268: Nachfrage nach Impfungen war schwer absehbar

Ihr habt euch darüber gewundert, dass es scheinbare Knappheit von Impfstoffen und zu wenig Kapazität für Impfungen gibt und interpretiert das als Versagen vorausschauender Planung. Einschränkend würde ich erstmal sagen, es ist ein Irrtum, dass Auffrischimpfungen für die gesamte Bevölkerung seit langem als klare Notwendigkeit erachtet wurden.

Die deutsche Politik ist Ende des Sommers zu dem Schluss gekommen, dass man gefährdete Personen nachimpfen sollte. Einer der entsprechenden Beschlüsse der Gesundheitsministerkonferenz im August: https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?uid=221&jahr=2021

(Gerade die Gesundheitsministerkonferenz wird oft übersehen. Dieses Gremium war immer deutlich näher an den Realitäten der Epidemie dran.)

Man muss auch sagen, dass entgegen eurem Eindruck gerade Spahn sich dafür eingesetzt und einiges an Widerstand bekommen hat. Beispiel von Anfang September: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/spahn-verteidigt-auffrischungsimpfungen-fuer-risikogruppen

„Ich will nicht warten, bis in den Pflegeheimen wieder Menschen sterben“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er verteidigte damit das Vorgehen, die Auffrischungsimpfungen für Senioren und immungeschwächte Menschen vor einer Empfehlung der Ständigen Impfkommission vorzunehmen. „Dass wir jetzt mit den Booster-Impfungen begonnen haben, ist vorausschauendes, vorsorgliches Handeln. Damit schützen wir Menschenleben .“

Beispiel von Ende Oktober: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-booster-impfung-kritik-spahn-100.html

Auffrischungsimpfungen, die sogenannten Booster, werden von der Ständigen Impfkommission (Stiko) bisher nur für Über-70-Jährige, Vorerkrankte und bestimmte Berufsgruppen empfohlen. Da überrascht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit der Aussage, dass eine solche Impfung grundsätzlich für jeden möglich sei - und zieht heftige Kritik auf sich, insbesondere von Ärztevertretern.
„Für die Notwendigkeit von Auffrischimpfungen für Menschen jeglichen Alters gibt es bisher keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz“, sagt beispielsweise Ärztepräsident Klaus Reinhardt gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND). Vorstandsmitglied des Hausärzteverbands Armin Beck sagte dem RND, die Hausärzte folgten nur der Empfehlung der Stiko.

Daran sieht man auch, dass die Dimension einer Kampagne für Auffrischimpfungen zunächst ganz anders eingeschätzt wurde und sich erst kürzlich zu dem Punkt entwickelt hat, wo alle es für offensichtlich halten, dass man alle Geimpften nochmal impfen muss.

Was war also die erwartete Nachfrage? Ich würde sagen man wäre trotz Spahns Ausweitung des Anspruchs froh gewesen die Personen über 70 Jahre und andere Gefährdete tatsächlich zu erreichen, vom Umfang vielleicht 15 Millionen Dosen. Die Kinder unter 12 bekommen ihren eigenen Impfstoff, der zählt nicht mit rein. Und mit viel mehr Erst- und Zweitimpfungen hat wohl kaum jemand noch gerechnet. Da wären 10 Millionen Dosen, also weitere 5 Millionen Geimpfte oder 6% der Bevölkerung schon eher ein best case. Insofern kann man vielleicht sehen, dass hier eine deutliche Diskrepanz in der Erwartung bestand: Maximal 25 Millionen Dosen für Auffrischungen und Neuimpfungen über einen längeren Zeitraum in den Winter hinein verteilt, die bis zum November auch nur verhalten nachgefragt wurden, und der jetzigen Nachfrage, wo kurzfristig wieder Millionen Dosen verimpft werden und wohl um die 20 Millionen Personen für eine Drittimpfung im Dezember in Frage kommen.

Zum Nachteil anderer Länder, die gerne unsere längere Zeit brachliegenden Überschüsse genommen hätten - und ich schätze jetzt zu unserem Vorteil - haben wir aber wohl doch genug im Land behalten. So dass es wohl keine wirklichen Abdeckungsprobleme gibt, sondern nur die Haklichkeiten, die Impfinfrastruktur wieder hochzufahren.

Das Problem war also eher, dass man die gegenwärtige Intensität der Epidemie nicht ausreichend als Möglichkeit gesehen und im zweiten Schritt einen sich daraus ergebenden Anstieg der Nachfrage antizipiert hat. Man kann zum gleichen Schluss eines Planungsversagens kommen, aber die frühe Offensichtlichkeit dieses Ausmaß an Nachfrage würde ich bestreiten.

Noch etwas mehr dazu, warum es nicht vorhergesehen wurde. Ich muss nochmal widersprechen, es hat sich nicht herausgestellt, dass die Impfserie mit zwei Impfungen (für die häufigsten hier verwendeten Impfstoffe) „unvollständig“ ist. Das ist eine etwas fragwürdige Erklärung, die von einigen Wissenschaftlern und Wissenschaftskommunikatoren verwendet wird, um die Notwendigkeit einer dritten Impfung zu begründen.

Der Rückgang der Wirksamkeit der Impfung gegen symptomatische Infektion (und damit auch des Schutz gegen Übertragung) ist die normale Reduktion der Immunantwort. Nach Abschluss der Impfung erreicht sie bei den meisten Geimpften ein Niveau, das auch eine Neuinfektion weitgehend ausschließt. Dieses kann aber, da es in diesem Fall auf einem hohen Antikörperspiegel beruht, nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden. Ganz einfach gedacht, würde das Immunsystem seine Reaktion niemals zurückfahren, dann würden wir im Laufe des Lebens immer mehr metabolische Energie und Material in die Abwehr längst besiegter Eindringlinge binden. Allerdings hat die Impfung auch ein Immungedächtnis reifen lassen, auf dem das weiterhin hohe Schutzniveau gegen schwere Erkrankung basiert. Bei einer erneuten Infektion greift die reaktivierte Immunreaktion aber ggf. nicht mehr schnell genug, um eine Infektiösität zu unterbinden.

Hätten wir eine ausreichend hohe Impfquote, dann würde dieser Umstand aber nicht unbedingt ein Problem darstellen. Es wäre durchaus sinnvoll Auffrischimpfungen gefährdeten Menschen zu geben. Dagegen ist die Zirkulation des Virus unter den gesünderen Geimpften letztlich sogar notwendig, damit CoViD-19 in seiner milden Form eine neue endemische Erkältungskrankheit wird. Die Virusverbreitung müsste nicht durch eine dritte Impfung weiter verzögert werden. Das war wenige Monate zurück der Erkenntnisstand. Noch im September sind zum Beispiel in den USA Impfexperten der FDA aus Protest zurückgetreten, weil sie die geplante Kampagne mit Auffrischimpfungen für alle US-Bürger nicht für gerechtfertigt hielten. Und viele haben die moralische Verpflichtung weniger gut versorgten Ländern überschüssige Impfstoffe zur Verfügung zu stellen in den Vordergrund gestellt. (Da ist übrigens ein Teil unserer Vorräte von Comirnaty hingegangen.)

Im Prinzip hat sich an diesen Erkenntnissen auch nichts geändert, allerdings wurden zwischenzeitlich die Ergebnisse der Drittimpfungskampagne von Israel sichtbar. Israel hat nach Zweitimpfungen eine Impfquote von nur etwa 60%. Sie konnten aber einen Ausbruch im Juli/August relativ schnell unter Kontrolle bringen, was sie auf die Gabe von Drittimpfungen an 40% der Bevölkerung zurückführen. Das ist plausibel, denn wie gesagt, das Niveau an Immunaktivierung - gerade durch die Auffrischimpfung - kann die Übertragung wieder unterbinden und wenn man einen so großen Anteil der Bevölkerung so schnell als Infektionsweg ausschaltet, dann wirkt sich das auch auf die Verbreitung der Krankheit unter den Ungeimpften und Geimpften ohne Auffrischung aus. (Das wird nicht dauerhaft anhalten. Die auch in Israel nach dem letzten Ausbruch sicherlich weiterhin vorhandenen Lücken in der Bevölkerungsimmunität werden irgendwann wieder Probleme bereiten.)

Dieses Beispiel, dessen Erfolg sich im September gezeigt hat, ist die Inspiration für die gegenwärtigen Auffrischimpfungskampagnen in den westlichen Ländern. Ich vermute die Zögerlichkeit gerade der Koalition in spe liegt auch darin begründet, dass sie hoffen, um neue Kontrollmaßnahmen herum zu kommen, wenn der Ausbruch stattdessen mit Auffrischimpfungen so wie in Israel unter Kontrolle gebracht werden kann. Riskantes Kalkül.

Zurück zum Punkt, die Drittimpfungen sind letztlich nur eine Kompensation für die fehlende Abdeckung bei den Erst- und Zweitimpfungen und wären sonst nicht zwangsläufig notwendig. Wegen dem intensiven Ausspruchsgeschehen wurden sie auch hier als „Notschalter“ entdeckt und deshalb werden Auffrischimpfungen als dritter Teil einer Impfserie, die vermeintlich fälschlich auf zwei Impfungen begrenzt wurde, erkärt.

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Unfassbar. Solche Idioten!

Bereits Ende Oktober lagen entsprechende Studien fertig publiziert vor: DEFINE_ME

Und natürlich braucht man für eine realitische Einschätzung der Situation nicht auf eine oder gar mehere Studien zu warten, sondern kann schon Monate vorher einfach das lesen, was die Experten aus "„Early Adaptor“-Ländern wie Israel berichten. Es ist ja nicht so, dass dies bis zur Publikation Geheimwissen wäre. Im Gegenteil: man kann einfach dem Getwittere der „israelischen Drostens“ folgen und dessen Rezeption durch andere „Auskenner“ und schon weiß man bereits im Spätsommer 2021, was Phase ist.

Stattdessen auf die Stiko zu warten, ist wirklich total bescheuert. Man verzeihe meine abfällige Ausdrucksweise. Die Stiko wird aus strukturellen Gründen immer erst ein gutes halbes Jahr nach dem ersten Bekanntwerden von neuen Fakten diese in ihren Empfehlungen berücksichtigen können. Denn die arbeiten auf Grundlage von publizierten Studien. Das ist deren Aufgabe und das ist gut so. Aber man muss sich der grundsätzlichen Limitierung, die dieser Ansatz in Zeiten einer Pandemie bedeutet, bewußt sein. Wenn dann eine Stiko-Empfehlung kommt, muss der ganze Apparat schon ‚ready to go‘ sein - also müssen Entscheidungsträger die kommenden Stiko-Empfehlungen bereits Monate im Voraus antizipieren.