Und wieder mal ein Beispiel, wie die komplexe West-Sahara-Situation und das Verhalten Marokkos in der öffentlichen Aufmerksamkeit einfach nicht stattfindet - obwohl es durchaus relevant ist für Deutschland (Stichworte Siemens, Erdgas, Geflüchtete,…)
Mich hat es ehrlich gesagt schockiert zu sehen, dass ein Außenministerium unter Baerbock in dieser Frage rückschrittig ist und eine Ampelregierung schlechter für die schlimme Lage der Sahrauis ist als eine Groko!
Würde mich sehr freuen über eine Einordnung der Lage.
Der Artikel ist aber wirklich sehr tendenziös und unsachlich geschrieben… Telepolis hat da leider sehr unterschiedliche Qualitäten Da Marokko in der Tat in vielen Aspekten wichtig ist für uns - und das steht ja sogar im Artikel - , würde mich da eine sachliche Einordnung auch sehr interessieren.
Nichts gegen politisch meinungsstarken Journalismus, aber dass ein linker Journalist die Positionen der Linken unterstützt und die Regierung kritisiert, ist jetzt keine große Überraschung… Ich weiß ja nicht, ob ausgerechnet ein Aktivist mit wahrscheinlichen Verbindungen zur ETA eine so seriöse Quelle ist…
Das allein wäre ja noch nicht unbedingt ein Problem, aber da dieser Text so subjektiv ist, fällt es mir schwer zu einer fundierten Einschätzung zu kommen.
Gibt es da auch etwas sachlichere Quellen?
Außerdem, was soll das hier denn bedeuten?
[…] schwenkt das Auswärtige Amt auf die „Trump-Linie light“ ein und propagiert Autonomie statt Selbstbestimmung für die Westsahara.
Mal abgesehen vom dämlichen Trump-Vergleich, ist Autonomie=Selbstbestimmung?! Vllt sollte er den Text lieber nochmal Korrektur lesen…
Für das Verständnis dieses komplexen Konfliktes ist die Wikipedia-Definition von Autonomie tatsächlich nicht sehr hilfreich. ‚Autonomie‘ ist in diesem Kontext klar von Unabhängigkeit abzugrenzen.
Der viel kritisierte Artikel oben hält dagegen das einzig Sachliche hoch, was für internationale Konflikte maßgeblich ist: das Völkerrecht.
Das Völkerrecht räumt jedem völkerrechtlichen Subjekt ein Selbstbestimmungsrecht ein. Marokko bestreitet, dass es ein Volk der Westsahara gibt, ist damit aber schon 1974 vor dem Internationalen Gerichtshof gescheitert (siehe auch Forumsbeitrag https://talk.lagedernation.org/t/urteil-europ-gerichtshof-zur-westsahara-rechtswidrige-praxis-der-eu-spannungen-zw-eu-und-marokko/9891). Auch der Europäische Gerichtshof hat im September 2021 zum fünften Mal bestätigt, dass die Westsahara ein von Marokko getrenntes Hoheitsgebiet ist, dessen ‚Volk‘ ein Recht auf Selbstbestimmung hat.
Selbstbestimmung heißt dabei im besonderen, frei über den politischen Status entscheiden zu können, in der Regel in Form eines Referendums. Die ‚Autonomie‘, um die es im Artikel und auch im Kommentar ging, ist ein Vorschlag Marokkos, der auf die Umgehung der freien Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes der Sahrauis abzielt und ist in dem Kontext klar abzugrenzen von ‚Unabhängigkeit‘. Diese ‚Autonomie‘ sähe gewisse Freiheiten für die Westsahara vor, würde sie aber unter marokkanische Herrschaft stellen und die wichtigsten Bereiche in die Hand des Königs legen. Falls sich das sahrauische Volk in einem freien Referendum für diese Option entschiede, dann wär es so; dies darf aber aus völkerrechtlicher Sicht (aus moralischer Sicht meines Erachtens auch) aber nur im Rahmen eines Referendums passieren, welches die staatliche Unabhängigkeit der Westsahara als Option vorsieht. Marokko lehnt aber genau diese Wahlmöglichkeit in einem Referendum ab und möchte keine Option ohne marokkanische Vorherrschaft zulassen. Das entspräche einfach nicht der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes.
Der Vergleich mit Trump ist auch keineswegs dämlich, denn der ehemalige Präsident hat kurz vor dem Ausscheiden aus dem Amt noch mal eben die US-amerikanische Anerkennung der Souveränität Marokkos über die besetzte Westsahara (völkerrechtswidrig) bekanntgegeben und dabei den Autonomieplan gelobt (steht übrigens auch im Artikel). Letzteres hat die Bundesregierung nun auch getan (nicht nur Baerbock übrigens, es wurde in der Bundespressekonferenz vom 7.1. wiederholt, und im „privaten“ Brief Steinmeiers an den König Mohamed VI auch).
Die Bundesregierung hat bis zum Regierungswechsel den UN-Prozess und dessen Grundpfeiler, das Selbstbestimmungsrecht, unterstützt. Ende 2020, nachdem Marokko durch den Angriff auf sahrauische Zivilisten in der entmilitarisierten Zone rund um die marokkansiche Mauer den Waffenstillstand gebrochen hatte und Trump die Hoheit Marokkos über die Westsahara völkerrechtswidrig anerkannt hatte, berief Deutschland beispielsweise eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates ein. Botschafter Heusgen verteidigte dort das Selbstbestimmungsrecht, was letztendlich einen großen Anteil an den Spannungen zwischen Deutschland und Marokko hatte. Marokko nun für den ‚Autonomieplan‘ zu loben, ist ein Kehrtwende, und ist eben nicht im Einklang mit dem Völkerrecht, da es nicht der Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes entspricht.
Richtig ist auch, dass die EU und Deutschland mit ihrer ‚Grenzpolitik‘ nicht nur Menschenrechte missachten, sondern sich eben auch erpressbar machen von Autokraten wie Erdogan, Lukaschenko und eben auch Mohammed VI. Mit kontrollierten Grenzöffnungen versucht Marokko Druck auf Spanien/EU auszuüben, und das Traurige ist, dass es funktioniert. Dazu kommen andere Mittel, wie der Aussetzung der Zusammenarbeit mit politischen Stiftungen Deutschlands seit rund 1,5Jahren, der Abzugs der marokkanischen Botschafterin etc. Der Schwenk in der Außenpolitik ist ein Versuch der Beschwichtigung, bestärkt Marokko aber in seiner Besatzungspolitik und missachtet die Rechte der Sahrauis und das Völkerrecht.
Es ist daher einerseits relativ klar, dass die „alte“ Bundesregierung Trumps Vorgehen kritisiert hat, der im Rahmen der Anerkennung der marokkanischen Hoheit den Autonomieplan Marokkos nochmals gelobt hatte. Andererseits ist auch klar, dass eben diese Haltung der Bundesregierung einen entscheidenden Anteil an der diplomatischen Krise zwischen Deutschland und Marokko hatte. Dass Marokko seine Botschafterin gerade (24.01.2022) wieder nach Berlin geschickt hat, ist damit ein sehr starkes Indiz dafür, dass die neue Bundesregierung genau das getan hat, wozu der marokkanische König sie gedrängt hat. Das scheint wie ein kleines Detail zu wirken, ist aber Teil des Plans von Marokko, die völkerrechtlichen Grundlagen immer weiter zu verwässern.
Zu Punkt Marokko = wichtiger Partner: warum ist Marokko denn so wichtig?
Zur ‚Flüchtlingsabwehr‘. OK, damit Europa sich die Hände nicht schmutzig machen muss, bezahlen wir (EU) Marokko dafür, Menschen an der Grenze zurückzuweisen, und damit dieser Deal nicht platzt, drücken wir ein Auge bei der Unterdrückung der Sahrauis durch Marokko (anders kann die Lage der Sahrauis in der besetzten Westsahara nicht bezeichnet werden) und bei Völkerrechtsbruch
Energie: schöner ‚grüner‘ Strom und Wasserstoff aus der Wüste für Europa, klingt ja toll. Ohne die Zustimmung der Menschen des Territoriums ist das aber neokoloniale Ausbeutung. Der Strom soll größtenteils in der Westsahara produziert werden.
Profitinteressen: deutsche Konzerne machen fleißig mit und machen Deals mit privaten Firmen des Königs in der Westsahara, wie Siemens Energy z.B.
Terrorismus/Stabilität: wird auch gern angeführt, Marokko sorge für Stabilität. Wie eine Besatzung, und nebenbei auch Repressionen/Einschränkungen der Meinungsfreiheit etc in Marokko selbst, zur Stabilität der Region beitragen sollen, ist mir ein Rätsel. Marokko ist mit Spanien und Algerien durchgehend im Zwist.
Danke, @Tiko, für die spannenden Zusatzinfos! Ich Frage mich auch was @PhilipG mit „tendenziös“ meint, wenn ein Artikel EuGH- und Völkerrichtslinie bestärken will. Wir reden ja hier nicht um eine ungeklärte völkerrechtliche Frage, sondern einen eindeutigen Fall, der aus wirtschaftlichen und politischen Gründen einfach ignoriert wird von fast allen beteiligten Ländern…
Naja, die Wortwahl ist das Hauptproblem. „Erpressung“ kommt viel zu oft vor. Die Handlungen des AA, von Marokko und Borrell werden durchgehend mit negativer, größtenteils umgangssprachlicher Wortwahl beschrieben. Auch das Trump-Framing zu Beginn ist nicht gerade förderlich für einen objektiven Eindruck. Sowas halt. Wenn der Autor darauf verzichtet hätte, könnte man das als seriösen Debattenbeitrag einstufen. So ist es eher Stil aktivistischer Facebookpost.
Hatte jetzt mal Zeit das zu lesen, danke - du hättest wohl besser den Artikel bei Telepolis schreiben sollen, dann hätte ich ihn auch ernst nehmen können^^ Bestärkt aber meinen Wunsch, das Thema mal näher zu beleuchtet zu hören.
Klar, „Erpressung“ ist ein hartes Wort - aber das einzig passende, oder? Wie soll man denn sonst beschreiben, was Erdogan, Lukaschenko, Mohamed, usw. an ihren Außengrenzen machen mit Geflüchteten? Ein besseres Wort als Erpressung fällt mir da nicht ein…
Erpressung ist leider auch 2022 ein gängiges Werkzeug in der Politik, auch in vielen anderen Bereichen und in weniger autoritären Staaten, aber es bringt uns doch nicht weiter, das zu beschönigen!