Ich finde das einen wichtigen Punkt, auch mit der Ergänzung von @Kommentar. Ich bin mir aber nicht sicher, in wieweit es nur um Medienkompetenz und dabei wiederum nur um Ältere geht. Daher versuche ich mich mal an einer Analyse der Gesamtlage:
Wir haben ja keine Situation, in der sich Menschen völlig frei entscheiden „ach, ich lass mich mal gegen XX impfen“ (wie etwa vor einer Südostasien-Reise). Die Impfungen sind zwar formal freiwillig, aber gleichzeitig gibt es eine mehr oder weniger starke gesellschaftliche Erwartungshaltung, dass es gut und notwendig ist, sich impfen zu lassen. Diese wird von weiten Teilen der Gesellschaft geteilt, und es gibt Millionen Menschen, die sich am liebsten sofort impfen lassen würden, egal mit was, Hauptsache es hilft. So weit, so gut. Ich nenne diese Gruppe mal die „Impfwilligen“.
Nun gibt es aber auch sehr viele Menschen, die sich nicht so schnell wie möglich impfen lassen wollen, die vielleicht unsicher sind, die Zweifel haben, vielleicht schlechte Erfahrungen mit Ärzt:innen und/oder Ängste haben oder einfach nur Menschen, die tatsächlich das Gefühl brauchen, für sich selber eine informierte Entscheidung getroffen zu haben und die sich daher sehr viel genauer über mögliche Risiken etc. informieren wollen. Ich nenne diese Gruppe mal die „Zögernden“.
Zugleich gibt es staatliche Behördern, die nach sorgsamer Abwägung bestimmte Impfstoffe zulassen und Empfehlungen aussprechen, wer aus welchen Gründen wann mit was geimpft werden soll. Auch das prägt den gesellschaftlichen Rahmen für die Impfungen mit. Nun ist aber gerade bei AZ das Problem, dass sich diese Empfehlungen in kurzer Zeit mehrfach geändert haben, was sehr viel mehr Unsicherheit als Klarheit produziert hat. Der Rahmen ist dadurch gewissermaßen ins Wackeln gekommen. Genauer genommen hat er aufgrund der unsicheren Liefermengen von Impfstoff schon vorher gewackelt, aber nun halt noch mehr. Und dieses Wackeln wirkt sich auf beide Gruppen - „Impfwillige“ und „Zögernde“ unterschiedlich aus: Die „Impfwilligen“ wittern sozusagen ihre Chance und machen Druck, die Priorisierung abzuschwächen oder gleich ganz zu lassen. Und bei den „Zögernden“ wächst die Unsicherheit noch, zum Teil so stark, dass sie sich zwar nicht gegen eine Impfung entscheiden, aber doch klar gegen einen bestimmten Impfstoff.
Nun kommt ein wichtiger Punkt: Angesichts der ambivalenzen Ausgangssituation - einerseits ist Impfen freiwillig, andererseits gibt es die gesellschaftsliche Erwartungshaltung - sind beide Positionen erst mal vollkommen legitim.
Das erkennen aber m. E. weite Teile von Politik, Öffentlichkeit und Gesellschaft nicht an. Stattdessen tendieren sie dazu, - in der ohnehin polarisierten Situation - beide Gruppen gegeinenander auszuspielen, und bestehende Unsicherheiten zu negieren, statt sie zu thematisieren. Es gibt - zumindest meinem Eindruck nach, die Tendenz, zu sagen „Das wurde doch alles geprüft, die Nebenwirkungen sind vernachlässigbar, eine Erkrankung wäre auf jeden Fall schlimmer, also ist es sicher“. Gleichzeitig gibt es ein Blame-Game mit festen Gruppen- und Rollenzuschreibungen á la „Die AZ-Verweigerer Ü60 nehmen Jüngeren den Impfstoff weg und verlangsamen so die Impfungen insgsamt“. Oder bei anderen entsprechend „Die jungen Vordrängler sind einfach nur egoistisch und nehmen den älteren Risikopatient:innen den Impfstoff weg.“ Dabei geht es tatsächlich ja gar nicht um Ältere vs. Jüngere, sondern um unterschiedliche Haltungen zum Impfen: Nicht alle Älteren lehnen AZ ab, nicht alle Jüngeren wollen sofort geimpft werden.
Ziel der Politik müsste es sein, die Bedürfnisse beider Gruppen zu bedienen, das heißt für die „Impfwilligen“ einen schnellerer Zugang zu Impfungen zu schaffen (was ja mit der Freigabe von AZ und Janssen auch erfolgt), aber eben auch für die „Zögernden“ verbesserte Informations- und Beratungsangebote zu schaffen, die eine fundierte individuelle Entscheidung ermöglichen, und zwar ohne eine bestimmte individuelle Entscheidung nachezulegen, sondern diese bewusst offen zu lassen. Ärzt:innen könnten dies wohl gut leisten, sind aber gerade völlig überlastet, einerseits von dem Ansturm der „Impfwilligen“ und andererseits von sich teilweise ständig ändernden Einschätzungen und Regelungen. Meiner Meinung nach klafft da eine ziemliche Lücke und in die treten dann ominöse YouTube-Kanäle und Bücher wie das von Clemens Arvay.
Und jetzt wird es noch komplizierter: Es gibt nämlich noch eine dritte Gruppe: Leute, die sich gar nicht kümmern, die keine hohe Gesundheitskompetenz haben, die kaum zu Ärzt:innen gehen, die sich nicht informieren, die schwer zugänglich sind etc. Um die mit ins Boot zu holen - und damit meine ich, sie zu überzeugen und nicht sie zu überreden - sind nochmal ganz andere Maßnahmen nötig. Da wird es nicht reichen, ab und zu mal einen Bus in ein Plattenbauviertel zu schicken. Das wird sicher ab Sommer noch mal so richtig Thema, wenn die „Impfwilligen“ versorgt sind und die „Zögernden“ sich entschieden haben.
Aber warum auch nach zielgruppenorientierten Lösungen suchen, wenn man sich auch gegenseitig beschuldigen kann und warum Probleme antizipieren und rechtzeitig Konzepte entwickeln, wenn man abwarten kann, bis der Schuh richtig drückt.