236: Ukraine: Russland verlegt Truppen

Das inflationär benutzte Argument des Whataboutism findet hier keine Anwendung. Sie versuchen, das Argument des Whataboutism zu nutzen, um den konkreten Konflikt, den wir hier betrachten, ohne Berücksichtigung seiner Vorgeschichte zu betrachten - denn das vereinfacht den Konflikt in einer Weise, in der ihre Sichtweise zweifelsohne richtig ist. Daher: Betrachtet man nur die Annexion der Ostukraine und der Krim ohne ihre Hintergründe / Vorgeschichte kommt man selbstverständlich zu einem anderen Ergebnis, als wenn man den Konflikt mit seiner Vorgeschichte betrachtet.

Je nachdem, wie weit man in der Geschichte zurückgeht und welche Aspekte der Geschichte man berücksichtigen will (Schenkung der Krim an die Ukraine durch Russland 1954, Siedlungsbewegungen in der Sowjetunion, langjährige Bindung der Ukraine an Russland nach dem Ende des Kalten Krieges bis zur Bewertung der Euromaidan-Proteste gegen Janukowitsch), desto komplexer wird die Bewertung der Situation, die letztlich zur Annexion der Ostukraine und der Krim führte.

Auch hier müssen Sie sich wieder in die Beteiligten hineinversetzen. Was wäre passiert, wenn Russland nach dieser Wahl, die aus russischer Sicht zudem illegal war, die Unterstützung der Separatisten fallen gelassen hätte? Die Ukraine hätte den separatistischen Ostteil und die Krim mit militärischer Übermacht zurückerobert und den Aufstand niedergeschlagen. Wie wäre das innenpolitisch vertretbar gewesen? Pro-Russen in Russland und in allen anderen Ex-Sowjet-Republiken hätten das als maßgeblichen Verrat an der Bevölkerung betrachtet. Es war für Russland schlicht keine Option, man hat sich in eine Sackgasse manövriert.

Um einen Konflikt fair bewerten zu können, muss man genau das tun. Das gilt für internationale Konflikte ebenso wie für jeden kleinen Strafprozess. Man muss verstehen, warum es zu solchen kritischen Situationen kommen konnte, um solche Dinge in der Zukunft vorhersehen und besser bewältigen zu können.

Ihr Ansatz ist leider statt dessen die typische Vorschlaghammer-Politik. Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen - und deshalb haben wir jedes Recht und der andere nicht. Diese Denkweise hat während des gesamten Kalten Krieges leider dominiert und sollte in einer modernen, aufgeklärten und demokratischen Welt keinen Platz mehr haben. Denn diese Denkweise ist genau das: Schwarz-Weiß. Wer sich nicht in die Gegenseite hineinversetzen will, kann halt keine Grautöne sehen.

Tell me more about Whataboutism.
Der Abschuss der MH 17 war eine Tragödie, an der natürlich Russland eine Schuld trifft. Aber auch hier muss man natürlich hinterfragen: Warum wurde der zivile Luftraum über einem aktiven Kriegsgebiet nicht gesperrt?!? Dass in den Wirren der dortigen Situation, in der die Beteiligten einen Angriff erwarten, durch einen unerfahrenen „trigger-happy“ Soldaten schnell eine solche Tragödie entstehen kann, ist leider kein Einzelfall. Dennoch stimmt es natürlich: Russland trifft hier eine große Schuld.

Und natürlich hat Russland Nawalny und Skripal vergiftet. Russland ist eben leider gerade keine lupenreine Demokratie, sondern ein autoritärer Staat an der Schwelle zur Diktatur. Das sehen wir beide vermutlich ganz ähnlich.

Wenn in einem belagerten Haus ein Feuer ausbricht und die Belagerten darin zu Tode kommen sollte es völlig außer Frage stehen, dass die Belagernden eine große Mitschuld trifft. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die 32 Menschen in dem Haus mit Selbstmordabsicht das Feuer selbst gelegt hätten…

Nö, rechtlich ist es durchaus korrekt, dass die Bewertung des Euro-Maidan darüber entscheidet, ob man die Separatismus-Bewegungen für legitim hält. Die Bewertung der Euro-Maidan-Proteste selbst, daher ob diese legitim waren, ist natürlich wieder hochkomplex…

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Egal wie verfassungswidrig das war, das Vorgehen Russlands in der Ukraine ist ein Verstoß gegen Artikel 2(4) der UU Charta (" All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations.") und weitere, nachfolgende Übereinkommen.

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Doch. Ich hatte die Frage gestellt, warum die Annexion der Krim nach einigen Jahren kein Akt der Aggression mehr sein soll, sondern lediglich der quasi neutrale „Status Quo“ - und ihre Antwort darauf war der Verweis auf den Sturz Janukowytschs, also etwas, das mehrere Jahre her ist. Was soll ich daraus anderes lesen als „in der Ukraine war aber auch nicht immer alles legal“ - also klassischer Whataboutism.

Nochmal: Nein, genau das „muss“ ich eben nicht. Und es ist auch nicht erfoderlich für eine ausreichend differenzierte Beurteilung des Vorgehens Russlands.

Diese Behauptung wiederholen Sie zwar zahlreich in verschiedenen Varianten, aber mir ist bisher noch kein Argument untergekommen, dass diese Behauptung auch plausibel machte.

Dieser Logik zufolge ist jeder, der auf die Einhaltung geltender Gesetze pocht also ein:e Vertreter:in dieser „Vorschlaghammer-Politik“. Und das geltende Recht dient einzig und allein dazu, sich moralisch besser zu fühlen - sorry aber das kann ich langsam nicht mehr ernst nehmen.

Sie haben doch argumentiert, wie wichtig es wäre, die Perspektive Russlands miteinzubeziehen und da habe ich mir erlaubt, zwei Beispiele (MH17 und Nawalny) zu nennen, die zeigen, was dabei herauskommt, wenn man das tut und dass die Kreml-Märchen wenig mit einer differenzierteren Lagebeurteilung zu tun haben. Warum das ein Thema sein soll, was mit dem hier diskutierten nichts zu tun hat, bleibt wohl Ihr Geheimnis.

Nein, denn das unterstellt, dass die Belagernden a) ursächlich mit dem Feuer zu tun haben und b) Menschen daran gehindert haben, das brennende Haus zu verlassen. Beides ist aber nicht der Fall. Das Geschehen in Odessa war nun mal nicht so eindeutig wie Sie und der Kreml es gerne hätten.

Auch das sehe ich anders. Selbst wenn ich die Euro-Maidan-Bewegung für illegitim halten sollte, warum sollte ich dann automatisch zur Anhängerin eines anderen Staates werden müssen?!? Das ist gelinde gesagt unterkomplex und steht damit wie gesagt im krassen Widerspruch zu der von Ihnen ständig wiederholten Leier, dass ja alles immer so komplex sei.

Und da sind wir wieder beim Problem mit dem Völkerrecht. Alle Großmächte, daher die USA, China und Russland, verstoßen regelmäßig dagegen - aber während es einigen Staaten vorgehalten wird, wird bei anderen Staaten weggeschaut. Wie vielen Staaten haben die USA in den letzten Jahrzehnten alleine mit Krieg gedroht? Wie viele Kriege wurden angefangen? Wie oft wurde in die politische Unabhängigkeit eingegriffen, um einen „Regime Change“ zum eigenen Vorteil zu bewirken - und das auch noch lange nach dem Ende des Kalten Krieges? Und wie oft gab es darauf relevante internationale Reaktionen, z.B. Embargos / Sanktionen gegen die USA? Es ist genau diese Doppelmoral, diese einseitige Sichtweise, in der die Welt in „Gut“ und „Böse“ aufgeteilt wird, die ich problematisieren will. Eben die Tatsache, dass wir geneigt sind, völkerrechtswidriges Verhalten der einen Seite relativ wohlwollend zu bewerten, während wir bei der anderen Seite dann knallhart das Gesetzbuch aufschlagen und sagen: „Das ist ganz klar verboten, da gibt’s doch gar keine Diskussion!“. So darf das nicht funktionieren - wir können nicht ständig mit zweierlei Maß messen (schönes Beispiel dazu ist der Umgang mit dem Iran vs. dem Umgang mit Saudi-Arabien… hier wurden regelmäßig identische Menschenrechtsverletzungen komplett unterschiedlich behandelt, weil einer der Staaten halt unser „Verbündeter“ ist…).

Und ja, nun kann man natürlich schreien: „Das ist doch alles Whataboutism!“, aber das trifft den Kern nicht. Jede Art der Rechtsanwendung basiert auf dem Prinzip des Gleichheitssatzes („ius respicit aequitatem“) und eine Konsequenz ist, dass die Rechtsprechung eben nicht willkürlich gleiches Verhalten unterschiedlich bewerten darf, vor allem nicht deshalb, weil dem Recht ein Protagonist sympathischer ist als ein anderer. Das ist im Prinzip das Rezept zur perfekten Diktatur: Man hat schlicht so viele so offen gehaltene Gesetze, dass quasi jeder gegen das Gesetz verstößt und sich die Führung dadurch, dass sie auswählt, wessen Verstöße sie verfolgt, die Möglichkeit gibt, willkürlich diejenigen zu bestrafen, die sie bestrafen will. Deshalb kann das Argument „Aber die UN Charta sagt…“ alleine nicht überzeugen - dieses Argument könnte nur überzeugen, wenn die UN Charta in diesem Punkt auch konsequent gegen alle Beteiligten verfolgt würde. Und deshalb ist das auch kein Whataboutism, weil es hier um ein ganz zentrales Problem der Rechtsanwendung geht: Ein Gesetz (oder auch Vertrag), dass willkürlich vollstreckt bzw. immer nur dann angewendet wird, wenn es einem in den Kram passt, hat keine Relevanz.

Es geht mir im Kern daher darum, Ursache und Wirkung solcher Konflikte offenzulegen und zu verstehen, warum Aktion A zu Reaktion B führt. Und deshalb vermeide ich es, Russland oder China kritischer zu betrachten als die USA oder die EU. Diese Problematik, die wir hier im Ukraine-Konflikt sehen, ist halt auch überall anders ständig zu sehen. Beispiel Nordkorea-Konflikt. Die USA führten ein großes Manöver mit Südkorea durch, bei dem relativ klar eine Invasion Nordkoreas durchgespielt wurde. In Reaktion darauf kommt natürlich Säbelrasseln von Nordkorea und die Drohung, dass eine Invasion gegen Nordkoreas mit Raketenangriffen gegen die USA vergolten würde. In den Medien liest man dann: „Nordkorea droht den USA mit Atomschlag!“ und als jemand, der versucht, den Konflikt neutral zu betrachten denkt man sich nur: „Was für einen Lack haben die gesoffen?“. Ja, Nordkorea ist ein absolutes Dreckssystem, aber das rechtfertigt eben nicht diese total unfaire Berichterstattung, bei der Nordkorea völlig falsch als Aggressor dargestellt wird, indem bestimmte Aspekte weggelassen werden.

Exakt das gleiche erleben wir aktuell mit der Zusammenziehung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze. Russland sieht sich als Schutzmacht der Separatisten und wenn die Ukraine Pläne veröffentlicht, die Ostukraine zurückzuerobern, muss doch absolut jedem klar sein, dass Russland darauf mit Truppenverlegungen antworten wird. Wenn unsere Medien aus diesen Truppenverlegungen dann die Schlagzeile „Russland droht der Ukraine mit militärischem Eingreifen“ (Deutsche Welle) oder „Russischer Aufmarsch: „Ganzes Feld voller Militärtechnik““ (Tagesschau) macht und den Eindruck erweckt, Russland würde hier gerade einen Angriff auf die Ukraine vorbereiten, ist das einfach einseitig. Neutral formuliert muss man eben die russischen Truppenaufmärsche in den Kontext mit den ukrainischen Plänen der Rückeroberung der Ostukraine setzen, denn aus russischer Sicht sind diese Pläne ein Angriff auf russische Staatsbürger (auch vor dem Euromaidan / Separatismus gab es davon in der Ostukraine ziemlich viele, siehe Siedlungsbewegungen in der UdSSR…), zu deren Verteidigung Russland nicht nur das Recht, sondern gar die Pflicht hat. Man kann dabei immer noch zu dem Ergebnis kommen, dass Russland im Unrecht ist und von Anfang an hätte anders handeln sollen oder müssen (wie gesagt, zu diesem Ergebnis komme ich auch!), aber eben nuancierter und nicht so schwarz-weiß…

Damit wäre der Kreis zum Start dieser Diskussion geschlossen: Es geht mir lediglich darum, dass ich es falsch finde, es so darzustellen, als würde Russland der Grenze zur Ukraine Truppen zusammenziehen, um die Ukraine zu erobern, weil das der Komplexität der jüngeren Geschichte dieses Konfliktes nicht angemessen ist, sondern eine propagandistische Darstellung ist.

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Wenn man auf die Verletzung des Völkerechts durch einen Staat erst mit dem Hinweis antwortet, es gäbe eigentlich gar kein Völkerrecht bzw. dieses liege immer nur im Auge der Betrachterin und dann darauf verweist, dass andere das Völkerrecht ja auch ständig verletzten und das niemanden stören würde, ist das in der Tat nicht nur Whataboutism, sondern auch eine Verharmlosung der Völkerrechtsverletzung. Weiß der Geier, warum Sie sich nicht einfach dafür einsetzen, dass sämtliche Verletzungen des Völkerrechts geahndet werden, anstatt immer wieder zu behaupten, mehr Verständnis für die Motivation von Rechtsbrüchen führe zu einer „neutraleren“ Sicht auf Konflikte.

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Genau das tue ich tatsächlich, beziehungsweise das würde ich gerne tun. Leider scheitert es aber an den Realitäten, z.B. an den auch mit gutem Grund vielfach kritisierten Strukturen des Weltsicherheitsrates (Stichwort: Veto-Mächte). Es wäre absolut wünschenswert, wenn die UN tatsächlich das Völkerrecht knallhart gegen alle Staaten dieser Welt durchsetzen könnte - aber das kann sie leider nicht.

Mein Weg, damit umzugehen, ist es, verstehen zu wollen, warum Völkerrecht von wem gebrochen wird und daher ohne Berücksichtigung meiner eigenen Sympathien und Antipathien zu analysieren, was wo falsch gelaufen ist. Dabei halte Ich Russland ebenso wie den USA jede Völkerrechtsverletzung vor, versuche aber gleichzeitig zu verstehen, warum diese Staaten es für notwendig empfinden, völkerrechtswidrig zu handeln. Denn wie gesagt: Daraus kann man lernen, was falsch läuft und wo die Probleme im System des Völkerrechts liegen.

Auf die anderen Punkte in ihrem vorletzten Beitrag möchte ich nur sehr verkürzt eingehen, weil die Diskussion leider nicht zielführend ist und wir uns im Kreis drehen.

Ich weise nochmals darauf hin, dass wir inhaltlich gar nicht so weit auseinander stehen, wie Sie es darstellen - vermutlich haben wir sogar das gleiche Ziel, der Unterschied ist nur, dass wir es auf unterschiedlichen Wegen erreichen wollen. Mich erinnert das ganze ein wenig an meine damalige Arbeit als Sozialarbeiter im Strafvollzug, wenn ich z.B. die Rechte eines Vergewaltigers auf Prüfung zur vorzeitigen Haftentlassung verteidige und dann so dargestellt werde, als würde ich Vergewaltigung gutheißen. Wenn Ich versuche, den Leuten klarzumachen, dass ein Kinderschänder selbst psychisch krank und damit ein Stück weit Opfer seiner eigenen Veranlagung und Vergangenheit ist (na, wer würde mit dem Kinderschänder tauschen wollen?), aber Opferschutzverbände nicht in der Lage sind, zu akzeptieren, dass man auch die Täter und deren Rechte verteidigen muss, dass Hilfe für die Täter vor der Tat (klassische Präventionsarbeit) z.B. massiv helfen könnte, spätere Opfer zu vermeiden, dass Täterhilfe grundsätzlich auch Opferhilfe ist, weil der Idealfall nun einmal ist, auf den potentiellen Täter so einzuwirken, dass er erst gar keine Opfer produziert - dies aber von Opferschutzverbänden dann mit Pseudoargumenten wie „Man kümmert sich mehr um die Täter als um die Opfer“ bombardiert wird. Und um rechtzeitig vor der potentiellen Tat einwirken zu können, muss man die ganze komplexe Situation verstehen und auch mit Verständnis für die Situation an die Situation herantreten (also z.B. dem potentiellen Kinderschänder, der Hilfe sucht, mit Respekt und Anerkennung zu begegnen, statt ihn als Ausgestoßenen zu brandmarken).

Diese Denkweise liegt auch meinen Beiträgen hier zu Grunde - ich sehe Russland keinesfalls als den „Good Guy“, sondern ganz klar als ein großes Problem. Aber ich weiß eben, dass ein simples Verteufeln, eine Politik der Isolation und Sanktionierung, hier nicht zielführend ist, sondern es genau darum gehen muss, zu verstehen, warum Russland so handelt, wie es handelt und die politischen Weichen für die Zukunft so zu stellen, dass derartige Dinge nicht mehr vorkommen. Sie gehen davon aus, dass man mit politischem und wirtschaftlichem Druck gegenüber Russland etwas positives erreichen könnte - das wiederum glaube ich schlicht nicht.

Glauben Sie wirklich, dass sich irgendwas am Verhalten Russlands, Chinas, Nordkoreas oder des Iran dadurch ändert, dass wir diese Systeme sanktionieren und international isolieren? Die Geschichte zeigt sehr deutlich, dass das eben nicht funktioniert. Innenpolitisch nutzen die Länder den Druck von Außen, um die druckausübenden Akteure ihrem Volk gegenüber als Schuldige an der Misere darzustellen - was auch nicht ganz falsch ist. Das Resultat ist, dass die radikalen Kräfte auf beiden Seiten in diesen Ländern an Macht gewinnen, das Land arm und instabil wird. Im besten Fall kollabiert das Land irgendwann, dann haben wir ein Machtvakuum, welches wieder ganz neue Probleme schafft (Beispiele: Libyen, Syrien, Fall der UdSSR…). Im schlimmsten Fall werden die Regierungen quasi zur Wahrung des eigenen Gesichts immer weiter in eine Ecke gedrängt, aus der sie nicht mehr rauskommen, während ihre Bevölkerung verhungert (z.B. Nordkorea, Venezuela) oder immer radikaler wird (z.B. Gaza-Streifen) - und das kann wie im Falle Nordkoreas dann auch Jahrzehnte anhalten.

Das wollen wir alle nicht - nochmal: Wir wollen beide vermutlich exakt das gleiche. Dass Deutschland heute eine relativ vorbildliche Demokratie ist liegt übrigens zu einem großen Teil am Marshall-Plan - man hat versucht, zu verstehen, warum die Sache in der Weimarer Republik so schief lief und wie man das zukünftig verhindern kann. Eine Kernerkenntnis war, dass Armut definitiv kein positiver Faktor für die Entwicklung einer Demokratie ist. Deshalb war es folgerichtig, statt Deutschland zu bestrafen (wie es der Morgenthau-Plan vorsah) im Gegenteil, Deutschland wirtschaftlich zu fördern und wiederaufzubauen. Dieser Logik haben wir es zu verdanken, dass wir heute dort sind, wo wir sind - und diese Logik sollten wir auch auf andere Problemländer anwenden.

Die Mauern in den Köpfen, sowohl seitens der US-Bürger gegenüber Russland, als auch der Russen gegenüber dem Westen, müssen gestürzt werden. Und das schaffen wir eben nur, wenn wir verstehen, warum die Akteure so handeln, wie sie es tun. Diese einseitigen Verteufelungen helfen niemanden und verändern nichts zum positiven.

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Nochmal ein Nachtrag, weil vermutlich noch nicht deutlich genug geworden ist, warum das Verständnis für die Entwicklung von solchen Krisen so wichtig ist.

Die Situation in der Ukraine hat vieles gemeinsam mit der Geschichte der „Republik“ Transnistrien in Moldau. Hier passierte vor fast 30 Jahren ziemlich genau das gleiche, was später in der Ukraine passierte.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam in Moldau eine ultranationalistische Partei (Frontul Popular din Moldova (quasi „Volksfront Moldaus“)) an die Macht, die sich bereits vor dem Fall der Sowjetunion stark gegen die Zugehörigkeit Moldaus zur Sowjetunion aussprach und nachdem sie dann an die Macht kam eine klare Politik gegen die russische Minderheit in Moldau führt (z.B. wurde gegen die staatliche Förderung der russischen Sprache vorgegangen, was später zur Abschaffung von Russisch als Amtssprache führte). Die russische Minderheit lebte stark im Osten des Landes (vor allem auch in Transnistrien), weil die Sowjetunion dort das gleiche tat wie in der Ukraine: Es wurde dort massiv Industrie angesiedelt und russische Arbeiter wurden angesiedelt mit dem Ziel der Durchmischung der Völker in den Sowjetrepubliken.

Diese russische Minderheit, die oft nur russisch sprach, fand das natürlich nicht toll - und Überraschung, sie hatten in Transnistrien genug Anhängerschaft, um einen Unabhängigkeitskrieg zu führen, den sie - mit russischer Unterstützung - gewonnen haben. Seitdem existiert de facto die Republik Transnistrien, auch wenn sie nur von Russland anerkannt wird. Und bis heute, 30 Jahre später, kontrollieren russische Soldaten dort die Grenzen (ich war 2018 auch dort, wir waren günstig nach Iasi in Rumänien geflogen und mit Bussen über Chisinau und Tiraspol nach Odessa gereist…). Die Situation dort ist schon sehr absurd, es ist quasi noch ein Rest des Kalten Krieges dort zu spüren, original mit Hammer und Sichel auf den Münzen.

Was war damals die Reaktion auf diesen Konflikt? Das gleiche wie aktuell in der Ukraine-Krise: Eine Mischung aus Vermittlung (u.a. durch die OSZE) und UN-Resolutionen… viel Druck wurde ausgeübt, trotzdem hat sich in den letzten 30 Jahren nichts geändert. Man einigte sich darauf, dass Russland Schuld an der Situation sei und hat sich nie wirklich um die Hintergründe gekümmert.

Mein Ansatz ist nun:
Hätte man damals aus der Situation über Transnistrien gelernt, hätte man versucht, zu verstehen, was hier falsch gelaufen ist und wie man diesen Separatismus hätte entschärfen können, hätte man dieses Wissen in der Ukraine anwenden können. Denn die Angst der ethnischen Russen in der Ostukraine war die gleiche, wie bei den pro-russischen Kräften in Transnistrien damals. Denn auch nach dem Euro-Maidan hat die neue Regierung der Ukraine u.a. die Abkehr von der russischen Sprache durch die Stärkung des Ukrainischen propagiert, was für diese Menschen eine absolute Katastrophe darstellte.

Die Ukraine hätte, wenn sie aus der Geschichte gelernt hätte, vorhersehen können, dass das Land zerbricht, wenn man von Heute auf Morgen eine 180°-Drehung von Russland an die EU hinlegt, dass es das Land zerreißen wird, wenn eine zu schnelle Abkehr von Russland erfolgt. Man hat diese inner-ukrainischen Spannungen jedoch schlicht ignoriert und gehofft, dass die Russen sich schon an die neuen Umstände anpassen würden.

Nun hatten wir die Vergangenheit (Transnistrien) und die Gegenwart (Ukraine), aber schauen wir doch mal in die Zukunft. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Bevölkerung in Belarus bald vom ewigen Präsidenten Lukaschenko befreien wird - und ich wünsche ihnen viel Glück dabei, denn ich unterstütze auch diese Demokratiebewegung. Aber auch in Belarus wurden während der Sowjet-Zeit im Rahmen des politischen Konzeptes der Russifizierung viele Russen umgesiedelt. Was wird hier wohl passieren, wenn man auch hier nicht berücksichtigt, dass fast 9% der Belarus-Bevölkerung Russen sind - und weitere Teile der Bevölkerung zwar keine Russen im Sinne der Staatsangehörigkeit sind, sich aber mit Russland identifizieren. Es droht hier, dass sich exakt die gleiche Geschichte wie in Transnistrien und der Ukraine noch einmal wiederholt, dass auch dieses Land innerlich zerbrechen wird, wenn es zu einem zu schnellen Wechsel von einer pro-russischen zu einer pro-westlichen Führung kommt.

Wenn man die Kapitel „Transnistrien“ und „Ostukraine“ einfach mit einem „Russland ist Schuld! Weitermachen!“ abhakt, riskiert man, dass sich exakt das gleiche in Belarus wiederholt. Eben weil man nicht versucht, sich in die Gegenseite, hier: die pro-russische Bevölkerung, hineinzuversetzen und weil man nicht versteht, dass Russland diese Menschen als „seine Bürger“ sieht, die es zu schützen verpflichtet sei.

Zieht man aus Transnistrien und dem Ukraine-Konflikt jedoch die richtigen Lehren, weil man sich über „Russland ist Schuld!“ hinweg mit der Problematik befasst, kann man Strategien erarbeiten, die eine solche Wiederholung verhindern können - die sie auch in der Ukraine schon hätten verhindern können. Dazu zählt z.B., dass die russische Minderheit, wie jede Minderheit in einer Demokratie, bestimmte Schutz- und Sonderrechte bekommen muss, die ihr im Zuge eines Systemwechsels sofort glaubwürdig zugesichert werden müssen (siehe z.B. die Sonderrechte der dänischen Minderheit in Deutschland). Dazu gehört z.B. als einer der wichtigsten Aspekte die klare Ansage, dass man nicht deren Sprache versucht zu bekämpfen, wie dies in Transnistrien und der Ukraine getan wurde. Die Möglichkeiten, wie man in einem Vielvölkerstaat mit einer Minderheit Kompromisse schließen kann, sind relativ groß - wenn jedoch im Rahmen eines Systemwechsels wie in Transnistrien und der Ukraine gezielt Stimmung gegen die Minderheit gemacht wird - tja, dann passiert halt genau das, was in Transnistrien und der Ukraine passiert ist.

Deshalb kämpfe ich hier dafür, den Ukraine-Konflikt nicht auf „Russland verstößt gegen das Völkerrecht und ist Böse!“ zu verkürzen, sondern zu versuchen, diesen Konflikt in seiner Tiefe zu verstehen. Das tue ich nicht, weil ich in irgend einer Form das Verhalten Russlands rechtfertigen will - ich sagte es zuvor und wiederhole es gerne: Russland ist ein autoritärer Staat am Rande zur Diktatur, Putin und seine konservativ-religiöse Machtbasis samt all der Oligarchen sind mir zutiefst zuwider. Aber das ändert nichts daran, dass man diesen Konflikt unabhängig dieser eigenen Meinung neutral beleuchten muss, um aus den Fehlern der eigenen Seite (hier: Moldaus und der Ukraine) zu lernen.

Denn wir können Russland nicht durch Isolation und Sanktion dazu bringen, so zu handeln, wie wir es gerne hätten - was wir aber realistisch erreichen können, ist es, zu verhindern, dass dem Opportunisten Putin solche unwiderstehlichen Gelegenheiten gegeben werden, wie es in der Ukraine der Fall war. Und ich hoffe, dass man das in Belarus schaffen wird, aber ich befürchte, dass man auch hier wieder nicht aus der Geschichte lernen wird, weil es so viel einfacher ist, einfach zu sagen: „Russland ist Schuld und Böse, alles andere ist irrelevant!“.

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Vielen Dank an @Daniel_K für diese super-informativen Beiträge!

Ich überlege jetzt gerade, warum ähnliches nicht im Baltikum passiert ist. Liegt es daran, dass die Staaten dort sich recht schnell an die EU angeschlossen haben, so dass sich Russland nicht rangetraut hat? Oder war der Umbruch dort nicht so disruptiv, dass es keinen inneren Konflikt zwischen Russen einerseits und Esten/Letten/Litauern andererseits gab?

Eben. Oder mit den „unabhängigen“ Republiken in Georgien. Wen wundert es da, wenn andere, an Russland angrenzende Staaten Angst vor einem ähnlichen Szenario haben. Aber die böse NATO ist natürlich nur dazu da, die armen Russen zu verunsichern.

Sorry, aber gerade eine Argumentation wie Ihre, eine quasi zwangsläufige Verbindung zwischen einer bestimmten politischen Einstellung (z.B. für oder gegen den Euromaidan) und dem Eintreten für Separatismus herzustellen, ist aus meiner Sicht nicht gerade dazu geeignet, Separatismus zu „entschärfen“.
Edit: persönlicher Vorwurf entfernt

Das stimmt in dieser Undifferenziertheit einfach nicht. Es ist schon erstaunlich, dass sie ständig so viel von Verständnis, Multiperspektivität und Differenzierung faseln, aber an den Punkten, an denen es drauf ankommt, ein absolut manichäisches Weltbild an den Tag legen: hier die ukrainisch sprechenden Nationalisten, meist aus dem Westen, die lieber heute als morgen in EU und NATO wollen und dort die russisch sprechenden Leute aus dem Süden und Osten der Ukraine, die wenn schon nicht zu Russland gehören, dann doch wenigstens einen eigenen Staat wollen. Selbst die Frage, ob es um Russisch sprechende Menschen, um ethnische Russ:innen oder um eine „russische Minderheit“ geht, bringen Sie in Ihren Posts mehrmals durcheinander bzw. es scheint für Sie alles dasselbe zu sein. In Odessa und Charkiv wird bis heute selbstverständlich (auch) russisch gesprochen, das ändert aber nichts daran, dass Sie dort nur sehr wenige Menschen finden werden, die Lust haben, sich von Putin regieren zu lassen.

Noch so ein Kreml-Märchen. Es ist ja nicht so, dass die diversen politischen Auseinandersetzungen über den Kurs der Ukraine erst 2014 begonnen hätten. Seit spätestens Ende der 1990er Jahre ist das Land bestimmt von unterschiedlichen Antworten auf die Frage, welchen Weg das Land gehen soll - unter anderem auch außenpolitisch. Und ja, zerissen ist die Ukraine, aber vor allem anhand sozialer Gegensätze zwischen extrem arm und extrem reich - mit den entsprechenden machtpolitischen Folgen.

Kleine Erinnerung: Das EU-Assoziierungsabkommen hat die Regierung Janukowytsch ausgehandelt. Alle wussten das und es ist wenig wahrscheinlich, dass sie das getan hätte, wenn der große Bruder in Moskau „Njet“ gesagt hätte. Gehofft wurde, wenn man so will, dass Russland sich an eigene Vereinbarungen und an geltendes Recht hält und nicht die Instabilität seines Nachbarlandes ausnutzt, um es militärisch anzugreifen.

Was Sie argumentativ betreiben ist letztlich nichts weiter als die Aufgabe der Idee des Rechts. Indem Sie immer wieder sagen „ja aber war doch klar, dass Russland das macht“ und dafür plädieren, mehr oder weniger zu akzeptieren, dass Russland nun einmal tut, was es tut, argumentieren Sie letztlich für das Recht des Stärkeren anstatt für die Durchsetzung des Rechts.
Es hat auch außer Ihnen niemand behauptet, dass die Feststellung des Rechtsbruchs ein Endpunkt sein soll. Aber wenn ich mich nicht mal mehr zu dieser Feststellung durchringen kann, gibt es auch keine Grundlage für weiteres Handeln. Wenn Sie also sagen, es sei „verkürzt“ zu sagen, Russland habe das Völkerrecht gebrochen, so antworte ich darauf, dass es politisch grundfalsch ist, das nicht zu sagen. Alles andere kommt eh danach, aber darum geht es in diesem Thread nicht. Und solange diese simple Feststellung einer Tatsache für Sie gleichbedeutend ist mit einer in Ihrer Darstellung fast absurd anmutenden Schuldzuweisung, sehe ich auch nicht wirklich mehr Sinn darin, diese Diskussion fortzusetzen. Die Argumente sind ausgetauscht.

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Hallo @Daniel_K und @kaigallup

Bitte auf die Wortwahl achten. Es ist ein kontroverses Thema und zugunsten des Austauschs mit vielen Aspekten haben Sie beide Ihren Teil beigetragen. Ich möchte aber mit Blick auf den guten Ton drauf hinweisen, bitte nicht ins Persönliche abzudriften. Wir sehen da einen Kipppunkt, den wir hier unbedingt vermeiden möchten.

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Ich denke nicht die Mitgliedschaft in der EU, sondern die in der Nato dafür gesorgt hat, dass in Estland und Lettland noch keine russisch gesponserten Separatisten einen Teil des Staatsgebiets abgetrennt haben wie es Georgien, der Moldau und der Ukraine widerfahren ist. […]

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Ich komme aus der Erregung immer gar nicht raus, wenn ich solche Verquickungen von „die Haltung Russlands verstehen“ und „für Russland Verständnis Zeigen“ sehe. Klar liegen diese Sachen absolut im Russischen Interesse, und klar ist es für Russische Außenpolitiker ein Grauen zu sehen, dass ganz Osteuropa nach dem Zusammenfall des Ostblocks gar nicht darauf warten konnte, teil der NATO oder gleich der EU zu werden. Außerhalb der Ex-DDR erinnert man sich nämlich noch ganz gut daran, dass der Ostblock, auch wenn er einen kommunistischen Anstrich hatte, im wesentlichen die imperialistische Politik des Russischen Reichs fortgeführt hat.

Russlands Nachbarn sind eigenständige Staaten, die frei entscheiden können, sich vom kleptokratischen Ölstaat Russland abzuwenden, vor allem wenn es regelmäßig ein Säbelrasseln wie hier mit der Ukraine gibt. Es ist unsere Pflicht als Europäer, diese Staaten in unsere Gemeinschaft aufzunehmen und ihre Freiheit zu verteidigen, denn die Angst vor Russland ist mehr als Berechtigt: man beachte den Donbass, die Krim, Georgien.
[…]

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Ergänzend hierzu ist auch die Politik gegenüber Armenien zu nennen. Erst sieht man zu wie Aserbaidschan Berg-Karabach angreift (Russland war mit Sicherheit vorher informiert worden) und dann spielt man sich als Retter auf und wird von Teilen der armenischen Bevölkerung auch noch gefeiert, dass man nun wieder russische Truppen an dee Grenze stehen hat. Dabei hat man nur die Gelegenheit genutzt, die armenische Regierung für ihren vorsichtigen Pro-EU Kurs abzustrafen.

Absolut - aber hier machen Sie wieder den typischen Fehler, den ich stets bemängele:
Sie stellen die Situation schlicht in eine propagandistische Weise dar - nämlich so, als gäbe es ein „ukrainisches Volk“, welches eine geschlossene Front gegen Russland darstellen würde. Und das ist schlicht nicht haltbar. Wie gesagt, in den Teilen der Ukraine, die gegen die Abkehr von Russland revoltiert haben, war eben gerade das Problem, dass 70-90% der Bevölkerung russische Muttersprachler (und nicht ukrainische Muttersprachler) waren und sich daher auch kulturell eher zu Russland zugehörig gefühlt haben.

Ihre Darstellung verkennt diese Aspekte - und leider ist das auch die dominante Einstellung der Medien. Es wird, weil es einem besser in die politische Weltsicht passt, völlig ausgeblendet, dass der ganzen Problematik ein innerukrainischer bzw. post-sowjetischer Konflikt zu Grunde liegt, weil es halt so viel einfacher ist, einfach zu sagen: „Wir verteidigen das ukrainische Volk gegen den russischen Aggressor“, statt zu sagen: „Wir verteidigen den pro-westlichen Teil des ukrainischen Volkes gegen den von Russland unterstützten pro-russischen Teil des ukrainischen Volkes!“.

Ich bleibe daher bei meiner Einschätzung, dass der Ukraine-Konflikt hätte verhindert werden können, wenn man im Rahmen Neuausrichtung nach dem Euromaidan versucht hätte, die russischen Bevölkerungsteile im eigenen Land halbwegs einzubinden und ihnen Angebote zu machen, insbesondere im Hinblick auf den Minderheitenschutz und den Schutz der russischen Sprache, vielleicht gar der Einrichtung einer Selbstverwaltungszone. Stattdessen ist man einen nationalistischen Kurs gefahren und hat viele Bemühungen gestartet, die russische Sprache zu verdrängen und klar gemacht, dass man jeden (von Innen, daher der eigenen Bevölkerung ausgehenden) russischen Einfluss in der Ukraine bekämpfen wird. Das war ein Fehler - und hat letztlich zur „Konterrevolution“ im Donbas und auf der Krim geführt - und die wurde dann von Russland unterstützt, was durchaus verwerflich ist, aber eben eine ganz andere Dimension als „Russland attackiert die Ukraine!“.

Das ist auch eine sehr einseitige Sichtweise.
Der Berg-Karabach-Konflikt ist historisch ähnlich komplex wie der Ukraine-Konflikt und Russland hatte an diesem Konflikt tatsächlich gar kein Interesse - denn Russland hat vorher beiden Ländern massiv Waffen verkauft und zu beiden Ländern ein gutes Verhältnis unterhalten, von den Arbeitskräften beider Länder profitiert usw… Der Krieg hat u.a. auch zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern auf den Straßen Moskaus geführt, da aus beiden Völker viele in Russland wohnen.

Fakt ist aber: Armenien und Russland sind offiziell verbündete (OVKS), bis 1999 war auch noch Aserbaidschan in diesem Bündnis, ist aber ausgetreten. Russland hat in Armenien auch seit langer Zeit eine Militärbasis in Gjumri. Die Darstellung also, Russland würde hier nun irgend etwas nutzen, um Armenien abzustrafen, ist ziemlich fragwürdig - es gab schon immer enge Verbindungen und dass Armenien seinen russischen Verbündeten zur Unterstützung in’s Land holt ist nun wirklich nichts ungewöhnliches.

Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass Russland keine Eskalation in Bergkarabach gewünscht hat - denn für Russland entstehen daraus deutlich mehr Nachteile als Vorteile… aber wenn man natürlich gezielt nur Argumente sucht, um Russland zu unterstellen, in jeder seiner Handlungen „böse“ zu sein, kann man das natürlich machen. Sinnvoll ist das jedoch nicht…

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Entschuldigung, aber das Denken in „Völkern“ (ich will jetzt mal nicht sagen, das völkische Denken) kommt einzig und allein von Ihnen. Die Aussage von @purpnle kann man auch einfach so verstehen, dass wir es in der Ukraine - ebenso wie in den baltischen Staaten und vielen anderen Staaten, die einst zum sowjetischen Einflussgebiet gehörten - um Demokratien handelt. Sprich: Würde die Bevölkerung in der Ukraine mehrheitlich eine Politik wollen, die mehr die „russische Kultur“, eine Annäherung an Russland oder sogar eine Übernahme der Kreml-Kleptokratie wollen, so hätten sie seit 2014 mehrfach die Möglichkeit gehabt, sich in Wahlen dafür zu entscheiden. Eine Möglichkeit, die es - ganz nebenbei gesagt - in Russland nicht gibt.
Und das Argument, dass jede Person, deren Muttersprache Russisch ist, sich deswegen automatisch „zu Russland zugehörig“ fühlt, auch wenn sie in einem anderen Land als Russland geboren und aufgewachsen ist, sagt viel über Sie und Ihr Denken aus, aber nichts über die Menschen in der Ukraine.

Was meinen Sie denn mit „russischem Einfluss“? Etwa die Sprache? Die wird in der Ukraine nach wie vor von Millionen Menschen tagtäglich gesprochen. Oder meinen Sie damit, dass sich ein Land dagegen wehrt, von seinem mächtigeren Nachbarland politisch und militärisch angegriffen zu werden? So was aber auch! Und nein, es gab keine „Konterrevolution“ im Donbas und auf der Krim, sondern einen von Russland lancierten Bürgerkrieg und eine Besatzung und Annexion. Ohne „grüne Männchen“ und russische Waffen würde es in Donesk und Sewastopol heute nicht anders aussehen als in Charkiv und Odessa.
Ihr Vorwurf, @purpnle würde Propaganda betreiben und nicht ausreichend differenzieren, fällt eher auf Sie selbst zurück. Aber ich fürchte fast, dass sie wirklich glauben, dass im Donbas zwei „Volksrepubliken“ existieren…

Nochmal: Es geht um Minderheitenschutz.
Die Mehrheit der Ukrainer wollte die Annäherung an den Westen - und wie ich schon öfters sagte: Das kann ich absolut nachvollziehen und sogar unterstützen. Aber es gab eben eine nicht kleine Minderheit (wir reden hier von vielleicht 20-30% der Bevölkerung), die das anders sah.

Natürlich kann man jetzt sagen: „Tja, Demokratie, hat die Minderheit halt Pech gehabt!“, aber genau das unterscheidet eine wirkliche Demokratie von einer „Diktatur der Mehrheit über die Minderheit“. Am besten wird der Unterschied, wenn wir das auf den deutschsprachigen Raum beziehen und uns z.B. den Volksentscheid zu Minaretten in der Schweiz anschauen und dagegen halten, wie das Bundesverfassungsgericht zum Thema Kopftuchverbot in Deutschland steht.

Ersteres ist ein Beispiel für „Mehrheit verbietet Minderheit etwas, das äquivalent zu dem ist, was die Mehrheit sich selbst erlaubt“, daher: Lautes Kirchengebimmel zu jeder erdenklichen Zeit ist kein Problem, aber Moslems, die über ein Minarett zum Gebet aufrufen, das wird verboten. Das ist keine Demokratie, weil hier nicht berücksichtigt wird, dass eine Minderheit stets schutzbedürftig ist. Dagegen die Entscheidungen des BVerfG im Hinblick auf das Kopftuch, wo das BVerfG stets klargestellt hat: Ein Verbot religiöser Symbole im öffentlichen Dienst ist möglich - aber halt nur, wenn es sich auf alle religiösen Symbole bezieht, also nicht gezielt eine Minderheit diskriminiert.

Das Verständnis, nach dem eine Minderheit in einer Demokratie stets „den kürzeren zieht“, weil sie von der Mehrheit beliebig kontrolliert werden kann, zeugt von einem verkürzten Demokratieverständnis. Demokratie braucht Minderheitenschutz, sie ist ohne Minderheitenschutz quasi nicht denkbar beziehungsweise eine Demokratie ohne Minderheitenschutz hat den Namen Demokratie nicht verdient. Das gilt umso mehr, wenn diese Minderheit, wie es in der Ukraine nach dem Euromaidan der Fall war, massiven Anfeindungen ausgesetzt sieht, was zweifelsohne der Fall war.

Erstens habe ich keinen Automatismus beschworen - Sie legen mir hier schlicht Worte in den Mund, die ich so nicht geäußert habe. Es ist fakt, dass Sprache der maßgebliche Faktor im Hinblick auf die kulturelle Zugehörigkeit und die kulturelle Identität ist. Nichts ist monokausal, auch nicht Sprache = Kultur, aber wegen der herausragenden Bedeutung der Sprache ist es nun einmal so, dass sich die russischen Muttersprachler kulturell oft eher Russland zugehörig fühlen. Eher heißt nicht immer.

Mir daher eine Denkweise zu unterstellen ist einfach… naja, was soll ich sagen? Ich finde es schlicht schade, dass Sie unsere Meinungsverschiedenheit stets auf die persönliche Ebene ziehen müssen…

Abgesehen davon habe ich mehrfach erklärt, wie es dazu kommt, dass sich die russischen Muttersprachler kulturell stärker zu Russland hinzugehörig fühlen - siehe die Arbeiterumsiedlungen im Rahmen der UdSSR und die Tatsache, dass die Krim ein Geschenk Russlands an die Ukraine war. Die russischen Muttersprachler gehen eben genau auf diese Leute zurück, die entweder von Russland in die Ukraine umgesiedelt wurden oder eben im Falle der Krim schlicht zuvor Russen waren. Die Tatsache, dass diese Menschen russische Muttersprachler sind, hat halt eine historische Begründung, die Sie hier wieder völlig auszublenden versuchen. Diese Menschen sind teilweise noch in Russland aufgewachsen oder eben die erste, zweite oder dritte Generation von Menschen, die ihre Wurzeln in Russland haben.

Dieses Identitätsproblem ist uns als Deutschen nebenbei auch nicht fern. Wir haben auch das Problem, dass sich einige (nicht: alle!) türkischstämmige Menschen eher als Türken denn als Deutsche identifizieren, obwohl sie hier aufgewachsen sind. Sowas ist normal - und kann nur durch eine gute Integration behoben werden. Wenn jedoch eine Partei an die Macht kommt, die ganz klar gegen diese Minderheit ausgerichtet ist, wie dies in der Ukraine der Fall war (oder hier der Fall wäre, wenn z.B. die widerliche AfD an die Macht kommen würde), ist einfach klar, dass genau das Gegenteil passiert.

Eine völlig überflüssige Spitze, die nichts zur Diskussion beiträgt und nur dazu dient, meine Meinung, die nichts mit dem von Ihnen zitierten zutun hat, diskreditiert werden soll, indem Sie meine Meinung offensichtlich falsch darstellen. Was soll das?

Aha, eine Konterrevolution ist es also erst, wenn sie aus eigener Kraft ohne ausländische Hilfe in der Lage ist, gegen den Militärapparat des Staates, in dem sie stattfindet, zu bestehen? Sorry, aber das ist einfach eine fragwürdige Auffassung.

Wäre die Bevölkerung im Donbas und auf der Krim so sehr gegen die „russische Besetzung“, wie sie es darstellen, wäre die russische Besatzung schon lange gescheitert. Sie vertreten hier die typische, objektiv unhaltbare, aber leider sehr beliebte Meinung, dass „böse Herrscher“ immer „gegen das Volk“ stehen würden. Und das ist falsch. Nein, „Hitler hat nicht die Deutschen unterdrückt“, sondern ein Großteil der Deutschen hat die Nazi-Herrschaft unterstützt. Leider. Und nein, die Taliban unterdrücken nicht die gesamte Bevölkerung Afghanistans, sondern werden leider von einem großen Teil der konservativen Bevölkerung unterstützt. Wir reden uns immer wieder gerne ein, dass doch alles so einfach wäre - weil wir es uns wünschen. Es ist leider reines Wunschdenken, dass Diktaturen nur von einer absoluten Minderheit der jeweiligen Völker getragen würden - denn wäre es so, könnten diese Diktaturen nicht überleben. Alle Diktaturen haben eine erhebliche Machtbasis im eigenen Volk - deswegen hat der typisch amerikanische Plan nach dem Motto: „Wir gehen da rein und stürzen den Diktator, dann wird das Volk uns bejubeln und es gibt Demokratie für alle!“ auch so gut wie nie funktioniert. Weil dieser Plan von einer grundsätzlichen Fehlannahme ausgeht: Nämlich dass die klare, große Mehrheit des Volkes gegen die Diktatur und für Demokratie wäre.

Und das gilt eben auch für den Donbas und die Krim. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen dort auch alle für die westliche Demokratie wären und deshalb gegen Russland aufstehen würden - aber das ist eben ein Wunsch, der mit der Realität nichts zu tun hat. Der einzige Grund, warum Russland diese Regionen militärisch in ihrem Aufstand unterstützt, ist, weil Russland dort tatsächlich von weiten Teilen der Bevölkerung Zuspruch erhält. Und ja, das missfällt mir genau so wie Ihnen - der Unterschied ist eben nur, dass ich diese Tatsache anerkennen kann, während Sie es vorziehen, die typische unrealistische Darstellung von „ein Volk wird unterdrückt“ auf die Situation zu projizieren.

Ich mache in jedem einzelnen Post sehr deutlich, wie sehr ich das russische Regime ablehne. Und ich argumentiere sehr klar, warum ich zu anderen Einschätzungen komme, als Sie dies tun. Wie viel mehr Differenzierung ist denn hier überhaupt möglich? Ich bin derjenige, der aus der Position heraus argumentiert, dass ich die Seite verteidige, deren politische Ausrichtung ist eigentlich klar ablehne, eben weil ich meine Sichtweise auf die Dinge nicht von meiner persönlichen Sympathie oder Antipathie zum jeweils davon profitierenden System abhängig mache. Das ist maximale Differenziertheit.

Sie hingegen gehen den einfachen Weg - sie mögen, aus gutem Grund, Russland nicht und vertreten, wie auch ich, klar westliche Einstellungen. Und deshalb sehen Sie den gesamten Ukraine-Konflikt durch diese Brille - und das ist eben nicht differenziert, weil diese Haltung es gar nicht möglich macht, auf einzelne Teilaspekte des Konfliktes unbefangen zu schauen.

Und ich fürchte, sie glauben tatsächlich, dass die Menschen in der Ostukraine größtenteils eigentlich pro-westlich sind und von Russland unterdrückt werden, weil Sie genau das glauben wollen. Können Sie sich wirklich gar nicht vorstellen, dass in einem Gebiet, in dem 70-90% der Bevölkerung russische Muttersprachler sind, tatsächlich eine klare pro-russische Haltung in der Bevölkerung vorherrschen könnte? Ist das für Sie wirklich so undenkbar? Werfen Sie mal einen Blick auf diese Karte:

Ist es für Sie wirklich ein Zufall, warum gerade diese Gebiete, in denen 70-90% der Bevölkerung dafür waren, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen, ein Problem mit dem nach dem Euromaidan aufkeimenden Nationalismus und der Politik der De-Russifizierung hatten?!?

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Nein. Es ging um die Frage, ob die Ukraine für sich entscheiden darf, wie sie sich außenpolitisch, handelspolitisch, militärpolitisch etc, ausrichtet oder ob sie das - aus was für Gründen auch immer - von den Interessen Russlands abhängig machen sollte. Nun sagen Sie sinngemäß, selbst eine demokratisch gewählte Regierung dürfe diese Fragen nicht entscheiden, weil solange es keinen 100%igen Konsens gibt, sonst sei dies eine „Diktatur der Mehrheit über die Minderheit“. Mit dieser Argumentation könnten Sie ebenso gut 95% aller Abstimmungen im Deutschen Bundestag delegitimieren, es ist also ein klassisches Totschlagargument. Um „Minderheitenschutz“ im eigentlichen Sinne geht es ja nicht, denn die Frage, ob die Ukraine eine stärkere Zusammenarbeit mit der NATO oder der EU anstrebt, hat ja an sich keinerlei Auswirkungen auf die Rechte von sprachlichen, kulturellen oder religiösen Minderheiten in der Ukraine. A propos: Die Minderheit auf dem Staatsgebiet der Ukraine, der am meisten Rechte genommen wurden, sind die Krim-Tararten. Und zwar seit Beginn der russischen Besatzung.

Das haben wir ja schon mal ausführlich diskutert: Sie differenzieren einfach so gut wie gar nicht zwischen dem Sprechen der russischen Sprache, einer Verbindung mit „der russischen Kultur“ und einer politischen Orientierung an Russland. Auch wenn Sie den „Automatismus“ nicht explizit vertreten, argumentieren Sie letztlich immer wieder damit dass die die kulturelle und poitische Orientierung letztlich aus dem Sprechen einer bestimmten Sprache folgt. Und das wird einer komplexen Situation wie in der Ukraine einfach nicht gerecht.

Diese Passage zeigt Ihre Argumentation exemplarisch. Natürlich kann mit bestimmten kulturellen oder nationalen Identitätsvorstellungen verbunden sein. Aber sie muss es eben nicht sein. Und spätestens wenn eine Sprache in mehreren Kulturen oder Staaten gesprochen wird, ist ein solcher Schluss einfach nicht mehr ohne Weiteres möglich. Genau diese Situation haben wir aber in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und ganz besonders in der Ukraine. Es ist eben nicht so, dass Menschen, die russisch sprechen, sich allein deswegen „russisch“, als „Russen“ fühlen oder sich „kulturell stärker zu Russland hinzugehörig“ fühlen.

Noch ein Beispiel.Natürlich kann ich mir vorstellen, dass es so sein könnte. Aber erstens schätze ich die Situation aufgrund der mir zur Verfügung stehenden Informationen anders ein. Zweitens verkommt Ihre rhetorische Frage eben zu genau jenem „Automatismus“, wenn Sie als einziges Argument für eine „klare pro-russische Haltung“ das Sprechen der russischen Sprache nennen.

Werfen Sie jetzt ernsthaft denjenigen im Donbass und auf der Krim, die gegen die russische Aggresion sind und versucht haben, sich dagegen zu wehren, vor, dass sie nicht erfolgreich waren? Das ist angesichts der Verhafteten, der Tausenden Toten und der Millionen Flüchtlinge einfach nur zynisch.

Ich weiß nicht, warum Sie meinen, etwas darüber sagen zu können, ob ich Russland mag oder nicht. Ich finde das hier auch ziemlich irrelevant. Wenn ich in diesem Thread von „Russland“ geschrieben habe, bezog sich das selbstverständlich auf die russische Regierung bzw. die russische Armee.
Unverständlich sind mir auch Ihre Ausführungen, Sie selber würden „unbefangen“ und mit „maximaler Differnziertheit“ argumentieren, ich hingegen sei von „meiner persönlichen Sympathie oder Antipathie“ geleitet, argumentiere „nicht differentiert“ und gehe „den einfachen Weg“.
Nur, nachdem Sie sich so ausführlich Gedanken über meine Sympathie für Gebietskörperschaften und meine Fähigkeit zur Argumentation machen, muss ich über den folgenden Satz schon schmunzeln:

Nein, denn wie wir alle wissen, hat Russland nie ein Interesse an einer Eskalation in ihrem selbsternannten Einflussbereich. Schon die Sowjetunion hatte die Völkerfreundschaft zum Prinzip erhoben. Sorry aber diesen ironischen Ausflug musste ich mal machen. Natürlich hätte Russland Interesse daran dass Armenien sich nicht an die EU annähert, sondern möglichst abhängig bleibt. Und dieses Ziel hat es nach dem jüngsten Waffengang erreicht.
Man kann ja gerne ein Fan Russland sein (kann ich zwar null nachvollziehen, ist aber selbstverständlich legitim). Aber dann sollte man auch so ehrlich sein und nicht unaufrichtig Neutralität vorspielen.

Ihnen ist schon bewusst, dass es Aserbaidschan mit Unterstützung der Türkei war, welches den Bergkarabach-Konflikt maßgeblich forciert hat? Dass Armenien hier ganz klar das Land in der Defensive war, welches von Anfang an wirtschaftlich und militärisch absolut unterlegen war und keinerlei Interesse an diesem Konflikt, den es letztlich auch verloren hat, hatte, weil es den Status Quo (Bergkarabach = Armenien) erhalten wollte, während Aserbaidschan diesen Status Quo brechen wollte?

Es ist mir vollkommen schleierhaft, wie man unter diesen Voraussetzungen hier eine russische Aggression ernsthaft argumentativ verteidigen kann. Russland ist und war Armeniens Verbündeter, samt Militärbasis im Land. Und der Bergkarabach-Konflikt hat Russland maßgeblich politisch geschädigt, weil Russland gerade in Armenien seit dem Konflikt maßgeblich in der Kritik steht - unter anderen, weil Russland sich nicht, wie von manchen erwartet, einseitig auf die Seite Armeniens gestellt hat. Und der Grund ist halt auch logisch: Weil Aserbaidschan auch ein wichtiger Arbeitskräftemarkt für Russland ist und man seinen Einfluss dort nicht verlieren möchte - abgesehen von den politischen Verwerfungen mit der Türkei, die darauf gefolgt wären. Deshalb hat Russland hier den Vermittler gespielt - natürlich auch aus geopolitischen Interessen, aber kann man das Russland wirklich vorwerfen, ohne dabei mit zweierlei Maß zu messen?!?

Wer den Bergkarabach-Konflikt nüchtern betrachtet dürfte hier jedenfalls kaum zu dem Ergebnis kommen, dass Russland der Übeltäter ist oder gar dass Russland ein Interesse an diesem Konflikt gehabt hätte. Dass Russland versucht, für sich das beste aus diesem Konflikt herauszuholen, indem es die sicherheitspolitisch schwache Lage seines Verbündeten Armeniens nutzt, um dort als Bündnispartner Truppen zu entsenden, ist nahezu selbstverständlich und würde von jedem anderen Land ebenso erwartet…

Aber das Problem ist hier halt das typische: Wenn man es darauf anlegt, Argumente zu finden, um Russland Vorwürfe zu machen, gelingt das natürlich auch. Und das ist genau die mangelnde Neutralität, die ich kritisiere.

Und wieder die Unterstellung, ich sei „Russland Fan“. Sorry, aber das ist einfach absurd. Ich habe in diesem Thread dutzende Male gesagt, dass ich Russland als autoritäres System auf der Schwelle zur Diktatur betrachte, dass ich mit Putin und seiner orthodox-konservative-nationalistischen Partei absolut gar nichts positives verbinde und ich die russische Außen- und vor allem Innenpolitik auch absolut kritisiere. Aber hey, weil ich in Teilaspekten (daher: „Ist die kulturell russisch dominierte Bevölkerung in der Ostukraine und auf der Krim vielleicht tatsächlich mehrheitlich auf der Seite Russlands?“ oder „War Russland Profiteur des Bergkarabach-Konflikt oder hatte es ein Interesse, diesen Konflikt zu schüren“) zu anderen Ergebnissen komme als Sie oder kaigallup bin ich natürlich automatisch „Fan Russlands“.

Merken Sie nicht, was hier falsch läuft? Sie versuchen, meine Interpretation der Situationen, die explizit losgelöst von meinen persönlichen Sympathien und Moralvorstellungen ist, zu delegitimisieren, indem Sie mir vorwerfen, ich sei parteiisch. Treu nach dem Motto: „Wenn Sie Russland wirklich nicht mögen, hören Sie gefälligst auf, genau hinzuschauen und sich Meinungen zu bilden, nach denen Russland nicht die alleinige Schuld an allem bösen trägt!“

Wie gesagt, dass ist die Mentalität des Kalten Krieges, die hier immer noch vorherrscht. Und das nervt mich. Und genau deshalb werde Ich weiterhin versuchen, Konflikte ohne Berücksichtigung meiner Sympathien, daher ohne pro-westlichen Bias, zu betrachten. Und ich würde mir weiterhin wünschen, dass mehr Menschen dazu in der Lage wären - dann würden wir solche Konflikte vielleicht in absehbarer Zeit lösen können… leider sind sich die meisten Menschen ihres Bias nicht bewusst, weshalb sie unfähig sind, Konflikte ohne Ansehen der Seiten zu bewerten. Und so ist halt absolut alles, was mit Russland zu tun hat und schief geht, die Schuld Russlands…

Ich nenne immerhin Argumente, warum ich zu dieser Meinung komme. Abgesehen davon, dass ich vor Corona drei Mal binnen zwei Jahren in der Ukraine war und mit zahlreichen Menschen beider Lager gesprochen habe. Aber was sind denn Ihre „zur Verfügung stehenden Informationen“, auf die sich ihre Meinung bildet?!?

Nein, genau das sage ich nicht - auch wenn Sie es so lesen wollen.
Ich sagte recht deutlich, dass die Ukraine natürlich das Recht hat, sich dem Westen anzunähern, in diesem Prozess aber eben die Interessen der Minderheiten berücksichtigt werden müssen.

Bestreiten Sie, dass es im Nachlauf des Euromaidan einen erheblichen ukrainischen Nationalismus gab, der sich explizit gegen die russische Minderheit richtete?!? Sehen Sie darin wirklich kein Problem?!?

Meine Kritik am Nachgang des Euro-Maidan ist genau das: Die Interessen der russischen Minderheit wurden nicht nur nicht gehört, sondern gezielt bekämpft. Sinnvoll wäre es gewesen, wenn man auf diese Menschen zugegangen wäre, sie in den Prozess eingebunden hätte. Beispielsweise hätte man russisch in den Bereichen, in denen mehr als 70% russische Muttersprachler leben, als zweite Amtssprache einführen können, wie es schon lange von diesen Menschen gewünscht wurde. Das wäre ein klares Entgegenkommen gewesen, die klare Message: „Ihr gehört auch zur Ukraine“. Stattdessen hat man die Menschen quasi Russland in die Arme getrieben, indem man eine Politik betrieben hat, die diesen Menschen verdeutlicht hat, dass man diese Menschen eben als Fremdkörper im eigenen Land sieht und nicht als Teil der Ukraine.

Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, auf die russische Minderheit einzugehen - was tatsächlich post-Maidan passiert ist, war jedoch das genaue Gegenteil. Das ist der mangelnde Minderheitenschutz, den ich beklage. Und das habe ich auch in vorherigen Posts schon sehr deutlich geschrieben, aber Sie drehen mir die Worte im Mund herum, damit es in ihre Argumentationsschiene passt und Sie mich als Russlandbefürworter darstellen können, was fernab jeder Realität liegt.

Ich betone nochmals: Ich denke, wir vertreten ziemlich exakt die gleichen Werte und haben die gleichen Ziele. Wir kommen lediglich zu unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Einstellung der Menschen in der Ostukraine und der Krim. Warum ist es Ihnen so wichtig, mich deshalb so negativ darzustellen?!?

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Keine Ahnung wie sie darauf kommen. Ich sehe nur, dass Sie schon wieder quasi synonym von einer „russischen Minderheit“ und „russischen Muttersprachlern“ reden. Und um die Minderheitenpolitik in der Ukraine geht es in diesem Thread einfach nicht. Thema ist die russische Aggression gegen die Ukraine und die Frage, ob es „einseitig“ ist, diese so zu benennen. Und ja, ich weiß, dass Sie der Meinung sind, der Maidan sei ursächlich für die russische Aggression, aber ich finde diese Behauptung nicht überzeugend. Er war eine Gelegenheit, die die russische Führung ausgenutzt hat. Nicht mehr und nicht weniger. Wie ich bereits vor über zwei Wochen schrieb: Die Argumente sind ausgetauscht.