LdN386 Wahlanalyse - was ist im Osten anders

Das wirkt jetzt etwas so als sei Kowalczuk mal wieder so ein „Wendegewinnler“; der sagt „ich hab es ja auch geschafft, wieso habt ihr euch nicht auch etwas angestrengt“. Seine Kritik darauf zu reduzieren ist schon arg verzerrend. Denn die zielt ja in erster Linie auf das heutige politische Selbstverständnis vieler Menschen in Ostdeutschland, nicht auf deren sozioökonomische oder sozialpsychologische Lage in den letzten 35 Jahren.
Auf der anderen Seite muss man auch sehen, wie begierig das „Jammer-Ossi“-Narrativ - wenn man es denn überhaupt so nennen will, aufgenommen wird und wie aggressiv jegliche Kritik daran mitunter weggebissen wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist m. E. die Debatte um Oschmanns Buch. Sehr eindrücklich fand ich da eine Diskussion zwischen Oschmann und David Begrich. Begrich hat einfach nur darauf hingewiesen, dass viele in Ostdeutschland genau das gewählt haben, was sie nun beklagen und wurde allein dafür fast niedergebuht. Und Oschmann hat sich ganz populistenmäßig in der Zustimmung des Publikums geräkelt. Hier die Links zu einem Bericht und dem Mittschnitt.

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Ich habe auf einen Fakt in Kowalczuks Biographie verwiesen, der vielleicht teilweise seine teils sehr harten Positionen erklären kann. Der Mann hat mit der Wende nunmal nur den Weg aufwärts erlebt.

Er hat nicht erlebt was passiert wenn plötzlich der gesamte industrielle Backbone zusammenbricht und es plötzlich etliche qualifizierte Arbeitskräfte für Bereich x gibt, aber keine Jobs mehr. Und dann sagen dir auch noch Menschen, du sollst dich nicht so haben. Und die neuen Chefs aus dem Westen lachen dich aus weil du „nur“ eine Frau bist oder du als Ossi ohnehin keine Ahnung hast. Kowalczuk hat das nicht erlebt, urteilt über diese Menschen aber sehr hart.

Anyway, ich habe ihn keineswegs darauf reduziert, siehe auch

Es ist schon schade wie du solche Relativierungen einfach wegwischst als hätte es sie nie gegeben.

Das Institut für Rechtsextremismusforschung hat die Ergebnisse der AfD in Baden-Württemberg analysiert.

Vielleicht ein kleines Puzzelteil um das Ergebnis im Osten Deutschlands einordnen zu können.

… zeigt sich erneut jene Polarisierung zwischen urbanen und eher ländlichen Räumen, die auch schon in der Bundestagswahl 2021 sichtbar wurde. Es sind erneut insbesondere die Universitätsstädte und ihr Umland, die besonders resilient gegen die AfD sind und in denen die Grünen im Vergleich weniger Stimmen einbüßen.

Dabei zeigt sich, dass die AfD in den eher globalisierten, kosmopolitisch orientierten und universitär geprägten Zentren und deren unmittelbarem Umland deutlich schlechter abschneidet als in den eher ländlichen Räumen Baden-Württembergs.

https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/wirtschafts-und-sozialwissenschaftliche-fakultaet/faecher/fachbereich-sozialwissenschaften/rechtsextremismusforschung/aktuell/baden-wuerttemberg-hat-gewaehlt-ein-blick-auf-die-ergebnisse-der-afd-bei-den-wahlen-zum-europaeischen-parlament/

Im Interview mit dem Schwäbischen Tagblatt sagt der Politikwissenschaftler Rolf Frankenberger dazu:

In Tübingen gewann die AfD bei der EU-Wahl weniger als 0,4 Prozent gegenüber 2019 hinzu. Im Tübinger Dorf Weilheim, immerhin mit der aktuellen Windkraft-Debatte prädestiniert für ein paar Wutbürger, lag die Quote gar niedriger. „Das zeigt, dass man lokal offenbar viel machen kann, mit einer anderen politische Kultur. Es gibt in Deutschland viele Beispiele dafür. Vielleicht haben wir dort jeweils eine funktionierende Jugendarbeit, eine engagierte Kirche oder eine gute Art des Austauschs im Dorf über Milieus hinweg.“

Wobei AfD-Wähler oft wenig an den Feinheiten des Programms interessiert seien. „Viele etwa wirtschaftspolitische Punkte der AfD würden Deutschland ja schaden“, sagt Frankenberger. „Aber Identitätspolitik ist eben ein wichtiger Faktor aktuell. Andere Inhalte sind den Wähler weniger wichtig. Sie wollen das bewahren, was sie ihre Identität nennen. Das, was sie unter Deutschsein verstehen.“

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Zum Stadt-Land-Unterschied hatte ich hier etwas geschrieben:

Wie schon bei vorangegangenen Wahlen zeigt sich auch bei der Europawahl ein großer Unterschied nach Bildungsabschluss, der AfD-Wähler-Anteil ist unter Menschen mit höherer Bildung nur halb so groß:


In Tübingen z. B. ist der Akademiker-Anteil mit etwa der Hälfte erheblich:

In Jena mit mehr als einem Drittel ebenfalls:

Auch der im oben verlinkten Thread verlinkte Essay von Karen Stenner bietet eine Erklärung, warum Menschen mit höherer Bildung seltener rechtsextreme Autoritaristen wählen.

Man könnte also sagen, dass die immernoch bestehenden und sich verhärtenden Unterschide im Wahlverhalten bezüglich rechtspopulistischer Parteien bei West- und Ostdeutschen Wählern sozusagen auf einen fehlgeschlagenen ‚Integrationsversuch‘ der Ostdeutschen nach der Wende ins westdeutsche System zurückgehen. Den selben Fehler möchten sämtliche Parteien jetzt zum zigten Mal wiederholen, indem sie Integration konsequent falsch verstehen als eine Anpassung der von außenkommenden an die von innenkommenden. Das ist interessant, denn dass dieses Verständnis falsch ist und nicht funktioniert, weiß die Wissenschaft schon seit über 30 Jahren. Gelungene Integration i.S. eines win/wins für alle gelingt immer dort, wo alle sich auf ein gegenseitiges Interesse und ein gegenseitiger Anpassungs- und Wachstumsprozess gelingt. Also kein ‚wir haben das bessere System‘ passt euch uns an und wenn ihr so geworden seid wie wir und nicht mehr auffallt sondern ein wirkliches Aufeinandereinlassen und das heißt auch ein Überdenken des scheinbar ‚besseren‘ Systems und ggf. Nachbessern Anpassen.
Die Frage muss also lauten: wo und wie können wir von den ‚anderen‘, ob nun Ostdeutschen oder Menschen aus anderen Ländern lernen? Wo etwas übernehmen, das uns als Gesamtgesellschaft voranbringt? Wo ist euer Beitrag?
Das muss mehr in den Fokus genommen werden. Und hier seh ich auch eine große Verantwortung der Medien und der öffentlichen Diskussionskultur

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Der Fachbegriff hier ist „Assimilation“: Also, wer zu „uns“ kommt (damals: wer in den „Westen“ kommt) soll so werden wie „wir“. Die Zusammenanschluss von Ost und West wurde dominant eher als Anschluss von Ost and West gedacht, und alle sollten so werden, wie der Westen ist, weil das das gute und richtige System sei.
Es gibt der Integrationsforschung viele interessante Konzepte, für die mir leider das Fachwissen fehlt und die häufig sehr akademisch beschrieben werden (Sozialintegration nach Esser, Theorie der funktionalen Differenzierung nach Luhmann…). Erfolgreiche Integration wird in der breiten Gesellschaft mutmaßlich immernoch vorallem als Assimilation verstanden und nicht als etwas, bei dem die aufnehmende Gesellschaft sich auch bewegen muss und profitieren kann.

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Ich finde selbst dazu nichts, aber ist das auf die Ergebnisse der ostdeutschen Bundesländer übertragbar?

Logisch, viele Menschen mit höherer Bildung sind schon weg.

Wahlverhalten im Osten

Bezugnehmend auf die LdN388

Die Wende als Trauma?
Wir wäre es denn, wenn sich die ostdeutschen Bürger folgendes sagen: “Wir haben es geschafft, einen menschenverachtenden Unrechtsstaat friedlich abzuschaffen und demokratische Wahlen zu erzwingen. Unsere gewählte Volkskammer hat dann den Wählerwillen umgesetzt und den Beitritt zu dem demokratischen Teil unseres vormals geteilten Landes vollzogen. Unser Wirtschaftssystem war gescheitert, dennoch ging unserer Land nicht in Anarchie und Chaos auf, sondern wir wurden unterstützt von unseren westlichen Schwestern und Brüdern. Wir konnten unsere nahezu wertlose Währung zu guten Kursen umtauschen, haben das Sozialversicherungssystem nutzen können, obwohl wir bisher nicht eingezahlt haben. Auch Rentenansprüche sind übernommen worden. Es war eine Zeit, die von großer Existenzangst geprägt war, aber wir hatten immer ein Dach über dem Kopf, mussten nicht Hunger leiden, hatten eine existenzielle Absicherung und Chancen, uns in dieser Gesellschaft zu entwickeln. Klar, es geht nicht alles von heute auf morgen, und es muss sich erst finden. Aber immerhin waren es auch etwa 40 Jahre, die unser Land heruntergewirtschaftet haben. Es war nicht alles gerecht nach der Wende, große Unternehmen haben den Osten nahezu übernommen, aber in diesem System haben wir die Möglichkeit uns zu wehren, Ungerechtigkeiten anzusprechen, mitzuwirken an einem gerechteren Land.“
Es geht mir um menschliche Psychologie. Wie bewerten Menschen ihre Situation. Und natürlich sind Menschen suggestibel. Die Negativ-Fokussierung, der Blick mit dem in Deutschland geschaut wird, prägt die Wahrnehmung der Menschen. Dabei geht es nicht um konstruktive Kritik oder das klare Benennen von Problemen. Es geht um das Weglassen dessen, was positiv läuft und gelaufen ist. In einem späteren Beitrag der LdN388 wird das anhand der Berichterstattung zur Wärmepumpe klar. Deshalb frage ich mich, ob das Thema wirklich Desinformation so nachrangig zu beurteilen ist. Es wird im Internet schon seit Jahren beleidigt, gehetzt, gefaked gegen Politiker und Wissenschaftler von unterschiedlichen Agenten (Rechte, fossile Industrie, missgünstige Staaten), um Unzufriedenheit zu schüren und unsere Demokratie zu destabilisieren. Ich bin deshalb sehr überrascht von den Expertenaussagen dazu, dass so etwas keinen Einfluss auf Wahlen haben soll. Vielleicht sollte man das mal langfristig betrachten und einen Psychologen befragen.
Ich habe ohne das Thema gezielte Desinformation / Diskreditierung / Diskriminierung keine schlüssige Erklärung, warum Menschen, die Angst vor Statusverlust haben, eine Partei wählen, die nach Experten ein Programm haben, das der Wirtschaft schaden wird. Ebenso fehlt mir die Erklärung dafür, dass Menschen, die es geschafft haben, einen Unrechtstaat abzuschaffen, sich dafür entscheiden, AFD zu wählen und die erlangte Freiheit und die Grundrechte in Frage zu stellen.
Ich finde die benannten Strategien wenig zielführend. Auch wenn ich Bürgerräte super finde und für eine soziale Absicherung bin, glaube ich nicht, dass das jemanden vom rechts wählen abhalten wird. Hartz IV wurde als Beispiel genannt, ist ja inhaltlicher rechter Politikideale geschuldet, auch wenn es ein Schröder-Projekt war.
Das Bekämpfen von Desinformation, Beleidigungen, Diskreditierung ist dringend notwendig. Durch KI werden hier alle Täuschungen möglich. Wer so etwas kreiert und/oder verbreitet sollte strafrechtlich verfolgt werden. Es sollte dieses Thema auch immer wieder klar und nachdrücklich benannt werden. Meinungen entstehen aus der Einschätzung von Fakten. Über diese Einschätzung lässt sich (politisch) streiten, nicht aber über die Fakten. Das ist aus meiner Sicht Grundlage demokratischer Auseinandersetzung. Ich schlage vor, dass Presse und Politik zu mehr Objektivität finden. Und ich finde es wichtig, nicht einseitig die negativen Folgen der deutschen Einheit hervorzuheben und damit einen Opfermythos zu stärken, der zu Unzufriedenheit führt. Dazu ist es wichtig, dass die Aufrechten des Landes zu Demokratie stehen und sich gerade machen. Dazu gehört klar zu sagen und gerichtlich festzuschreiben, was in diesem Land nicht geht. Deshalb sollte ein Verbotsantragsverfahren gegen die AFD verfolgt werden.
Abschließend möchte ich anmerken, dass ich als Mitarbeiter in einem Krankenhaus im ehemaligen Zonenrandgebiet mit vielen aus Ostdeutschland kommenden Kollegen und Kolleginnen zu habe. Es sind einige davon auch in Führungspositionen. Die Zusammenführung so vieler Menschen, die verschiedene Lebensarten entwickelt haben, braucht halt Zeit und wir in dieser Hinsicht Geduld.

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Es gibt Menschen, die haben Schwierigkeiten, komplizierte Sachverhalte zu durchdringen.
Darum gibt es auch eine Tagesschau in einfacher Sprache.

Es verwundert mich, dass die Moderation diesen plumpen Versuch zu beleidigen, durchlaufen lässt. So emotional reagiert wohl, wenn man keine Argumente hat.

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Ich denke, du missverstehst mich!

Diese Tatsache wäre für mich der einzige Grund den Zusammenhang zwischen Wählen der AFD und den daraus entstehenden eigenen Nachteil nicht zu erkennen.

Das solltest Deine Formulierung vielleicht nochmal überdenken. Aus

plus

wird

Menschen, die es geschafft haben, einen Unrechtstaat abzuschaffen … haben Schwierigkeiten, komplizierte Sachverhalte zu durchdringen.

Ich hoffe nicht, dass Du das sagen wolltest

Nein, aber ich denke, die Schnittmenge könnte gering sein.
Es haben ja nicht 100% der DDR-Bürger für die Abschaffung gesorgt sondern nur eine ausreichend große Mehrheit.

Und ich hätte vielleicht dazuschreiben sollen, dass diese fehlende Kompetenz kein rein ostdeutsches Problem ist.

Mich würde eh mal interessieren, wie viele derjenigen, die jetzt AFD wählen, treibende Kräfte der Montagsdemos waren. Machen wir uns nichts vor, diejenigen, die der DDR nachtrauern waren Systemtreue und Mitläufer. Wer unter der DDR-Diktatur gelitten hat, dürfte auch heute noch wissen, was er mit dem Mauerfall gewonnen hat.

Die Tagesschau in einfacher Sprache hat etwas mit Barrierefreiheit zu tun.
Menschen mit Einschränkungen/Behinderungen haben auch ein Recht auf Nachrichten.
Weder die T. in einfacher Sprache noch ihre Zielgruppe sollten belächelt oder verunglimpft werden.

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Ich danke grundsätzlich für die Analyse, die viel Wahres in sich trägt. Das vorangestellt hier etwas Kritik (nicht notwendigerweise an der Folge selbst): Eine der maßgeblichen Ursachen sei die Abstiegsangst/Statusangst, also die Angst nicht nur vor absolutem, sondern schon vor relativem Abstieg.

Das Vorhandensein einer solchen Möglichkeit des Abstiegs, ist einer Konkurrenzgesellschaft nun einmal immanent. Wenn es „Oben“ und „Unten“ gibt, dann fürchten sich Menschen nun einmal zwangsläufig vor einem Dasein im „unten“. Das gilt auch, wenn besagtes „Unten“ mit ein paar Sozialstaats-Maßnahmen etwas weniger beschissen gestaltet wird. Man sollte meinen die Lösung liege auf der Hand: Loslösung von der Konkurrenzgesellschaft.

Aber natürlich ist die diese Umstände hervorrufende Eigentumsordnung bekanntermaßen heilig, weswegen diese pfui radikale Lösung auch mit Jahr für Jahr besseren AfD Ergebnissen quasi niemand will.

Entsprechend bedingt fallen die Lösungsvorschläge dann auch aus. Nicht gegen die tatsächliche Möglichkeit des Abstiegs/der Armut will etwas unternommen sein, sondern gegen die daraus offenbar resultierende Anfälligkeit für Rechtsaußen. Moralische Festigung ist verlangt. Die Menschen sollen sich wieder sicher fühlen, sie sollen besser repräsentiert sein in diesem System, dass ihnen vor allem Existenzängste zu bieten hat, usw usf.