Asylrecht und Einreise über sichere Drittländer (GG 16a Abs 2)

Durch den Anschlag von Solingen ist ja unter anderem das Asylrecht wieder im öffentlichen Diskurs.
Im konkreten Fall wurde ja relevant, dass der mutmaßliche Täter über Bulgarien eingereist war, aber hier einen Asylantrag stellte.

Mich würde hier eine rechtliche und politische Einordnung interessieren, wie das Asylrecht und seine Ausnahmen im GG mit der Migrationspolitik der Regierung / der Parteien im Bundestag zusamenpasst.

Ein „talking point“ gerade aus rechten Kreisen ist ja, dass GG16 Abs 2 das Asylrecht aus GG 16 Abs 1 für viele Asylsuchende aufhebt:
Keinen Anspruch auf Asyl hat, „wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist“.
Quelle: Art 16a GG - Einzelnorm

Meines Wissens ist Deutschland komplett von solchen „sicheren Drittländern“ bzw. „Mitgliedsstaaten der EU“ umgeben. In diesem Fall gäbe es doch nur einen Weg, in Deutschland das Asylrecht zu erlangen: durch Einreise mit dem Flugzeug. Mein Eindruck ist aber, dass dies im Großteil der Fälle nicht der Einreiseweg für Asylantragsteller ist.
Noch 2019 waren es nur ein Drittel:
Quelle: Migration: Ein Drittel der Asylsuchenden per Flugzeug eingereist | ZEIT ONLINE

Wenn also die Rechtslage so vermeintlich eindeutig ist, wie kann es dann sein dass Asylanträge wie im Fall von Solingen erst nach 2 Jahren zu einer Entscheidung zur Abschiebung führen?
Müsste hier nicht eine „Schnellprüfung“ auf den Einreiseweg schon direkt zur Ablehnung und Ausweisung an einen Drittstaat führen?
Habe ich hier etwas übersehen? Sieht die Rechtspraxis anders aus?

Wie kommt es, dass so ein Passus im GG steht, wo doch alle Regierungen der vergangenen Jahrzehnte explizit pro Migration waren?

Zur Klarstellung: ich möchte nicht argumentieren dass das pauschale Ausweisen von Asylbewerbern richtig ist, sondern möchte verstehen wieso die Gesetzeslage scheinbar so restriktiv ist, wenn sie nicht zu den Prinzipien der großen Parteien passt.

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Weil der Gesetzgeber vor den rechtsextremen Molotov-Werfern von Rostock-Lichtenhagen (1992) und Solingen (1993) eingebrochen ist. Der „Asylkompromiss“, der zur Grundgesetzänderung führte, war nicht zufällig 1992/93… Ich zitiere dazu mal Wizo, denn besser kann ich es in eigenen Worten nicht sagen:

Exakt das ist das Problem mit der Dublin-Regelung. Nach dieser Regelung tragen Italien, Griechenland, Spanien und - in geringerem Ausmaß - Bulgarien, die alleinige Last der Süd-Nord-Migration, und das kann ganz offensichtlich nicht im Sinne einer funktionierenden EU sein. Genau deshalb kann Deutschland hier nicht pauschal alle Asylbewerber ablehnen, sondern muss schon, um den Frieden der EU zu wahren, einen Teil der Last übernehmen. In der Regel erfolgt das über Abkommen mit den anderen EU-Staaten, in der Praxis dadurch, dass man nicht darauf beharrt, jeden wieder abzuschieben.

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Ich denke ich verstehe den Gedanken bzw. die Begründung wieso man nicht auf der festen Einhaltung des Dublin Abkommens beharrt. Ich würde zwar in Frage stellen wieso Griechenland und Italien solche Abkommen überhaupt erst unterschreiben, aber das ist wohl ein anderes Thema.

MIch würde interessieren, wie eine deutsche Regierung und ihre Behörden einfach beschließen können, das Grundgesetz nicht anzuwenden.
Mein letzter Stand war, dass europäische Verordnungen und Gesetze in deutschem Recht abgebildet werden müssen.

Könnte eine Regierung auch beschließen, andere Teile des GG einfach nicht anzuwenden?

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Der Attentäter von Solingen hat keinen Asylstatus anerkannt bekommen, sondern subsidiären Schutz. Entsprechend liegt hier kein Konflikt zum GG vor.

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Dem liegt ein Missverständnis im Hinblick auf Grundrechte zu Grunde.
Grundrechte geben dem Menschen Rechte gegenüber dem Staat, nicht umgekehrt.

Art. 16a Abs. 2 GG sagt schließlich, dass sich die genannte Gruppe nicht auf Absatz 1 berufen kann, er sagt nicht, dass Absatz 1 auf diese Gruppe unter keinen Umständen angewandt werden darf.

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Dublin wurde ja durch Dublin-II ersetzt. Nun kenne ich den Fall nicht. Wenn aber der erste Asyl-Antrag in Deutschland gestellt wurde, ist Deutschland zuständig. So gibt es immer wieder Berichte, dass Asylbewerber in Passau von der Polizei illegaler Weise die Einreise verboten und nach Österreich zurückgeschickt werden mit der Behauptung, Österreich sei zuständig. In Wahrheit müsste die Polizei erst prüfen, ob bereits ein Asyl-Antrag in einem anderen Land gestellt worden ist.

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Mal das aktuell oft zitierte Beispiel Dänemark:

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Migrationsminister Kaare Dybvad ist stolz auf seine Bilanz. Tatsächlich ist die Zahl der Asylanträge in Dänemark stark gesunken. „Wir sind erfolgreich, was abgelehnte Asylbewerber angeht“, sagt der Sozialdemokrat.

Wie unterschiedlich doch politische Strömungen in Europa im Detail ausfallen können.

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Wieso unterschiedlich? Wir haben einen sozialdemokratischen Kanzler, der „im großen Stil abschieben“ will.

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Interessant sind die Zahlen:
Asylanträge sind wieder weit unter 500.000 gefallen, dieses Jahr wird mit 260.000 gerechnet.
Gleichzeitig wurden, laut Aussage des Ministeriums 20% mehr abgeschoben als letztes Jahr.
Dem öffentlichen Diskurs tut das keinen Abbruch, da die gefühlte Wahrheit von der Realität unabhängig ist.

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Vielleicht hilft die absolute Zahl zu Einordnung: 9500 Abschiebungen im 1. Halbjahr 2024

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500.000 Asylanträge letztes jahr gegen 9500 Abschiebungen im ersten Halbjahr dieses Jahr.
Es hätten eigentlich 24000 Abschiebungen sein sollen, aber bei über der Hälfte gab es Probleme.
Quelle: BR

Man beachte auch, dass die Bearbeitsungszeit für Asylanträge immer noch in Jahren gemessen wird: Der Täter von Solingen bekam seine Ablehnung nach 2 Jahren.

Würde man durch Grenzkontrollen konsequent jeden aus Österreich, Polen etc. abweisen, würde die Anzahl der Anträge in Deutschland massiv zurückgehen, was zu schnellerer Bearbeitung führen würde.
Das ist auch für die Asylsuchenden gut. Diejenigen die ihren Antrag genehmigt bekommen, kann man dann auch besser betreuen/ integrieren, wenn die Ressourcen dafür auf weniger Asylsuchende verteilt werden

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Diese Info ist aber am Ende wirklich nur eine Zahl und jenseits von Populismus nicht verwertbar.

Viel entscheidender ist doch bei diesen geringen absoluten Zahl auch wer abgeschoben wurde. Wenn die zusätzlichen Abschiebungen Straftäter und Gefährder waren wäre das in der Tat ein positives Signal, wenn es aber gut integrierte Menschen betrifft, die einfach abgeschoben werden können weil alle Dokumente vorliegen, dann wäre diese Steigerung sogar eher ein Zeichen von schlechter Arbeit.

Ich komme aus einem Landkreis wo unverständliche Abschiebungen regelmäßig die Zeitung gefüllt haben. Da war eine Abiturientin aus Südostasien die nach dem Abitur trotz Studienplatz abgeschoben werden sollte, weil ihr Schutzstatus mit dem 18 Geburtstag abgelaufen ist. Dass sie weder ihre Heimatsprache spricht weil die Eltern sie als Baby in Deutschland schon auf Deutsch erzogen noch soziale Kontakte im Heimatland hatte war egal. Ich muss sagen ich weiß nicht was am Ende aus dem Fall geworden ist, aber in anderen Fällen wurde und wird tatsächlich auch abgeschoben wenn Leute hier bestens integriert sind und Arbeit oder Ausbildung haben, auch in gefragten Berufen.

Das sieht in der Statistik dann erstmal gut aus, aber am Ende ist es gesellschaftlich gesehen dann doch Kontraproduktiv.

Dazu müsste es erstmal wirklich flächendeckende Grenzkontrollen geben, also nicht Alibi an Autobahnen sondern kleine Grenzübergänge müssten wieder geschlossen werden, die verbleibenden mit ausreichend Personal wirklich jeden kontrollieren, also nicht nur mal ins Auto schauen sondern wer die Grenze übertritt muss seinen Pass vorzeigen. Und es müsste auch das Gelände kontrolliert werden.

Mir wäre dieser Schritt zurück ehrlich gesagt die Zahl der Fälle die man dadurch reduziert nicht wert.

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Dublin ist ein Witz. Nach der Bestimmung in ihrer konsequenten Durchführung wäre Deutschland „fein raus“. Das kann ja wohl nicht richtig sein.

Und das ist eine naheliegende Folge, wenn von oben öffentlichkeitswirksam vorgegeben wird „wir müssen mehr abschieben“. Da sind gut integrierte natürlich erst mal „low hanging fruits“.

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Deshalb finde ich die Forderung mehr Abschieben erstmal zu einfach. Ich bin auch durchaus der Meinung, dass Gefährder und Straftäter sowie Menschen die offensichtlich nicht bereit sind sich zu integrieren abgeschoben werden, ich habe da in den Fällen die keine spezielle Verfolgung zu befürchten haben auch mit Syrien und Afghanistan relativ entspannt.

Mir wäre aber lieber es werden nur 3.000 Menschen abgeschoben, dabei aber eben ausschließlich Leute aus diesen Gruppen als es werden 9500 Menschen abgeschoben und davon sind dann 7.000 genau diese Integrierten mit Job und sozialem Umfeld hier.

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Man darf ja auch nicht vergessen, dass sich mindestens drei Parteien (CDU, CSU, AFD und arguably BSW) von der anhaltenden Diskussion über Migration einen politischen Vorteil erhoffen. Deshalb funktionieren Debatten über Migration oft auch faktenunabhängig.

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Wenn andere Länder Verträge unterschreiben die zu ihrem Nachteil sind, ist das erstmal nicht das Problem Deutschlands. Auch die EU behandelt nicht jedes Land absolut gleich.
Selbst wenn Dublin eingehalten würde, könnte sich Deutschland ja noch überlegen mehr aufzunehmen als vertraglich verlangt.

Die jetzige Situation ist aber, dass Verträge und Gesetze bestehen, aber Regierungen bei uns und im EU Ausland diese einfach ignorieren. In einem Rechtsstaat sollte das nicht die Norm sein.
Das war der Kern meiner Frage.

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351.915

Diese Zahl steht halt in keinem Verhältnis, was dem Thema alles an Folgewirkung zugeschrieben wird

Das ist ein sehr fragwürdiges Argument, dass Du dann sofort selbst ad absurdum führst.

Na, warum ist dass denn so? Weil die Dublin-Regelung sich als absoluter Fehler erwiesen hat! Alle Länder außerhalb der EU-Peripherie waren fein raus, und haben die Länder auf der EU-Peripherie, die auf den Flüchtlingsrouten lagen, mit ihren massiven Problemen einfach allein gelassen. Auch Deutschland!

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