Aiwanger: Skandal um antisemitisches Flugblatt - Unschuldvermutung

Ach komm! Aus deinem Eingangsstatement:

Das würde ich als Journalist der SZ schon als Vorwurf verstehen.

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Ich sehe irgendwie überhaupt kein Anzeichen, dass ausgerechnet die SZ sich „verrannt“ hat. Ganz im Gegenteil. Der Skandal ist jetzt fast eine Woche alt. Aiwanger selbst hat vorher versucht, als er um Stellungnahme gebeten wurde, die Veröffentlichung mit der Androhung juristischer Schritte zu verhindern. Als die SZ trotzdem publizierte, und der Bruder sich unmittelbar zur Verfassung des Flugblatts bekannte, spekulierten bekannte Juristen auf Twitter bereits, wie schnell am Montag (dem 28.) die Pressekammern irgendwelcher Landgerichte dieser offensichtlich unausgegorenen Berichterstattung doch einen Riegel vorschieben würden. In der Affäre Lindemann hatte man doch bspw. gesehen, wie schnell selbst einzelne nicht 100% belegbare Aspekte an einer Geschichte sofort einstweilige Verfügungen nach sich ziehen konnten.

Aber… irgendwie passierte nichts davon. Entweder die Gerichte, bei denen Aiwanger vorstellig wurde, haben ihn angesichts seiner „Belege“ ausgelacht, oder seine eigenen Anwälte haben ihn gebremst und vom Gang zum Gericht abgehalten. Offenbar scheinen nicht einmal einzelne weithin als Fakt berichtete Behauptungen der Aiwangers, wie dass angeblich der Bruder das Pamphlet geschrieben hat, gerichtstauglich zu sein. Stattdessen wird Aiwanger quasi jeden Tag einer neuen Lüge überführt. Nichts, was die SZ geschrieben hat, hat sich bisher wirklich eindeutig als falsch erwiesen.

Stand heute sieht es daher für mich eindeutig so aus, dass die Berichterstattung der SZ der Schmutzkampagne von rechts klar standgehalten und sich behauptet hat, und dass der Gegenangriff Aiwangers und seiner Getreuen sich als Luftnummer entpuppt und eher noch gegen ihn gewendet hat.

Dass seine Partei daran Umfragen zufolge vielleicht trotzdem keinen Schaden nimmt, sagt dagegen eher wenig über die Recherchequalität der SZ, aber ziemlich viel über das Wählerklientel von Aiwangers Partei aus.

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Daily Aiwanger:

Inzwischen haben sich zwei weitere Mitschüler bei der Süddeutschen Zeitung gemeldet. Ihre Aussagen decken sich mit dem, was zuvor bereits andere gesagt haben: Hubert Aiwanger habe als Jugendlicher eine rechtsextreme Gesinnung gezeigt. Stephan Winnerl war eine Klasse über Hubert Aiwanger und in den drei Schuljahren von 1985/86 bis 1987/88 Schülersprecher am Burkhart-Gymnasium. […]

Winnerl berichtet von einem Vorfall von Hakenkreuz-Schmierereien am Schulklo, über den er als Schülersprecher mit dem Direktor gesprochen habe. Hubert Aiwanger sei deswegen überführt worden, das habe ihm der Direktor bestätigt. „Möglicherweise war dieses Ereignis ein Hinweis, dass man Hubert sofort wegen des Flugblattes auf dem Schirm hatte, aber das ist Spekulation meinerseits, es kann genauso gut sein, dass es die Summe seines Auftretens war“, sagt Winnerl.

Ein Klassenkamerad Aiwangers, der aus Furcht vor persönlichen Angriffen anonym bleiben will, versicherte seine Einschätzung der SZ: „Er war durch und durch ein Nazi.“ Beispielsweise habe Aiwanger des Öfteren das „Horst-Wessel-Lied“ angestimmt - die verbotene Parteihymne der Nationalsozialisten. Der Zeuge bestätigte die Aussage einer Klassenkameradin, wonach Aiwanger zudem einmal Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ mit sich geführt habe.

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Sehr gute Analyse von Samira El Quassil und Friedemann Karig
https://open.spotify.com/episode/6qzDZnouWAnW1Kd0rEBy2D?si=KSiBMjIsSs-lRY2DjVdKnw
Wie sich Aiwanger selbst zum Opfer stilisiert und Energie für Diskussionen „Wie war was ganz genau damals?“ verbraucht wird, obwohl es um etwas ganz anderes geht. Wie verhält er sich heute dazu?
Sehr tiefe (auch sprachliche) Analyse.

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Ich habe mir heute die Zeit genommen und von @less_ink (weniger Tinte?) empfohlene Lanz-Sendung mit dem für die Aiwanger-Berichterstattung zuständigen leitenden SZ-Redakteur geschaut.

Vor dem Hintergrund diese Sendung, nach allem, was in den letzten Tagen noch alles über Aiwanger bekannt geworden ist und auch durch das eine oder andere Argument hier, ziehe mich meine Kritik an der SZ zurück.

Aiwangers heutiges Verhalten in Bezug auf die bekannt gewordenen Verfehlungen ans 17-jähriger sind nicht akzeptabel.

Ohne die Verdachtsberichterstattung der SZ wären vermutlich diese Dinge zumindest nicht in diesem Umfang bekannt geworden.

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Lieber Til, das finde ich eine tolle Reaktion. Chapeau!

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Danke für diese Reaktion.

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Marina Weisband hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass Aiwanger neben der angeblichen „Schmutzkampagne“ sogar von einer „Instrumentalisierung der Schoa“ spricht. Da erübrigt sich jeder Kommentar.
Quelle: Hubert Aiwanger entschuldigt sich, bleibt im Amt – und wirft Medien Kampagne vor - DER SPIEGEL

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Mehr noch: Den Satz von der „Instrumentalisierung der Schoa“, der in einem Interview mit der WELT abgedruckt ist, hat Aiwanger gar nicht live gesagt, sondern später im Rahmen der Interview-Autorisierung nachträglich hinzugefügt. Das hat er also nicht irgendwie schnell dahergeredet, sondern ganz bewusst so gesetzt.

https://twitter.com/Hoellenaufsicht/status/1697271107500356095
https://twitter.com/Tim_Roehn/status/1697566197183627435

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Die Hinweise auf die Sendung kamen von @CB87 und @MarkusS, nicht von mir.

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Im heutigen SZ-Podcast „Auf den Punkt“ gibt es ein Interview mit dem Antisemitismusexperten Wolfgang Benz, in dem das Thema differenziert betrachtet wird ( SZ-Podcast: Warum das Flugblatt keine Jugendsünde von Aiwanger ist - Politik - SZ.de , ab ca. 3:14).
Relevant ist vor allem Aiwangers heutiges Verhalten, darauf wird im Interview ab ca. 12.40 eingegangen.

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Den „daily Aiwanger“ übernehme ich heute mal. Die 25 Fragen und Antworten sind öffentlich (etwa hier):
Die Kurzfassung: Aiwanger sagt nichts Neues. Obwohl es angeblich ein „einschneidendes Erlebnis“ für ihn war und er angeblich „erschrocken“ war, als er das Flugblatt zum ersten Mal gesehen hat, sagt er eigentlich zu jeder interessanten Frage: „Daran kann ich mich nicht erinnern“. Er bleibt sogar bei der abstrusen Geschichte, sein Bruder habe das Flugblatt geschrieben, weil er Probleme in der Schule hatte. Ein Schmankerl möchte ich Euch nicht vorenthalten:
Gefragt zu den Vorwürfen, er habe als Schüler eine Nähe zu „nationalsozialistischem Gedenkengut“ gehabt, sagt Aiwanger:

Ich habe als Jugendlicher auch Fehler gemacht, die mir heute leidtun. Ich bereue, wenn ich durch mein Verhalten in der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden. Jedem Menschen muss auch ein Entwicklungs- und Reifeprozess zugestanden werden.

Und Söder, der vorher immer sagte, das reiche nicht, das müsse „restlos aufgeklärt“ werden sagt nun zu denselben Aussagen Aiwangers: Wunderbar, dann ist ja jetzt alles geklärt und wir können endlich weitermachen.mit dem Wahlkampf.

Amen.

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Gut, dass sein Bruder sich öffentlich geäußert hat, so konnte er wenigstens ein paar Fragen trotz großer Erinnerungslücken beantworten. :smile:

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Wenn die Vergessens-Strategie auf der obersten Ebene beim Kanzler funktioniert, wird es das bei Aiwanger vermutlich auch. Die Gesellschaft hat sich ja vor 2 Jahren an der Wahlurne dafür entschieden, dass eine gezielte Täuschung toleriert wird. Finde ich schade.

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Ich würde mir wirklich wünschen, wenn jeder hier mal seinen Gefühl für Plausibilität einschaltet.

Vielleicht bist Du zu jung dafür. Aber ich kann mich tatsächlich auch nicht an Details einzelner Ereignisse von vor 35 Jahren erinnern. Auch an jene, wo ich mit furchtbaren Herzklopfen vor dem Schuldirektor stand (ich glaube, weil ich zum x-ten Mal dabei erwischt wurde, wie ich mich in den Pausen noch im Schulgebäude aufgehalten habe). Ich weiß nur, dass mir ordentlich der Kopf gewaschen wurde. Ob ich eine Strafe bekommen habe, bin ich mir nicht sicher (ich musste mal den Schulhof auffegen, aber ob das dafür war, weiß ich nicht mehr). Nach so langer Zeit verschwimmen die Erinnerungen, geraten durcheinander, und irgendwann weiß man nicht, ob man sich wirklich erinnert oder sich seine Vergangenheit logisch zurammenreimt.

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Ich will überhaupt nicht bestreiten, dass man sich nach so langer Zeit bestimmt nicht mehr an jedes Detail erinnert. Aber es geht hier eben nicht nur um die Details. Wenn Aiwanger sogar mehrmals vorfühlen ließ, ob ihm das Flugblatt wohl noch zum Verhängnis werden könnte, weiß er zudem garantiert mehr als er vorgibt. Sein ganzer Umgang deutet darüber hinaus an, dass er entweder nicht verstanden hat, welche politische Dimension das Ganze hat (was ich nicht glaube), oder er versucht es ganz bewusst zu verharmlosen und zu entpolitisieren. Aber welches Interesse sollte er daran haben, wenn er sich glaubhaft von jeglichen rechtsextremen Ansichten gelöst hat? Dann könnte er ja genau damit viel besser punkten.

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Aiwanger kann sich offensichtlich sehr genau daran erinnern, dass er das Schriftstück nicht verfasst hat. Alles andere ist ihm angeblich nicht mehr erinnerlich. Wichtig finde ich aber: Er bestreitet weiterhin nicht, dass er das Flugblatt verteilt hat.

Wie kann jemand, der glaubhafte Vorwürfe des Antisemitismus verächtlich macht, als Schmutzkamapgne und Instrumentalisierung der Shoa diffamiert (durch wen denn, durch die jüdischen Institutionen, die ihn kritisieren?), wie kann so jemand in einem politischen Amt bleiben?

Im Land der Täter gilt seit jeher: Der Vorwurf des Antisemitismus wiegt immer schwerer als der Antisemitismus selbst.

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An ein solches Flugblatt erinnert man sich, egal wie lang es her ist.

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Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern [Quelle]:

Er [Hubert Aiwanger] hat sich bei mir gemeldet. […] Ich habe die Entschuldigung nicht angenommen. […] Das ist das was ich von Aiwanger momentan halte.

Weiteres von Wolfgang Benz [Quelle]:

Der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, Wolfgang Benz, kritisierte Söders Vorgehen als „verheerend“.

„Es bestürzt mich als Bürger, wie wenig sich Aufklärung durchsetzt“, sagte der Historiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Söders Entscheidung ist schwierig bis verheerend. Ob das eine Zäsur ist, werden wir nach der Landtagswahl wissen.“

Pressemitteilung des Internationalen Auschwitz Komitees [Quelle]:

Der politische Flurschaden, den Hubert Aiwanger trotz seiner Entschuldigungs- und Erklärungsversuche tagtäglich verursacht und die gesellschaftliche Spaltung, die er mit seinen egomanischen Redereien weiter anfacht werden zunehmend größer und greifen mittlerweile auf die gesamte Bundesrepublik über. Jeder öffentliche Auftritt des Politikers, sei es im Bierzelt oder auf dem Festplatz, gerät zu einer demonstrativ beklatschten Unterstützung seiner Flugblatt-Aussagen und auch seiner Attacken, er sei Opfer einer „Schmutzkampagne“ und solle politisch „vernichtet“ werden. Allein der gewählte Begriff „Vernichtung“ ist für Überlebende des Holocaust in diesem Zusammenhang aus dem eigenen Erleben heraus unangemessen und unerträglich. All diese Geschehnisse der vergangenen Tage lassen die rechtsextreme Szene in Deutschland jubeln und führen im Gegensatz hierzu zu einer zunehmenden Verstörung und Veränderung des Bildes, das Überlebende des Holocaust von der deutschen Politik und der von ihr geförderten Erinnerungskultur bisher hatten.

Herr Aiwanger als Politiker der ersten Reihe täte seiner Würde, seiner Partei und der deutschen Gesellschaft einen großen Gefallen, wenn er sich aus eigenem Entschluß heraus eine Auszeit nehmen und Ministerpräsident Söder um seine Entlassung bitten würde.

Marina Weisband [auf Mastodon]:

Die deutsche Erinnerungskultur steht auf einer prekären Grundlage: Es ist unangenehm, wenn jemand anders Opfer ist; besonders Opfer der eigenen Vorfahren. Das meinte Zwi Rex mit „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“. Die Leute, die #Aiwanger zujubeln, sehen ehrlich nichts Schlimmes in antisemitischen Witzen. „Wir haben doch früher auch solche Witze gemacht“, können sie sagen. Seine Opferrolle ist für ihn deshalb politisches Kapital.

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Michel Friedman hat sich auf NDR Info auch in dem Tenor geäussert.

Er sagte das Söder das Problem schon richtig beschrieben hat, er aber aus den Aussagen und Antworten von Aiwanger die falschen Schlussfolgerungen gezogen hat.