Nein, das tut er nicht - denn jemand anders, der z.B. strikt auf der Seite Russlands steht, würde z.B. den folgenden Abschnitt zitieren und mir exakt das gleiche vorwerfen:
Es gab große Teile der Bevölkerung, die u.a. wegen der Korruption Janukowytschs, aber auch wegen der allgemeinen Vorzüge, eine Annäherung der Ukraine an die EU wollten.
Denn in diesem Beitrag mache ich relativ deutlich, was ich von der Regierung Janukowytschs halte - und dass ich auch absolut nachvollziehen kann, nein, ich es sogar unterstütze, dass die pro-westlichen Teile der Ukraine sich dem Westen und der EU annähern wollen.
Das ist halt der Punkt mit Neutralität - man kann natürlich neutral sein, indem man keine Meinung zu keiner Seite zeigt und versucht, komplett auf jede positive oder negative Darstellung verzichtet. Man kann aber auch neutral sein, indem man offen und ehrlich alles positive und negative beider Konfliktparteien auf den Tisch legt.
Und das ist das große Problem bei Diskussionen wie der über die Situation in der Ukraine (oder gar im Nahen Osten - uiuiui, da wird’s dann richtig harsch…). Differenzierte Sichtweisen, die versuchen, die Motivationen beider Seiten zu verstehen, werden diskreditiert („Russland-Versteher“), weil die Diskutierenden leider nicht in der Lage sind, ihre persönliche Meinung von ihrer rechtlichen oder politischen Bewertung zu trennen.
Wie gesagt, persönlich stehe ich absolut auf der Seite der West-Ukrainer. Ich halte es für die Ukraine für absolut sinnvoll, sich von Russland abzuwenden und sich in Richtung EU zu orientieren, ich bewundere jeden, der im Rahmen des Euro-Maidan für die Demokratie und den Systemwechsel gekämpft und gelitten hat. Aber ich kann mich eben auch unabhängig von meiner persönlichen Meinung in den Janukowitsch-Wähler hineinversetzen, aus dessen Sicht sein legitimer Präsident gestürzt und durch eine pro-westliche, seinen politischen Idealen also 100% widersprechende, neue Regierung an dessen Stelle eingesetzt wurde. Ich verstehe, warum diese Leute auf die Barrikaden gegangen sind - und ich verstehe auch, warum Russland unter dem Opportunisten Putin sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen konnte.
Die Situation in der Ukraine ist wie auch die Situation im Nahen Osten ein klassisches Dilemma. Es gibt kein „schwarz“ und „weiß“, sondern nur unterschiedliche Grautöne - und je nachdem, wie weit man historisch zurückgehen will, kann man die eine oder andere Seite als Schuldige ausmachen, wenn man das möchte. Den Konflikt lösen wird man so jedoch nicht.
Bitte beschäftigen Sie sich doch mal mit der Verfassungsmäßigkeit der Absetzung Janukowitschs, die den ganzen Prozess erst in Gang gesetzt hat. Rein rechtlich ist es leider so, dass die Absetzung Janukowitschs mit der Verfassung der Ukraine nicht zu vereinbaren war. Ich könnte also die Gegenfrage stellen: Ab wann darf ein Präsident vom Volk auf der Straße durch Demonstrationen, die letztlich gewaltsam endeten, abgelöst werden? Wie korrupt muss ein Präsident sein, um hier eine Rechtfertigung zu haben? Warum konnte das Volk nicht bis zur nächsten Wahl warten? Die Wahlen 2012 waren zwar an westlichen Standards gemessen nicht optimal, aber eben auch kein großflächiger Wahlbetrug oder ähnliches (was schon dadurch deutlich wird, dass die stärkste Partei „nur“ 30% der Stimmen bekam und 4,37 Prozentpunkte der Stimmen im Vergleich zur letzten Wahl verlor…). Das Wahlsystem war daher keinesfalls so korrumpiert, dass eine demokratische Veränderung ausgeschlossen gewesen wäre.
Wie gesagt, Sie sollten sich mal in die Situation der jeweils anderen Beteiligten hineinversetzen. Aus russischer Sicht war der Euromaidan ein illegaler Sturz einer „befreundeten“ Regierung und ein Teil der Bevölkerung, der diesen Sturz nicht mittragen wollte, reagiert mit einer eigenen Separatismus-Bewegung. Ist es aus dieser russischen Sicht wirklich so verwerflich zu sagen: „Okay, wir unterstützen diese uns wohlgesonnenen Separatisten, bevor die Ukraine dort einfällt und die separatistischen Bewegungen im Keim erstickt!“.
Es ist eben nicht so schwarz-weiß. Ich würde mir einfach wünschen, dass mehr Leute in der Lage wären, sich einmal in des Teufels Advokat hineinzuversetzen und deshalb nachvollziehen zu können, warum es mit „Recht“ und „Unrecht“ eben nicht so eindeutig ist, wie es gerne dargestellt wird.
TL;DR:
Aus Sicht des Westens war der Euromaidan legitim und der Separatismus gegen die Neuausrichtung gen Europa illegitim, eine Unterstützung der Separatisten durch Russland damit ebenfalls.
Aus russischer Sicht war der Euromaidan illegitim und der Separatismus jener, die diesen illegitimen Machtwechsel bekämpft haben, folglich legitim.
Welche Seite hier völkerrechtswidrig handelt hängt schlicht davon ab, welche Seite man befragt: Fragt man die meisten westlichen Länder handelt Russland völkerrechtswidrig, fragt man Russland oder China sieht die Sache wieder anders aus (China war erst um Neutralität bemüht, hat sich letztlich aber auf die Seite Russlands geschlagen…). Dazu muss man halt wissen, dass Völkerrecht grundsätzlich sehr interpretationsoffen und hochpolitisch ist. Es ist leider keine Seltenheit, dass die Meinung darüber, ob etwas völkerrechtlich verboten ist, entlang der politischen Machtblöcke verläuft. Der Grund dafür ist relativ simpel: Es gibt nur wenige Rechtsgrundlagen (ein paar Grundsätze und viele, viele Verträge) und keine ernsthafte Rechtsprechung. Die einzige Form der Rechtsprechung passiert quasi über UN-Resolutionen - und die sind eben extrem politisch. Das Argument, etwas sei „völkerrechtswidrig“, ist daher in den meisten Fällen leider ein rein politisches. Während im normalen Recht schon gilt: „Frag 2 Anwälte, bekomme 5 Meinungen zu einem komplexen Rechtsstreit“, gilt dies im Völkerrecht eben noch mehr. Und da die Meinungen wie gesagt entlang der politischen Machtblöcke verlaufen kann man es sich natürlich leicht machen und nur Meinungen des eigenen Blocks akzeptieren - aber nochmal: Damit löst man kein Problem, vor allem nicht, wenn beide Seiten so verfahren, was fast immer der Fall ist.
So leicht ist es halt auch wieder nicht.
Man könnte auch auf Odessa verweisen. Auch dort spricht die Mehrheit der Bevölkerung bis Heute russisch, auch dort gab es folglich eine separatistische Bewegung wie in der Ostukraine. In Odessa ist aber halt genau das passiert, was auch in der Ostukraine passiert wäre, wenn Russland die dortigen Separatisten nicht unterstützt hätte: Sie wurden niedergeschlagen, und das ziemlich blutig (46 tote pro-russische Separatisten, 2 tote Euromaidan-Anhänger). Ich empfehle hier mal den englischen Wikipedia-Artikel zu den 2014 Odessa Clashes. Ich war selbst 2018 in Odessa und habe dort mit Leuten gesprochen, die das ganze miterleben mussten. Im Gegensatz zur Krim und zur Ostukraine hat Russland in Odessa eben keine Unterstützung bieten können - letztlich hat die ukrainische Armee den Konflikt dann „befriedet“.
Wie gesagt, die Frage, wie man zu dem ganzen Konflikt steht, hängt fast einzig davon ab, ob man den Euromaidan für legitim oder illegitim hält. Der Westen hält ihn für legitim, der Osten nicht. Alles, was danach kam, hängt in seiner Bewertung davon ab, ob der Euromaidan als demokratischer Volksaufstand wider einer Diktatur oder als nicht verfassungsmäßigen Sturz einer legitim gewählten Regierung durch die Opposition bewertet wird. Und auch wenn ich - ich betone es nochmal - inhaltlich völlig auf der Seite der Euromaidan-Aktivisten bin, ich Janukowitsch und Putin / Russland absolut nichts abgewinnen kann, komme ich bei einer rechtlichen Bewertung zu keinem so klaren Ergebnis, dass ich sagen könnte, dass der Euromaidan rechtlich total okay war und folglich Russland hätte zusehen müssen, wie die Aufstände gegen den Euromaidan niedergeschlagen werden. Eben weil es mir wichtig ist, meine persönliche Meinung strikt von der politischen und juristischen Bewertung zu trennen.
TL;DR:
Die Situation in der Ukraine nach dem Euromaidan war ein hochkomplexes Dilemma. Die gewählte, korrupte politische Führung wurde abgelöst und von diesem Punkt an gab es keine Möglichkeit mehr, diesen Konflikt in einer Art zu lösen, die für alle Beteiligten (pro-Euro-Ukrainer, pro-Russland-Ukrainer, Russland) tragfähig war. Von Russland zu erwarten, den Sturz der Regierung Janukowitsch anzuerkennen und zuzuschauen, wie die pro-russischen Separatisten in den primär russischsprachigen Gebieten der Ostukraine und der Krim von der Ukraine blutig niedergeschlagen werden, wie es in Odessa geschah, war aus russischer Sicht - und das sollte eigentlich durchaus nachvollziehbar sein - auch keine Option, wenngleich es natürlich wünschenswert gewesen wäre. Ebenso wenig ist es für die Westukraine eine Option, es zuzulassen, dass das Land geteilt wird und der Osten und die Krim sich Russland anschließen - auch das ist absolut verständlich. Das Resultat ist das Dilemma, welches wir nun haben. Die Situation ist in eine ähnliche Sackgasse gelaufen wie der Korea-Konflikt - eine Wiedervereinigung ist nicht möglich, weil im Kern ein Systemstreit (als kleinere Form des Stellvertreterkrieges) zu Grunde liegt und keine beteiligte Seite sich dem System der Anderen unterordnen will, ein Kompromiss der Systeme aber auch aktuell unmöglich ist.