Bellizismus in Deutschland (Otto Schily zum 90. Geburtstag)

Welcher Analyse folgt denn dass die Vorstellung der zwei Staaten Lösung das Problem ist ?

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Der einzige Grund hierfür ist, dass die Russen gescheitert sind ihren Plan A (Vernichtung des freien Staates Ukraine) umzusetzen (an dieser Stelle vor allem danke an die USA). Würde es eine realistische Chanche geben das jetzt zu erreichen, würden die Russen es tun.

Die Ukrainer müssten schon unfassbar naiv sein um zu glauben, dass die Russen dieses Ziel nich zu einem späteren Zeitpunkt wieder versuchen werden. Die Ukrainer haben uns ja seit 2014 gewarnt, dass sie in ihrer Existenz bedroht sind und befürchteten, dass eine Invasion kommen würde. Nur wollten wir es nicht glauben, wieso auch immer. Mal schauen ob es die Deutschen beim X. mal gelernt haben oder nicht (Stichwort: Zeitenwende).

Nein eigentlich nicht, mit der Vernichtung ganzer Staaten droht man in der Politik eigentlich relativ selten :wink: Und Staaten die das nicht ernst genommen haben, sind zeitweise von der Landkarte verschwunden wenn ich an das 20 Jahrhundert zurückdenke. Die Schweiz wurde nie in ihrer Existenz bedroht (in modernen Zeiten) wie die Ukraine, daher macht das Schweizer Modell (ein Staat im Herzen der NATO) absolut keinen Sinn.

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Ohne jetzt in Wortklauberei abdriften zu wollen, aber Israel ist meines Wissens nach kein NATO-Mitglied.

Aber Du wolltest ja über Bellizismus diskutieren. Ich stimme zu, dass ich auch mitunter das Gefühl habe, dass manche Teilnehmer am öffentlichen Diskurs ein problematisches Verhältnis zu militärischer Macht und Gewalt zeigen. Das betrifft UnterstützerInnen der Ukraine, die gewisse Waffensysteme mit Musikvideos abfeiern, genauso wie deutsche Soziologieprofessoren, die nicht müde werden, uns zu erklären, dass wir es mit einer ATOMmacht zu tun hätten, die man gar nicht besiegen könne.

So etwas halte ich tatsächlich für Bellizismus und es hinterlässt auch bei mir als Kriegsdienstverweigerer ein ungutes Gefühl. Allerdings beobachtet ich derartige Narrative seltener bei den EntscheidungsträgerInnen in Deutschland. Sasha Lobo hat in einer (mitunter etwas polemisch formulierten) Spiegel-Kolumne vom 20. April auch skizziert, wie man sich seiner Meinung nach Pazifismus nach dem 24. Februar vorstellen kann:

„[…] Skepsis gegen Militarismus, Brechung kriegspositiver Erzählungen, Radikalität bei der Schaffung der Voraussetzungen für Frieden, aber eben auch Akzeptanz des Wunsches von Angriffsopfern, sich zu verteidigen.“

Unter diesem Gesichtspunkt sehe ich eine Welt, in der wir jetzt alles dafür tun, dass die Ukraine als Staat weiter besteht, positiver, als eine Welt, in der wir uns darauf einstellen, die Nato durch Sondervermögen, 2%+ BIP für die Rüstung, etc. auf Jahrzehnte hinaus aufzurüsten.

Was uns schockiert im Westen ist, dass eine europäische Demokratie an unserer Ostflanke, welche uns freundlich gesinnt ist und sich uns anchließes will, von einer konkurrierenden Großmacht von der Landkarte gelöscht werden könnte. Sowas gab es seit Polen 1939 nicht mehr.

Dass Großmächte (auch westliche) gerne das Völkerrecht hin und wieder „großzügig“ auslegen oder einfach ignorieren/brechen, ist eigentlich nichts Neues.

Nein. Die systematische Zerstörung von urbanen Gebieten, Vergewaltigung, Mord, Plünderungen sind nicht ein fundamentaler Teil von westlichen Militärs. Ich sage nicht, dass das nie passieren würde. Solche Vorfälle sind jedoch nie Teil einer grösseren Terrorstrategie gewesen um die Moral der Bevölkerung zu brechen. Das ist ein extrem wichtiger Unterschied.
Im Gegensatz dazu, benutzt das moderne Russland solche Strategien, zumindest gebilligt von „ganz oben“ (aka höhere Regierungskreise) seit den 90ern.

Wie du schon sagst: sowas wäre unverhandelbar für die Ukraine. Wer würde sich denn auf die Garantien eines Staates verlassen, der erst vor kurzem versucht hat den eigenen Staat von der Landkarte zu fegen?

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Was mich an der Diskussion teils irritiert, ist die Einschätzung Russlands.
Manche sind der Ansicht, Putin gibt sich mit der Ostukraine und der Krim zufrieden, dann ist dauerhaft Ruhe (nennen wir es nicht Frieden), das offizielle Mediengemurmel sei nur Säbelrasseln.
Andere Stimmen sehen Russland eher erst dann stoppen, sobald Ukraine faktisch und völkerrechtlich verschwindet und Teil des russischen Staatsgebietes wird. Also kein Säbelrasseln.
Fakt ist: wir alle wissen es nicht.
Aber wie agiert man in dieser Unsicherheit? Maximale Aufrüstung? Gelassenheit? Egoismus?

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Die internationale Ächtung einer solchen Aktion wäre dermaßen enorm, dass selbst China da nicht mehr „neutral“ danebenstehen würde. Außerdem wäre eine westliche Reaktion wahrscheinlich

Außerdem hält diese Begründung keiner geschichtlichen Betrachtung stand: Atommächte sind mehrfach an ihren Kriegszielen gescheitert, ohne Wuklearwaffen einzusetzen (USA; UdSSR; Frankreich; UK; China, Pakistan).

Die höchsten Regierungskreise im Kreml haben deutlich gemacht, was ihr Plan mit der Ukraine ist. Die Amerikaner hatten niemals auch ansatzweise vor, den Irak in den 51. Bundesstaat zu transformieren. Dieser „aber die USA“ Whataboutismus wird immer unangebrachter…

Nein. Die Rhetorik mit der (basierend auf „historische Analysen“ und ethnischer Zusammensetzung) einem Staat das Existenzrecht abgesprochen wird, ist nicht nur „harte Sprache“. Das ist eine sehr starke Verniedlichung einer politischen Sprache, die es seit den 30ern nur sehr selten gab.

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Meint Du das im Hinblick auf Israel oder auf die Ukraine? In der Ukraine waere es eine vorweggenommene Foederalisierung und in Israel halte ich es ja gerade nicht fuer eine weiterfuehrende Loesung. Die gegenwaertige Politik laeuft auf einige „Bantustans“ hinaus, auch wenn wir nicht von Apartheit sprechen wollen oder koennen. Die Juden haben den Holocaust als Volk ueberlebt und koennen sich keinen Fehler erlauben. Hannah Arendt hatte sie schon frueh gewarnt. Einige sind wegen der Sprache nach Deutschland gekehrt, nachdem sie im gelobten Land Lastwagen mit Zement zu Panzern umgebaut und mit dem Chefzensor Schach gespielt hatten. Grundsaetzlich kann ich mir Hamas und die PLO in der Knesset gut vorstellen. Das setzt aber Bildung voraus und daran wird mit Unterstuetzung des Auswaertigen Amtes, das dafuer ein Buero zur Verfuegung stellt, auch gearbeitet. Irgendwann ist es vielleicht so weit.

Vielen Dank. Denn vielleicht sind sie auch da. Ich hab von einer jungen Offizierin gelernt mit einer Menge Video, die ich ausserdem sofort fuer meine Schwester hielt. Der Witz ist, dass man den Bildern niemals glauben darf, Und wenn man nicht weiss, was die andere Seite wollte, kann man nichts sagen. Auch Goldschmidt, der die Dinge in Gaza erst verurteilt hatte, musste dann einraeumen: wenn ich das vorher gewusst haette. Alles dazu und mit Quellen hier. Die Russen mauern und das ist ihr gutes Recht,

https://lieber.westpoint.edu/fact-finding-ukraine-anything-learned-yemen/

Sehr gute Frage, die auch die Frage nach der Moeglichkeit einer ukrainischen Schweiz einschliesst, die @TomCarlos94 bezweifelt hatte. Man muss sich dafuer vielleicht zwei Dinge klarmachen, auch weil Russland das Gas wieder fliessen laesst. Einerseits war auch schon die Sowjetunion vor allem an Stabilitaet interessiert. Und andererseits sind Falken wie William Safire und Joe Biden in der amerikanischen Aussenpolitik Ausnahmen, trotz des zweiten Irakkriegs, wo die Amerikaner entgegen ihren Erwartungen nicht mit Blumen empfangen wurden. Die traditionelle Weltsicht der Amerikaner ist eine multipolare. Es gab gerade keinen Wettbewerb der Systeme. Das war die Politik der friedlichen Koexistenz im sogenannten kalten Krieg. Die Russen haben ueberhaupt keinen Grund, eine neutrale Ukraine zu ueberfallen. Kiew koennte das Genf des Ostens sein und die Russen fahren gerne dahin. Es gehoert ja auch zu ihrer Welt ganz selbstverstaendlich mit dazu. Was auch fuer Kissinger immer selbstverstaendlich war. Das ist mit einem mechanischen Weltbild nicht zu fassen.

Innenpolitisch braucht Putin nichts ausspielen, weil er über ausreichend Medienmittel verfügt, seine Lügen zu verbreiten. Und außenpolitisch folgen seiner Propaganda nur andere Diktaturen. Allenfalls halten sich einige prowestliche Staaten wie Israel aus politik-taktischen Gründen bei der Verurteilung Russlands zurück. Aber auch die kennen die Wahrheit.

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Mir ist nicht ganz klar, ob dieses Insistieren auf dem Israel-Russland-Vergleich eigentlich der Normalisierung Russlands oder der Dämonisierung des jüdischen Staates dienen soll.

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Er und seine Freunde in der Regierung haben es mehrmals offen und direkt gesagt wie sie zum Existenzrecht der Ukraine stehen. Da braucht es auch keinerlei Raum für Interpretationen, er hat es ja schließlich auch (zum Glück) erfolglos versucht.

"Ich kritisiere den mörderischen Krieg ohne Abstriche. Aber wir müssen die Frage stellen, welche Perspektive es über Waffenlieferungen und Geldzuwendungen an die Ukraine hinaus geben kann“, sagte Schily. Konstruktive Ideen seien nötig. „Notwendig ist politische Fantasie.“ (zit n.Tagesspiegel, Link s.o.)

Otto Schily darf das letzte Wort in seinem Geburtstags-Thread haben.