Jetzt bin ich doch etwas verwirrt. Du gibst einer zentralen These von CRT recht - nämlich, dass die vergangene rassistische Ungleichbehandlung bis in die heutige Gesellschaft nachwirkt. Gleichzeitig sagst du aber, der strukturelle Rassismus werde nicht fortgesetzt. Wie funktioniert das zusammen? Offenbar wird doch der strukturelle Rassismus fortgesetzt, wenn Menschen, die aufgrund rassistischer Diskriminierung in Armut geraten sind, weiter in Armut bleiben?
Dieser Absatz erscheint mir in sich widersprüchlich. Du sagst, der Faktor Rassismus hat dazu geführt, dass die Betroffenen, in bei den Faktoren Bildung Wohnort und Arbeit benachteiligt sind. Das heißt doch nichts anderes als dass sich eine benachteiligende Struktur gesellschaftlich gefestigt hat. Ob nun aktuell eine Person aufgrund des Nachnamens, des Wohnviertels oder des Schulnamens oder des Abschlusses diskriminiert wird, ist doch gehupft wie gesprungen, wenn alle diese Faktoren auf die primäre rassistische Diskriminierung zurückzuführen sind.
Dass sich diese Benachteiligungen auch auf die ökonomische Situation auswirken ist klar. Aber ich sage mal so: Wenn die Polizei einen Schwarzen erschießt, gucken die nicht vorher auf den Kontostand.
Ja, ich bin der Meinung, dass der Prädiktor übertrieben ist.
Beispiel Bildung: Einer der großen Gleichmacher in den 1960ern und besonders 1970ern (Brandt) war das Bildungssystem. Ich will jetzt nicht auf die Trennung Gymnasium eingehen. Aber eine große Veränderungswelle waren die Investitionen in öffentlicher Bildung. Dritter Bildungsweg, Absu von Hindernissen. Ein riesiger Erfolg einer damals noch zukunftsoptimistischen SPD.
Und heute? Verfall der öffentlichen Schulen, das Niveau sinkt besonders in ärmeren Stadtteilen. Reiche schotten sich ab und schicken ihre Kiddies auf Privatschulen.
Ein gutes öffentliches Schulsystem auf hohem Niveau nivelliert Klassenunterschiede. Gleiche Chancen auch für Unterprivilegierte.
Die Nachteile treffen alle, egal ob PoC oder arabischstämmig oder weiß. Rassismus führt hier in die Irre, glaube ich.
Beispiel Gesundheit: Der Abbau von öffentlichen Gesundheitsleistungen trifft alle unabhängig von Rasse oder Geschlecht und zementiert ökonomische Unterschiede.
Ich wüsdte zum Beispiel nicht, dass zum Beispiel Arztleistungen aufgrund der Hautfarbe verwehrt würden.
Beispiel Arbeit: Anders als vielleicht noch vor denn 2000ern ist diskriminierendes Verhalten bei den meisten Arbeitgebern zurecht sanktioniert. Wie bei Arbeit sehe ich das Thema sehr stark über Bildung - siehe oben. Je stärker die Basis hier eventuelle Bildungsschwächen im Elternhaus ausgleicht, desto besser.
Beispiel Recht: das ist ein Faktor, der von amerikanischen CRT-Theoretikern auf Basis des amerikanischen Systems stark in den Blick genommen wurde, allerdings haben die USA das System von Case Law, das Geschworenensystem und wenig geschriebenes Recht a la Code Civil. Das ist tatsächlich spezifisch US amerikanisch und baut auf eine gewachsene Struktur. Da kann ich es nicht im Detail beurteilen, ich kann mir vorstellen, dass die Kritik für die USA sogar zutrifft. Das Jury System fände ich unabhängig von Race oder anderen Faktoren absolut scary, da Emotionen jeder Art hineinkommen. Oder das System, dass verurteilte Häftlinge für ihren Aufenthalt bezahlen müssen - nach dem Gefängnis bist du noch verschuldet.
Aber trifft das auf das deutsche Rechtssystem zu, bei dem alles kodifiziert ist bis zum letzten Detailpragraphen? Bevorzugt es Weiße? Sorry, dass sehe ich nicht. Jedenfalls nicht in der Axiomatik der CRT-Theorien.
Nochmal, Rassismus existiert und wird immer existieren. Nur lassen sich die meisten Faktoren mit Chancenungleichheit und ökonomischer Imbalance viel besser erklären, meine ich.
Daraus folgt: Die jetzige Politik in den Bereichen oben schafft Umstände, die Strukturen verfestigen, die Ungleichheit fördern und das trifft die, die kein Vermögen haben. Und das Vermögen liegt bei einigen wenigen Eingesessenen.
Jetzt klinge ich aber mehr links als liberal - sei es drum
Ja, interessant. Weiter unten habe ich geschrieben:
Mein Punkt: Rasse und Rassismus als Prädiktor ist einer, aber in der Absolutheit von CRT irreführend. Es ist eine Erklärung und Fortschreibung der Ursachen der Vergangenheit auf die aktuelle Gegenwart. Allerdings haben sich die Faktoren in det Gegenwart gewandelt und CRT verschleiert die ökonomischen Faktoren.
Mein Dissens besteht nicht darin, dass Rassismus zu ökonomischer Ungleicheit geführt hat. Das ist evident, denke ich.
Ich bezweifle aber die Erklärung, dass aus Rassismus heraus im Hier und Jetzt die Ungleichheit beibehalten wird. Stattdessen sind es klassische ökonomische Faktoren, die durch soziale Schichtung Ungleichheit fortsetzen. Das kann Weißen genauso passieren.
Da halte ich das Axiom des strukturellen Rassismus sogar für schädlich, auch wenn es gut gemeint ist, weil es Gräben produziert und alte Narrative perpetuiert.
Zumal viele der Thesen auf Basis eines ökonomisierten US-Bildungssystems und eines schrägen Rechtssystems erwachsen sind, fie ohne weiteres nicht auf anders kodifizierte Systeme übertragbar sind.
Naja, aber vielleicht ist Rassismus der Grund, aus dem keine Reparationen für die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit gezahlt werden?
Wenn Du recht hättest, wäre die Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten für alle gleich. Alle mir bekannten Studien zu Bewerbungen und Leistungsbewertungen mit Deutschen oder ausländisch klingenden Namen widersprechen dem jedoch.
Das Argument, dass auch Weiße mal eine Absage bekommen können, führt hingegen völlig in die falsche Richtung. Es geht ja um eine gruppenbezogene Benachteiligung, die sich statistisch auswirkt.
zu 2.
Mir ist nicht klar, wie eine so banale Beschreibung eines Sachverhalts wie der Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen zu einer fragwürdigen theoretischen Annahme gemacht werden kann.
Der Unterschied ist meiner Meinung nach folgender: Im Hier und Jetzt ist die Situation aber nicht mehr durch ein rassistisches System wie in den 1960ern fortgesetzt, sondern ist ein ökonomisches Problem von Ungleichheit, das gelöst werden muss, unabhängig, ob dort LatinX, PoC oder Weiße wohnen.
CRT sagt (vereinfacht): die Ungleichheit jetzt wird fortgesetzt, weil die Gesellschaft unbewusst strukturell rassistisch ist
Ich behaupte: Die Ungleichheit jetzt ist aus Rassismus entstanden, aber Rassismus ist kein Antreiber mehr, sondern die klassische Chancenungleichheit. Ergo bringt es nichts, eine Chimäre (struktureller Rassismus) zu bekämpfen, sondern die ökonomischen Themen im Heute.
Anders gesagt: die notwendige Aufarbeitung ist eine gemeinsame Aufgabe von Weißen und PoC besonders in den USA.
Aber die Lösung nach vorne liegt in der Schaffung von Chancengleichheit für alle - Iren, PoC, Indigene, Weiße, LatinX. Das Postulat von strukturellem Rassismus ist daher spalterisch und führt m.Mn. Am Problem vorbei.
Konnte ich das etwas erhellen, was ich meine?
es ist sonnenklar was Du meinst. Ich bin nur der Ansicht, dass Du Dich irrst, siehe:
Gute Frage. Ich kann mir auch vorstellen, dass es Gier ist und die Angst, Präzedenzfälle zu schaffen, gerade in den USA. Und wer sind die Berechtigten und wer die Beklagten. Ein schwieriges Terrain, gerade in dem Rechtssystem.
Aber auch Deutschland hat sich ja nicht mit Ruhm bekleckert, wenn es um die Herrero geht, und man kann unseren Protagonisten da kaum Rassismus vorwerfen im AA und Bundespräsidialamt. Die deutsche Position ist hier übrigens skandalös aus meiner Sicht, aber das führt zu weiit, oder?
Hast du da Studien zum Verlinken?
In der Tradition der Kritischen Theorie sieht sich die CRT auch als Theorie sozialen Wandels. Als kritische Theorie versteht sich die CRT aber auch deshalb, weil sie die eigene Einbettung in rassistische Strukturen zu reflektieren versucht und die Norm wissenschaftlicher Neutralität als unerreichbar und nicht erstrebenswert verwirft.[19] CRT geht davon aus, dass Wissen stets politisch sei und dass Forschung, die race ignoriert, weder objektiv noch neutral sei, sondern selbst durch diese Auslassung Position beziehe.[16]
Das Zitat oben zeigt die Grundannahme auf, die ich hinterfrage. Der Aktivismus ist integraler Teil der Theoriensammlung, und damit kann er nicht mehr objektiv wissenschaftlich sein. Es gibt ja kein Szenario, in dem ein wissenschaftliches Finding keinen Rassismus mehr entdeckt.
Nebenbei, mich interessiert immer noch, inwieweit der BBC-Korrespondent in Nordamerika von der BBC selbst als zweifelhaft dargestellt wurde. Du hast da doch sicher Quellen?
Klar kann man denen Rassismus vorwerfen. Warum nicht?
Ja, das Problem mit der Neutralität ist, dass es sich um ein Paradox handelt. Um Neutralität festzustellen, braucht man eine neutrale Referenz. Das führt in einen endlosen Regress.
Insofern ist die Anerkenntnis ein erfolgversprechenderer Weg als die Energie in den falschen Schein von Neutralität zu stecken.
Es werden keine Leistungen von Ärzt:innen verwehrt, aber die health outcomes sind nachweislich schlechter für PoC.
Auch heute wird noch krass diskriminiert aufgrund von Name und Herkunft. Man findet auf Anhieb Artikel zum Beispiel in der Süddeutschen oder bei Business Insider dazu, die über aktuelle Studien dazu berichten.
Na und wie das zutrifft. Das us-amerikanische Justizsystem ist extrem rassistisch.
Auch in Deutschen Behörden existiert struktureller Rassismus, ich kann mir ganz im Gegenteil nicht vorstellen, dass ausgerechnet das Rechtssystem davon nicht betroffen sein soll. Und zwar nicht direkt Justiz, aber doch eng damit verbunden ist die Arbeit der Polzeit. Und racial profiling gibt es nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass man sich erst einmal mit der Empirie vertraut machen sollte, bevor man behauptet, dass es keine Empirie zu einem Thema gibt und es deswegen alles nur normatives Gerede sei. Ich habe nicht das Gefühl, dass das hier passiert ist, weswegen die gesamte restliche Argumentation auf einer falschen Annahme beruht und mir eher hinfällig erscheint.
Du hast die Frage nicht beantwortet, wie denn eine solche „objektiv wissenschaftliche“ Wissenschaft deiner Meinung nach aussehen soll: Für den Bereich der Sozialwissenschaften hast du ja selbst infrage gestellt, dass das überhaupt geht. Wenn ich aber davon ausgehe, dass es eine solche Objektivität gar nicht geben kann, was ist dann falsch daran, sich um eine kritische und transparente Reflexion des eigenen Standpunkts und der eigenen Vorannahmen zu bemühen - so verstehe ich jedenfalls das Wikipedia-Zitat. Dazu können auch bestimmte normative Setzungen gehören, die selbstverständlich gut begründet sein sollten, etwa, dass alle Menschen gleichberechtigt sein sollten oder dass die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit erhalten bleiben sollten.
Ich verstehe immer noch nicht, was das mit „Aktivismus“ zu tun hat bzw. wie du diesen definierst.
Das habe ich nie behauptet. Ich habe mich auf die Beschreibung Andrew Sullivans in dem BBC-Artikel bezogen dessen Urheberschaft für das Liberalismus-Zitat du nicht erwähnt hattest.
…Wenn ich Basisnormen und die Möglichkeit von Neutralität hinterfrage, gibt es per definitionem keinen Zustand von Gerechtigkeit mehr bzw. ich kann selbst Konzepte wie Menschenrechte dekonstruieren.
Verstehe mich nicht falsch, eine kritische Befragung ist nützlich und in liberalen Demokratien notwendig, aber als Grundansatz wird jede Aussage und Norm zu einer Machtfrage. Schwierig.
Gute Studie. Wie ich gesagt habe, das kann ja nicht anders sein, wenn wie in den USA ärztliche Versorgung von Job und Geld abhängt. Obamacare hat da schon was getan, aber ist boch nicht auf unserem Niveau.
Dass das historisch gewachsen ist, da bin ich dabei, mein Punkt ist ja, dass wir heute ökonomische Ungleichheiten als Treiber haben.
Historische Aufarbeitung und heutige Ursachen und Lösungsansätze werden da nicht sauber getrennt aus meiner Sicht.
Schade finde ich, dass die Studie nicht die LatinX und asiatischstämmigen US-Amerikaner hinzugenommen hat, das wäre im Vergleich noch mal aufschlussreich gewesen.
CRT geht ja auf die Gesetze selbst ein, das ist aber sehr case law spezifisch und wenig übertragbar. Exekutive und Legislative würde ich trennen, klar hast du in der Exekutive rassistische Elemente.
Aus den empirischen Studien den Sprung zur normativen Setzung eines strukturellen Rassismus zu machen, ist eine gefährliche und m.M.n. Wissenschftlich unzulässige Schlussfolgerung, zumal ich auf dieser dann weitere Schlussfolgerungen ziehe.
Aber ich glaube, wir stimmen beide überein, dass viele Beschreibungen stark auf die US-amerikanischen Systeme fußen, die ich ja verschiedentlich in diesem Thread kritisiert habe.
…Wie lässt es sich denn deiner Meinung nach erklären, dass auch in Deutschland Leute mit migrantisiert klingendem Namen schlechtere Jobchancen haben als Leute mit „biodeutsch“ klingendem Namen, selbst bei gleicher Qualifikation? Oder dass Leute von den Staatsgewalt der Polizei anders behandelt werden, wenn sie nicht weiß sind? Was hat das dann noch mit sozioökonomischen Hintergrund zu tun?
Ich glaube, dieser Austausch bringt das theoretische Dilemma hinter der Diskussion auf den Punkt:
Wie kann man anerkennen, dass Wissenschaft immer auf weltanschaulichen, normativen und soziokulturellen Paradigmen beruht und zugleich nicht in Relativismus/Nihilismus verfallen?
Mein Ansatz wäre, dass die Wissenschaft selbst die Mittel bereitstellt, um die Kritik an sich aufzugreifen und die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit zu reflektieren. Praktisch scheint mir das aber auch wieder begrenzt.
In dieser Konzeption sind dann die konstruktive Theorie und die kritische Theorie für sich genommen nicht komplett, nur aus dem dialektischen Wechselspiel kann Erkenntnis entspringen. Das ist dann ein iterativer Prozess.
Konkret heißt das für mich, man muss der CRT oder anderen kritischen Theorien nicht vollständig folgen, um ihre wissenschaftliche Relevanz und praktische Nützlichkeit anzuerkennen. Die CRT bspw. kann aber vielleicht auch gar nicht mehr, als aus einer bestimmten Perspektive heraus immer wieder „Anklage“ (gibt es gute Synonyme für Kritik in diesem Sinne? :D) zu erheben. Mag dann anstrengend sein, das hat Kritik an sich.
Edit, 9.9.24: Wort fehlte („Nützlichkeit“).