Bellizismus in Deutschland (Otto Schily zum 90. Geburtstag)

Die Bundeszentrale fuer politische Bildung hat den Dokumentarfilm Majdan von Sergei Loznitsa, der offiziell in Cannes lief und dem wie auch den schoenen Donbass Film verdanken, wegen dem er aus dem ukrainischen Regisseurverband herausgeflogen ist, ins Netz gestellt. Frei zu streamen mit deutschen und englischen Untertitels und mit Chrome auch leicht zu downloaden, dann aber ohne Untertitel.

1917, 1918 malt einer irgendwohin, und das ist schon die Message.
… (mehr zu diesem Thema in einem nächsten Thread hier)

Das passt zu Otto Schilys 90 Geburtstag, der etwas unfassbar vernuenftiges zum grossen Thema gesagt hat. Das es in einer Kurzfassung beim Tagesspiegel und etwas laenger auch auf Englisch gibt die deutsche Oeffentlichkeit hoffentlich noch etwas laenger beschaeftigen wird. Denn der Krieg ist ganz dumm und keiner will frieren.

Tagesspiegel:

Der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat vor einem einseitigen Kurs Deutschlands im Ukraine-Konflikt gewarnt. „In Deutschland hat sich ein Bellizismus ausgebreitet, der riskant ist“, sagte Schily der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Mit Bellizismus ist eine Form der Kriegsverherrlichung gemeint. „Ausgerechnet bei den Grünen gibt es hier eine zu große Einseitigkeit“, so Schily.
Gegen Nato- oder EU-Beitritt der Ukraine: Ex-Innenminister Otto Schily warnt vor Kriegsverherrlichung - Politik - Tagesspiegel

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Im Artikel spricht Herr Schily vom „Modell Schweiz“ als eine mögliche Lösung für die Ukraine. Nur wie soll das funktionieren, wenn es das offizielle Ziel ist, die Ukraine zu vernichten? Ohne eine Schutzmacht ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Versuch das Land von der Landkarte zu fegen wieder gestartet wird.

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Ich finde nicht, dass irgendjemand den Keueg verherrlicht. Herr Schily scheint davon auszugehen, dass wir es hier mit einem, für logische Argumente zugänglichen, Akteur zu tun haben. Das kann ich leider nicht sehen. Ausserdem darf doch kein Land einem anderen vorschreiben, wie es sich in der Welt zu positionieren hat. Ihr seid ab jetzt wie die Schweiz und dafür gibt Russland euch die Gebiete zurück, die sie durch ihren unrechtmäßigen Angriffskrieg erobert haben und leistet Reperationszahlungen zum Wiederaufbau. Das Gespräch zwischen Putin und Schily würde ich gerne live gestreamt mitverfolgen. Krieg ist Mist und doch muss man einem Aggressor Grenzen aufzeigen, sonst wird er einfach weiter machen und zusätzlich eine Vorbildfunktion entwickeln für andere Staaten.

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Vielen Dank fuer die schoene Umsetzung meines Vorschlags an die M oderation. Was Du da sagts ist die von mir sogenannte Lemberger Propaganda. Ich glaube nicht an Schutzmaechte auf dem Papier und denke lieber an den nachdenklichen aelteren Ukrainer in einem Clip von Chatham House, die die Chatham rules erfunden haben.

Wenn die Ukraine unabhaengig bleiben wolle, werde ihr keine andere Moeglichkeit bleiben. Aus den auf der Hand liegenden und von Otto Schily genannten Gruenden. Die jungen Leute in dem Clip von Chatham waren im Gegensatz dazu alle „Bellizisten“ in dem Sinne, dass sie das „Heldentum“ verehrten und sich keinerlei Gedanken ueber den politischen Zweck machten. Man kann auch mal mit Fluechtlingen reden, die meinen bestenfalls, dass Russland an den Bodenschaetzen interessiert sei. So wie sie im Iran beim Versuch einer „bunten Revolution“ alle ihre Handinnenflaechen rot angemalt hatten. Die rote Hand und der Sea of Green. Der Majdan war ein Abnutzungskrieg wie im gruenen Buch der IRA, auf das sich laut TAZ auch die „Partisanen“ in Weissrussland stuetzen.

Man sollte sich den Film, den wir der Bundeszentrale verdanken, ganz genau ansehen und auch die Analyse dazu ganz genau lesen. Es wird immer wieder nur ueber die Mittel diskutiert und niemals ueber die Zwecke. Die Fakten sind unbestreitbar, auch wenn es eine Provokation gegeben haben soll, die die Gewalt entscheidend eskalierte, worueber der decoder berichtet. Die Buehne war in der Hand der Oppositionsparteien. Das Spektrum der Teilnehmer war aber offenbar groesser. Wenn Putin den Majdan als „Pogrom“ bezeichnet hat, wie in dem Film gesagt, dann meinte er wohl die „Mobrule“, ueber die Hillary in Lybien gelacht hat. Tod den Verraetern, keine Macht fuer niemand, der 1. Mai.

1917, 1918, das war die Lage damals, vielleicht einfach draufclicken. Zwei kleine gruene „ukrainische“ Armeen links und eine graue Armee der von mir eher geschaetzten „Anarchisten“. Der russische Buergerkrieg. Ein SVG Bildchen.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b8/Denikin's_Moscow_Offensive.svg

Unsere Argumente sind fuer ihn alle unlogisch. Und dass Lawrow Annalena stehenlies, was nur konsequent. Warum sollte er sich das zum zehnten Mal anhoeren? Die NATO ist fuer die Ukraine offen und es haengt nur von dieser ab, obwohl es diese ueberhaupt nichts angeht, so auch Brookings, die auch nicht nur aus Konstanze Stelzenmueller bestehen. Das ist die Biden-Doktrin, an der keinen Millimeter geruehrt wird.

Der Bellizismus ist die direkte Konsequenz eines Angriffskrieges in Europa an der Grenze zur europäischen Union. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich mich pro Aufrüstung positioniere, aber Russland gibt uns hier eben keine Wahl.

Ja, der Euromaidan war ein juristisch fragwürdiger Umsturz der Westukrainer gegen den vor allem von den Ostukrainern gewählten Präsidenten. Ja, es wäre schöner gewesen, wenn Janukowytsch im Rahmen der nächsten regulären Wahl abgewählt worden wäre, statt ihn im Rahmen eines Volksaufstandes in’s Exil zu treiben. Ja, die Ukraine hat den Fehler gemacht, zu unterschätzen, wie sehr das Land daran zerbrechen kann, weil der pro-russische Osten bei dem Westschwenk nicht mitgehen will.

Das alles gibt Russland jedoch nicht das Recht, Gebiete der Ostukraine militärisch in ihrem Unabhängigkeitskrieg zu unterstützen (wie im Donbass geschehen) und andere Teile des Landes direkt zu annektieren (wie bei der Krim der Fall). Vor allem gibt das alles Russland nicht das Recht, einen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu führen, um die zu Unrecht besetzten Gebiete „zu verteidigen“ (das ist schon die denkbar positivste zulässige Betrachtungsweise, andere Betrachtungsweisen würden nicht „verteidigen“ sagen, sondern „erweitern“).

Russland hat diesen Krieg vom Zaun gebrochen und damit unterbunden, dass die Ukraine ihre internen Konflikte selbst beheben konnte. Und das kann und darf man Russland nicht durchgehen lassen, wenn einem die Nachkriegsordnung, dass Kriege keine Mittel zur Territorialerweiterung sein dürfen, wichtig ist. Und diese Nachkriegsordnung sollte vor allem Pazifisten wichtig sein. Wer jetzt kein Bellizist ist, um diesen Angriffskrieg gegen die Nachkriegsordnung im Keim zu ersticken, entzieht einem zukünftigen Pazifismus die Existenzgrundlage. Denn wenn Kriege zur Territorialerweiterung wieder hoffähig werden, ist der Pazifismus langfristig tot. Ja, das klingt paradox, aber wer langfristig Frieden will, muss bereit sein, dafür auch kurzfristig das Opfer eines Krieges im Rahmen des Krieges zu unterstützen.

Ich denke ich habe hier schon eine verhältnismäßig neutrale Position, weil ich im Gegensatz zu vielen anderen nicht die Problematik des Euromaidan und der Ost-West-Differenzen der Ukraine bestreite. Aber wie gesagt, daraus eine Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs zu ziehen geht zu weit, ebenso wie daraus die Folge zu ziehen, dass die Ukraine auf Gebiete verzichten müsse oder Deutschland die Ukraine im Krieg nicht unterstützen sollte.

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Darum geht es doch gar nicht. Es geht um eine Perspektive fuer zu Zukunft. Und wenn man sich ansieht, dass zu Minsk eine Amnestie gehoerte, dann kann man auch alle anderen Fragen in diesem Zusammenhang vergessen. Es bringt nichts und fuehrt nur zu einem Krieg ohne Ende. Ich glaube, dass Vattel die Welt noch immer besser dargestellt hat, als die Charta der Vereinten Nationen, die man auch nicht wie ein Steuergesetz lesen darf. Vattel hat es immerhin konkretisiert.

Exakt, es geht um eine Perspektive für die Zukunft.

Und wenn Russland nach diesem Angriffskrieg mit auch nur einem Quadratmeter Territorium mehr dar steht, als vor dem Angriffskrieg, ist die Prognose für die Zukunft düster, weil wir dann wieder zurück in einer Weltordnung sind, in der Kriege zur Territorialerweiterung hoffähig sind. Deshalb wird die Nachkriegsordnung aktuell in der Ukraine verteidigt.

Alles andere sind Nebenschauplätze und Nebelkerzen.

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Grundsätzlich ist es ja richtig, das man irgendwann wieder mit Russland sich wird arrangieren müssen, so wie sich die Welt nach 1945 irgendwann mit Deutschland arrangiert hat.
Doch diese Diplomatie-Vorschläge von Politikern oder Intellektuellen finde ich insoweit schwierig, wenn ich Putins aktuelle Aussagen so höre. Frieden wird es demnach nur geben, wenn er kompromisslos nach russischen Gusto umgesetzt wird, und sich die Welt künftig aus allen russischen Aktivitäten raushält (weil ist ja Weltmacht, die darf machen was sie will).
Platt zusammengefasst, aber mir fehlt bei der Vorlage der Argumentationsansatz für westliche Diplomatiebemühungen.

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Wobei Deutschland nach 1945 nicht mehr dasselbe war wie zuvor. Es gab zwar 1949 wieder zwei deutsche Staaten, die aber klar in zwei von den USA bzw. der Sowjetunion geführten Machtbereichen eingebettet waren. Daraus folgte insbesondere im Westen auch eine kulturelle und soziale Transformation in Richtung eines pluralistischen und demokratischen Gemeinwesens.

Das alles ist für Russland auch nach einem Ende des Krieges gegen die Ukraine nicht zu erwarten. Wir werden es wahrscheinlich weiterhin mit einem autoritären und nationalistischen Staat zu tun haben, mit dem die Beziehungen eher auf einem Level wie im kalten Krieg geführt werden können.

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Das ist doch erst so, seit der Marsch auf Kiew zu Beginn des Krieges gescheitert ist. Ich interpretiere: Putins Ziel ist so viel, wie er selbst für realistisch hält und je mehr, desto besser.

Daher geht es darum, ihm klarzumachen, dass sein Sieg nicht realistisch ist.

Russlands Kriege zeigen in der Tat die ungute Kontinuität mit früheren Zeiten,( …?) Aber so fehlgeleitet die Kriege in Irak und Afghanistan auch waren, hier ging es offensichtlich nicht um den Ausbau des eigenen Großreiches und bei aller Imperfektion waren das auch keine Marionettenregierungen.

Israel ist ein Sonderfall, da bereits die Gründung des Staates Israel auf dem britischen Mandatsgebiet völkerrechtlich problematisch war, andererseits aber auch im Hinblick auf den zweiten Weltkrieg notwendig.

Alle anderen Beispiele führten gerade nicht zu anerkannten Territorialgewinnen. Weder erkennt die internationale Gemeinschaft die von Israel besetzten Gebiete an, noch erkennt sie Abchasien und Südossetien an und auch in den Golf-Kriegen gab es keine Territorialverschiebungen. Die Einsetzung von Marionettenregierungen ist problematisch, aber es gab nie das Ziel, damit Territorialveränderungen zu erzeugen.

Genau deshalb war es so ein Affront, als Trump mit dem Gedanken gespielt hat, die Golan-Höhen als israelisches Territorium anzuerkennen. Das darf ebenso wenig akzeptiert und toleriert werden, wie ukrainische Landesteile als russisches Territorium anzuerkennen.

Der einzige Grund, der Territorialverschiebungen legitimiert, ist ein Genozid bzw. der notwendige Schutz einer Minderheit vor massiver, von Vernichtungswahn getriebene Verfolgung. Das war im Kosovo der Fall und kann auch auf die Gründung Israels bezogen werden. Das ist bei der Ukraine nicht der Fall, auch wenn die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine nach dem Euromaidan durchaus ein wenig benachteiligt wurde.

Kurzum:
Die Hürden, um eine Territorialverschiebung zu legitimieren, müssen massiv hoch sein. Sie müssen so hoch sein, dass sie tatsächlich nur in absoluten Ausnahmefällen gerissen werden können.

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Das ist romantisch. Diese Nachkriegsordnung, Du meinst wohl den WWII, ist eher nur eine mitteleuropaische Weltordnung. Das Gewaltverbot ist auch schon viel aelter. Vattel hat es zum Beispiel nur anders formuliert. Es gehoert sozusagen zum Wesen der Staaten dazu. Aber schau Dich mal um. Einfluss mit Gewalt, in welchem Umfang auch immer. …
Die Ukraine geht den Weg zu einem Staat mit einem Volk und einer Sprache rigoros weiter. Wer nicht springt ist ein Verraeter. (Selbst den Lesern der TAZ geht das allmaehlich zu weit.)

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Das sind doch nur Extremforderungen – aus welchem Grund auch immer. Eine bewaffnete Neutralitaet wuerde ihm dann vielleicht genuegen. Danke.

Das ist meines Erachtens ein Knick in der Optik. Das sogenannte Grossreich war eher niemals weg. Die Souveraenitaet der Ukraine war dafuer ganz egal. Es kommt vor allem auf die Menschen an. Ob sie sich an Rom oder an Moskau orientieren. Was sie lesen. Die Sprache kommt noch hinzu.

Das aendert aber nichts daran, dass es diese voelkerrechtlichen Gebilde gibt. Und das Festhalten an der Zweistaatenloesung heisst auch in der Praxis, dass es so weiterlaufen darf. Die Golanhoehen sind ein gutes Beispiel. Israel wird sie niemals aufgeben. In solchen Faellen faellt mir immer Hallstein ein, der die DDR nicht anerkennen wollte. Dann kam der Grundlagenvertrag und alles loeste sich verhaeltnismaessig schnell in Wohlgefallen auf.

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Die Ukraine ist ein ganz besonderer Sonderfall, was man vielleicht auch zugeben kann. Fuer Kissinger war das immer klar. Und auch Foreign Affairs postet auf facebook alte Texte von George Kennan ueber die friedliche Koexistenz.

In welchen Kriegen genau hat der Westen denn um Territorium gekämpft?

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Sorry, aber das erscheint mir sehr pauschal formuliert. Ein Mosaiksteinchen, welches meiner Meinung nach ganz gut veranschaulicht, dass die Verwüstungen in Putins Krieg eine ganz andere Qualität haben, als beispielsweise im (ebenso völkerrechtswidrigen) Irakkrieg sind die dokumentierten Angriffe auf Stätten der Gesundheitsversorgung:

Von 2003 bis 2011 haben amerikanische Truppen oder Aufständische 12 Einrichtungen der Gesundheitsversorgung angegriffen, gestürmt oder beschossen. Das ist viel, aber verblasst neben den vergleichbaren Zahlen aus dem aktuellen Krieg:

Am 7. April 2022 - nach etwas mehr als 40 Tagen Krieg - hatte die WHO in der Ukraine bereits 89 derartige Angriffe registriert. Das ist die 50-fache höhere Frequenz derartiger Angriffe und es erscheint mir sehr unplausibel, dass deartige Zerstörungen und Angriffe auf zivile Infrastruktur nicht bewusster Teil der Kriegsstrategie wären.

Von daher teile ich zwar deine Ratlosigkeit und dein Entsetzen über diese Krieg, aber das Argument, dass Russland doch nur das gleiche mache, wie „der Westen“ in den vergangenen Jahrzehnten hat aus meiner Sicht keine Substanz.

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