Ihr habt euch darüber gewundert, dass es scheinbare Knappheit von Impfstoffen und zu wenig Kapazität für Impfungen gibt und interpretiert das als Versagen vorausschauender Planung. Einschränkend würde ich erstmal sagen, es ist ein Irrtum, dass Auffrischimpfungen für die gesamte Bevölkerung seit langem als klare Notwendigkeit erachtet wurden.
Die deutsche Politik ist Ende des Sommers zu dem Schluss gekommen, dass man gefährdete Personen nachimpfen sollte. Einer der entsprechenden Beschlüsse der Gesundheitsministerkonferenz im August: https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?uid=221&jahr=2021
(Gerade die Gesundheitsministerkonferenz wird oft übersehen. Dieses Gremium war immer deutlich näher an den Realitäten der Epidemie dran.)
Man muss auch sagen, dass entgegen eurem Eindruck gerade Spahn sich dafür eingesetzt und einiges an Widerstand bekommen hat. Beispiel von Anfang September: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/spahn-verteidigt-auffrischungsimpfungen-fuer-risikogruppen
„Ich will nicht warten, bis in den Pflegeheimen wieder Menschen sterben“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er verteidigte damit das Vorgehen, die Auffrischungsimpfungen für Senioren und immungeschwächte Menschen vor einer Empfehlung der Ständigen Impfkommission vorzunehmen. „Dass wir jetzt mit den Booster-Impfungen begonnen haben, ist vorausschauendes, vorsorgliches Handeln. Damit schützen wir Menschenleben .“
Beispiel von Ende Oktober: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-booster-impfung-kritik-spahn-100.html
Auffrischungsimpfungen, die sogenannten Booster, werden von der Ständigen Impfkommission (Stiko) bisher nur für Über-70-Jährige, Vorerkrankte und bestimmte Berufsgruppen empfohlen. Da überrascht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit der Aussage, dass eine solche Impfung grundsätzlich für jeden möglich sei - und zieht heftige Kritik auf sich, insbesondere von Ärztevertretern.
„Für die Notwendigkeit von Auffrischimpfungen für Menschen jeglichen Alters gibt es bisher keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz“, sagt beispielsweise Ärztepräsident Klaus Reinhardt gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND). Vorstandsmitglied des Hausärzteverbands Armin Beck sagte dem RND, die Hausärzte folgten nur der Empfehlung der Stiko.
Daran sieht man auch, dass die Dimension einer Kampagne für Auffrischimpfungen zunächst ganz anders eingeschätzt wurde und sich erst kürzlich zu dem Punkt entwickelt hat, wo alle es für offensichtlich halten, dass man alle Geimpften nochmal impfen muss.
Was war also die erwartete Nachfrage? Ich würde sagen man wäre trotz Spahns Ausweitung des Anspruchs froh gewesen die Personen über 70 Jahre und andere Gefährdete tatsächlich zu erreichen, vom Umfang vielleicht 15 Millionen Dosen. Die Kinder unter 12 bekommen ihren eigenen Impfstoff, der zählt nicht mit rein. Und mit viel mehr Erst- und Zweitimpfungen hat wohl kaum jemand noch gerechnet. Da wären 10 Millionen Dosen, also weitere 5 Millionen Geimpfte oder 6% der Bevölkerung schon eher ein best case. Insofern kann man vielleicht sehen, dass hier eine deutliche Diskrepanz in der Erwartung bestand: Maximal 25 Millionen Dosen für Auffrischungen und Neuimpfungen über einen längeren Zeitraum in den Winter hinein verteilt, die bis zum November auch nur verhalten nachgefragt wurden, und der jetzigen Nachfrage, wo kurzfristig wieder Millionen Dosen verimpft werden und wohl um die 20 Millionen Personen für eine Drittimpfung im Dezember in Frage kommen.
Zum Nachteil anderer Länder, die gerne unsere längere Zeit brachliegenden Überschüsse genommen hätten - und ich schätze jetzt zu unserem Vorteil - haben wir aber wohl doch genug im Land behalten. So dass es wohl keine wirklichen Abdeckungsprobleme gibt, sondern nur die Haklichkeiten, die Impfinfrastruktur wieder hochzufahren.
Das Problem war also eher, dass man die gegenwärtige Intensität der Epidemie nicht ausreichend als Möglichkeit gesehen und im zweiten Schritt einen sich daraus ergebenden Anstieg der Nachfrage antizipiert hat. Man kann zum gleichen Schluss eines Planungsversagens kommen, aber die frühe Offensichtlichkeit dieses Ausmaß an Nachfrage würde ich bestreiten.