Ostdeutschland und die Schuldfrage

Vielen Dank für die Analyse in der letzten Laage.

Mir hat hier aber ein ganz wichtiger Punkt gefehlt, der leider mittlerweile meist vergessen wird:

Die DDR war eine Diktatur und die meisten Leute haben mitgemacht und sich angepasst.

Unter dieser Diktatur haben aber natürlich auch viele gelitten, vor allem Leute die anders waren, nicht ins System gepasst haben.
Die werden aber meistens vergessen wenn die Elterngeneration hier in Dresden über die Vergangenheit spricht. „Es war nicht alles schlecht“. „Uns ging es doch allen gut“.
Bei den meisten Menschen ist überhaupt keine Solidarität mit den Opfern der DDR zu spüren.
Wer Opfer des Systems und der Stasi war, wer eingeknastet und gefoltert wurde, der war letztlich „selber schuld“. Man hätte „eben schlau sein müssen“. Oder „man hätte eben überlegen müssen was man sagt“, bekomme ich oft zu hören.

Im Westen hat man die eigene Schuld nach den 2. WK auch erst mal verdrängt. Erst die 68-er haben die Aufarbeitung erzwungen. Erst seitdem übernimmt die Deutsche Mehrheitsgesellschaft selbst Schuld und Verantwortung was damals passiert ist.

Im Osten gab es diese Bewegung nach der DDR bis jetzt nicht. Hier übernimmt man keine Verantwortung für die SED Diktatur. Auch wenn man selbst als Profiteur das begehrte Studium oder die Ausbildung nur über „Kontakte“ bekommen hat, weil man in der SED war und den Nachbarn ausspioniert hat, tragt man keine Schuld. „Das haben doch damals alle so gemacht“.

Die Bevölkerung übernimmt also in großen Teilen gar keine Verantwortung für die Vergangenheit. Es wird völlig verdrängt, dass die Mehrheit natürlich immer einen Einfluss auf die herrschenden Verhältnisse hatte.
Denn dass die DDR viel repressiver als andere Ostblockstaaten war, hat etwas mit der Bevölkerung zu tun, in der viele Leute gern den Nachbarn verpfiffen haben, um anschließend Schadenfroh die Festnahme zu beäugen.

Diese Einstellung der Verantwortungslosigkeit überträgt sich meiner Meinung auf die Gegenwart.

Immer sind alle anderen Schuld.
Das Ostdeutschland im Gegensatz zu allen anderen Ostblockstaaten heute fast auf Westniveau ist, wird überhaupt nicht honoriert.
Niemand guckt auf den Medianlohn in Polen von 1.100€ im Montat und denkt sich: „Hey wir haben es doch ganz gut. Vielleicht war die Wiedervereinigung doch nicht so schlimm“ „Vielleicht kann der Westen nichts dafür, dass die DDR ein ineffizient Wirtschaftssystem war“

Habt Ihr eine Idee, wie man diesen leider sehr gefestigten Einstellungen entgegen treten kann?
Wie kann man eine ostdeutsche -68 er Bewegung schaffen?

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Nichts für ungut, aber bei der 68er Bewegung haben auch nicht alle Menschen in der BRD mitgemacht, sondern nur eine Minderheit. Das ist vergleichbar mit der Minderheit, die in den späten 80ern in der DDR-Bürgerrechtsbewegung aktiv waren. Ich glaube du verklärst da etwas. Und ich frage mich, woher du deine Meinung formst. Kommst du aus dem Osten oder lebst du dort? Hast du enge Kontakte oder hast du dein Wissen mehrheitlich aus der Schule bezogen? Nicht böse gemeint. Ich wüsste nur gern auf welcher Basis du urteilst.

Ich würde auch die Aufarbeitung der DDR Diktatur nicht mit der Aufarbeitung des Dritten Reiches gleichsetzen. Das Unrecht in letzterer ist um ein Vielfaches eindrucksvoller und bedeutender gewesen. Es ist ein No-brainer zu sagen, dass das ein Verbrechen war. Damit hat die DDR auch sehr viel eher und deutlicher begonnen als der Westen - Stichwort Entnazifizierung.

Dennoch möchte ich dir recht geben. Eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit ist nie verkehrt. Zumindest in meiner Familie ist das aber auch passiert. Ich weiß wer sich zwecks Vorteilen zum Dienst verpflichtet hat und wer für subversives Verhalten in Haft war und dank Akteneinsicht kann heute auch jeder für sich klären wer wen gemeldet oder angeworben hat.

Ich frage mich also was dir genau fehlt? Die Verurteilung davon, dass man Querköpfe, die gegen das gesellschaftliche Ziel waren, mundtot gemacht hat? Fällt dir eine Zeitepoche ein in der der Gegner/Außenseiter (gruppendynamisch gesehen) nicht von der Gruppe ausgeschlossen und bekämpft wurden? Vor allem wenn es dafür Belohnungen gab?

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Ich lebe seit 10 Jahren in Dresen und bin in Nürnberg aufgewachsen.

Die älteren Leute die ich hier kennen gelernt habe, also Im Verein, auf der Arbeit oder die Eltern von Freunden, reden eben meist gut von DDR Zeiten und „dass es den Leuten doch gut gegangen sei“.

Ich wüsste nicht, wann in meiner Familie oder bei Leuten aus Nürnberg so über die NS Zeit gesprochen worden ist.

Dort war allen klar, dass es scheiße war und man alles machen muss, um Diktatur in Deutschland um jedem Preis zu verhindern.

Viele der Gedanken, die @Felix1 hat, teile ich. Ich nenne einige meine Kolleg:innen daher liebevoll „Menschen mit Diktaturhintergrund“. Die genannten Sprüche über das vergangene Leben in der DDR habe ich genau so schon gehört.
Allerdings gab es ja eine Aufarbeitung der SED-Diktatur; wir wissen inzwischen fast alles, was diese verbrochen hat. Die Archive sind sozusagen voll - obwohl so viele Dokumente vernichtet wurden in den letzten Stunden.
Aber dies war keine Aufarbeitung einer fragenden nachfolgenden Generation, sondern eine staatlich geförderte und geforderte Aufarbeitung. Mein subjektiver Eindruck ist, dass diese und die Umstände der Wiedervereinigung eine Trotzreaktion ausgelöst haben, die die junge Generation übernommen hat.
Es bräuchte eine Aufklärung der jungen Generation, die fast kein Problembewusstsein für die Zustände in der DDR und auch wenig Problembewusstsein für die NS-Diktatur zeigt.
(Quelle: Ich habe am Rande beruflich damit zu tun.)
Meine einzige Antwort auf die Frage, wie man diesen sehr gefestigten Einstellungen entgegentreten kann, ist Bildung, Bildung, Bildung. Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung.
An dieser Stelle muss ich vorweggreifen, dass die Qualität des Bildungssystems der einzelnen Bundesländer wenig Einfluss auf solche Vorgänge zu haben scheint, weil zwar Berlin und Brandenburg beim IQB-Bildungstrend regelmäßig katastrophal abschneiden, Sachsen hingegen sehr gut.

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Warum „Ostdeutschland“? Auch westlich der Elbe wurde die AfD zumindest Platz 2 bei der EU Wahl. Heute geistert ein Bericht durch die Zeitungen, über eine Sonnenwendfeier in Niedersachsen. Denke, die Baustelle ist größer - jemand anderes muss Schuld sein, ein deutschlandweites Problem.

Es ein deutschlandweites Problem zu nennen kann dafür sorgen, dass es den Blick auf Lösungen verklärt. Diese Lösungen können nämlich regional unterschiedlich aussehen. In der ex DDR halte ich eine bei den Leuten ankommende Aufarbeitung der DDR-Zeit und der Wende für wichtig. Dieser Aspekt wird in Niedersachsen weniger wichtig sein.

Ich persönlich kenne einige ehemalige ostdeutsche, denen es in der DDR nicht gut ging, weil sie sich nich gefügt haben. Und die reden ganz anders von der DDR und ihren ehemaligen Mitbürgern.

Dass Rechtsextremismus im Osten wie im Westen, im Süden wie im Norden bekämpft gehört, ist ja - sorry das so sagen zu müssen - trivial.

Anekdotische Evidenz wie eine nazistische Sonnenwendfeier somewhere in Niedersachsen führt da nicht weiter.

Denn es geht schon auch um die Dimensionen des Problems, die auch durch Platzierungen wie „westlich der Elbe wurde die AfD zumindest Platz 2 bei der EU Wahl“ nicht erfasst werden.

Rechnet man die Endergebnisse der Europawahl nach Bundesländern im Osten und Westen (Quelle: Bundeswahlleiterin) getrennt voneinander zusammen, kommt man für rechtsextreme Parteien (AfD und in Die Heimat umbenannte NPD) auf einen enormen Unterschied:

Neue Bundesländer: 30,3 %
Alte Bundesländer (inkl. Berlin): 13,1 %

Der Anteil im Osten ist also mehr als doppelt so hoch.

Selbst wenn man das historisch ziemlich rechte Baden-Württemberg (bestes NPD-Ergebnis ever, zweimal Republikaner im Landtag, beste AfD-Ergebnisse in den alten Bundesländern) mit dem Durchschnitt der neuen Länder vergleicht, ist das so. Denn das Bundesland liegt bei 14,8 %.

Klar kann man zurecht monieren, dass jedwedes zweistellige Ergebnis für Rechtsextreme Anlass zu Besorgnis und verstärktem Engagement gegen rechtsextreme Umtriebe sein muss.

Aber m. E. macht es schon einen gravierenden Unterschied, ob fast ein Drittel rechtsextrem wählt oder fast ein Siebtel.

Zur Problematik und möglichen Ursachen habe ich hier einiges ausgeführt:

In diesem Zusammenhang scheint mir der Befund der letzten Mitte-Studie (Zick et al. 2023) bemerkenswert:

„Gegenüber den Vorjahren bleibt der generelle Unterschied zwischen Befragten aus Ost- und Westdeutschland unverändert. Dabei geht die Angabe, überwiegend im Osten aufgewachsen zu sein, durchgehend mit häufigerer Zustimmung zum kulturellen (41 zu 28 %) wie auch klassischen Rassismus (19 zu 7 %), zum Antisemitismus (15 zu 8 %), zum Hetero-/Sexismus (15 zu 11 %) und Klassismus (23 zu 16 %) einher.“ (Quelle im Thread verlinkt)

Dies spricht dafür, dass der ‚DDR-Hintergrund‘ relativ unabhängig vom heutigen Wohnort eine Rolle spielt.

Ob der Umgang mit der DDR-Vergangenheit (Stichwort ‚Ostalgie‘ und/oder womöglich unzureichende Aufarbeitung des DDR-Unrechts) da auch irgendeinen Effekt hat, ist zunächst eine offene Frage. Ein direkter Zusammenhang erschließt sich mir jedenfalls nicht.

Da fand ich den Hinweis im Lagepodcast LdN388 zur Studie von Pesthy et al. 2020 (Stichwort: ‚Nativismus‘) schon schlüssiger.

Aber abseits dessen kann man natürlich diskutieren, ob eine Erinnerungs- und Verantwortungskultur bezogen auf die DDR denn schon ein wünschenswertes Ausmaß erreicht hat. Und da sehe ich dann schon gewisse Parallelen zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik - bei aller Unterschiedlichkeit der verbrecherischen Ausmaße.

Denn auch in der alten Bundesrepublik wurde jahrzehntelang mehr verdrängt als aufgearbeitet. Daher ist zu erwarten, was immer man davon hält, dass die noch mehr oder minder oder manchmal auch gar nicht involvierten Generationen dies nicht oder nur unzureichend zu leisten im Stande sind.

Eine andere Frage ist dann schon wieder, ob und ggf. inwieweit nicht bestimmte Narrative generationenübergreifend tradiert werden, die einer verantwortungsvollen Aufarbeitung entgegenstehen.

Unabhängig davon sind die (Wieder-)Hinwendung zum Rechtsextremismus erheblicher Bevölkerungsteile und die mutmaßlich unzureichende Aufarbeitung der DDR-Diktatur eines Teils der Bevölkerung zwei Paar Schuhe.

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