauen in deren bekanntlich ohnehin langsame Mühlen - will die Angelegenheit angesichts des Unrechts aber auch nicht versickern lassen, und greift in der Folge einfach nach Strohhalmen. In solchen Fällen melden sich regelmäßig etliche Frauen anonym, ich wüsste nicht wie die was von Aufmerksamkeit hätten.
Was für eine … Täter-Opfer-Umkehr. Weißt du, wie schwer es ist, einen Prozess wegen sexuellem Missbrauch zu gewinnen? Das überlegen sich Betroffene eben zweimal. Insbesondere wenn es gegen Prominente geht.
Und wie man mit anonymen Statement „nach Aufmerksamkeit sucht“, erschließt sich mir auch nicht.