Zu LdN368: "Ohne Frieden ist halt Freiheit nicht da."

Ich höre gerne LdN weil ich Ulf Buermeyer und Philip Banses Art der Berichterstattung sehr angenehm finde. In zweiter Linie höre ich auch ihre politischen Kommentare und Einschätzungen mit Interesse, weil es mir zeigt, wo der gemässigt-progressive Mainstream in der Bundesrepublik - zu dem ich mich auch zähle - gerade weilt.

So war es sehr aufschlussreich, als ich in LdN368 den Abschnitt zu “Abschreckung: Braucht die EU eigene Atombomben?” hörte, denn es scheint mir, dass besagter gemässigt-progressive Mainstream den Rubikon überschritten hat: von einer pazifistischen zu einer militaristischen Grundhaltung; genauer: von Krieg als einer Ausnahmesituation hin zu einer permanenten Kriegsbereitschaft hin. O-Ton:

– Ohne Frieden ist halt Freiheit nicht da. Diese Entspannungspolitik […] das ist einfach gescheitert […] mit Russland.
– Wenn es mit Entspannung nicht geht, dann setzt Frieden eben ein Gleichgewicht der Kräfte voraus und das ist nur durch mehr Waffen herzustellen. […] Wenn man nach diesen Angriffen nicht diese Schlüsse zöge, wäre das unverantwortlich.
– Sehe ich ehrlich gesagt auch so.
– […] Schwäche ist eine Einladung zur Aggression.

Anscheinend war dieser gemässigt-progressive Pazifismus ein—im technischen Sinne— opportunistischer Pazifismus, einen den man sich nur in Friedenszeiten (“Entspannungspolitik”) leisten kann. Ich frage mich, ob Buermeyer und Banse mir da in meiner Diagnose recht geben würden?

Hier also nun (m)eine gemässigt-progressive Position, die anscheinend nicht mehr Mainstream ist: “Ohne Frieden ist halt Freiheit nicht da.” Dem stimme ich zu. Aber was ist Frieden? Die Idee, dass nur durch Militarisierung der Bundesrepublik “Frieden” möglich sei, verändert unwiderruflich den Friedensbegriff (oder den Freiheitsbegriff). Die Militarisierung der Gesellschaft führt nämlich zu einem Zustand der permanenten Kriegsbereitschaft, die das Gegenteil von Frieden ist, weil sie eine permanente Vorstufe zum Krieg selber ist. Sie erfordert eine Umstrukturierung der Gesellschaft hin zu einer Normalisierung des Kriegszustandes. Insbesondere die Zivilgesellschaft muss sich militarisieren:

  • zivile Infrastruktur muss sich mit militärischer Infrastruktur verbünden, d.h. Zivilklauseln an Forschungseinrichtungen werden fallen;
  • zivile Industriezweige werden der Rüstungsindustrie zuarbeiten müssen;
  • das Bauen zukünftiger ziviler Infrastruktur (Schienen, etc.) wird auch unter Einbeziehung von militärischen Gesichtspunkten erfolgen;
  • in der Zivilbevölkerung muss die Bundeswehr attraktiv gemacht werden, ihre kulturelle Präsenz normalisiert werden.

(Teil 1/2)

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Kritik einer jeden dieser Entwicklungen kann (und wird) gekontert werden mit demselben Argument: Dies nicht zu tun “wäre unverantwortlich”, in Philipp Bahnses Worten. Das ist kein slippery slope-Argument, sondern nur folgerichtig, wenn man den oben angesprochenen Rubikon überschreitet. (Die einzige Grenze sind dann universale Menschenrechte, so dass es vielleicht rechtlich unklar ist, ob man die Ukraine nicht sabotiert, wenn man davon absieht zigtausende ukrainische Deserteure aus der EU wieder in ihr Heimatland rückzuführen.)

‘Ohne Frieden keine Freiheit’ sieht man eben nicht nur an Russland, sondern auch an der Ukraine, die zum Krieg gezwungen wurde: Eine Kriegsgesellschaft kann keine Demokratie mehr sein – Wahlen werden zum aufschiebbaren Problem; sie kann sich kein Pluralismus mehr leisten – interner Dissens muss eingedämpft werden. Sich durch Militarisierung gehorsam in diese Situation bzw. ihrer Vorstufen zu begeben, kann daher auch als Falle gewertet werden, in die Autokratien wie Russland die westlichen Demokratien zwingen.

Der pazifistische Friedensbegriff ist mit einer permanenten Kriegsbereitschaft unvereinbar. Krieg und seine Vorstufen sollten ein Ausnahmezustand bleiben. Man kann der Ukraine militärischen Beistand leisten, ohne in eine Militarisierung der Bundesrepublik zu verfallen. Ausnahmezustand bedeutet aber auch, dass man sich aktiv für den Frieden einsetzt. In den Worten von Gino Strada, dem Gründer von Emergency: Das Ziel gegenwärtiger Gesellschaften muss sein, Krieg zu einem anthropologischen Tabu zu machen, dem Inzest-Tabu nicht unähnlich.

Soweit zur philosophischen Diskussion, die natürlich ihre Grenzen hat, wenn es wirklich um die Gegenüberstellung von verschiedenen Freiheits- und Friedenskonzeptionen geht. Was ich dann eher in Frage stellen möchte, ist die implizite Prämisse von Buermeyer und Bahnse, Pazifismus liege faktisch falsch. Nun ist aber gerade nicht so, dass Russlands Angriff die Resultate jahrzehntelanger Friedensforschung ad acta gelegt hätte. Mehr Waffen in einer Region führen unweigerlich zu mehr Krieg (Gewalt, Zerstörung und Leid), nicht weniger. Das gilt für Europa wie es für Sri Lanka gilt. Ich würde mir wünschen, dass Buermeyer und Bahnse hierzu mal ein Expertengespräch führen würden, denn diese Erkenntnis kann man nicht einfach auf den Kopf stellen, in dem man spieltheoretische Plattitüden aus dem Kalten Krieg heranzieht.

Ich bin gespannt wie sich Buermeyers und Bahnses politischer Kommentar in der nächsten Zeit entwickeln wird. Ich werde wie immer mit großem Interesse zuhören!

Teil 2/2

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In der Friedensforschung spricht man auch vom „negativen“ Frieden (Abwesenheit von Gewalt und Krieg) und „positiven“ Frieden (die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft, Schocks zu absorbieren ohne das dabei Konflikte ausbrechen).

„Positiver“ Frieden bedeutet aber nicht zwangsläufig absoluter Pazifismus (wir rüsten ab und liefern uns einem militärischen Angriff aus). Für meine Begriffe ist ein „positiver“ Frieden durchaus mit einer Verteidigungsfähigkeit vereinbar. Ich würde sogar argumentieren, dass für die mit dem „positiven“ Frieden beschriebene Konfliktresilienz eine Abwehrmöglichkeit von aggressiven Schocks sogar Voraussetzung ist. Da kommt zum Beispiel wieder das Stichwort der „wehrhaften“ Demokratie ins Spiel.

Die Frage ist jetzt natürlich, wie sich das in der Praxis umsetzen lässt. In der Bundesrepublik gab es da ja schon sehr früh Konzepte und Ideen: das Prinzip des Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ und nicht als heroischer „Warfighter“ zum Beispiel.

Ich persönlich glaube, dass ein Spagat hier möglich, ja sogar notwendig ist. Deutschland kann eine „verteidigungsfähige“ Armee haben, ohne militaristisch zu sein. Wir können andere Demokratien wie die Ukraine militärisch unterstützen, ohne „Kriegstreiber“ zu werden. Wir können eine abschreckende Haltung gegenüber faschistischen Regimen wie dem russischen einnehmen und gleichzeitig einer progressiven Zivilgesellschaft in Russland die offene Hand reichen und sie unterstützen. Wir können unsere nationalen gesellschaftlichen Diskurse konstruktiv und friedlich führen und gleichzeitig unsere Interessen als freiheitliche demokratische Gesellschaft mit Nachdruck gegenüber möglichen Aggressoren verteidigen.

Das Problem ist wohl eher menschlicher Natur und hat mit Macht zu tun.

Wäre die Ukraine pazifistisch gewesen, demilitarisiert und neutral, hätte das Russland von einer Invasion bindend abgehalten?
Würde ich zumindest nicht drauf wetten…

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Ich auch nicht. Leider ist wohl eher wahrscheinlich, dass die Ukraine nicht angegriffen worden wäre, hätte sie nicht in den 90er-Jahren im Rahmen des Budapester Memorandums ihre sämtlichen Atomwaffen an Russland übergeben - für umfangreiche Sicherheitsgarantien der Russischen Föderation, Großbritanniens und der USA.

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Die Ukraine hat die Nuklearwaffen damals auch aufgegeben, weil das Land nicht die technischen, finanziellen und militärischen Möglichkeiten hatte, sie operationsfähig zu halten. Das hat angefangen mit den Aktivierungscodes, die von Russland kontrolliert wurden. Aber auch Wartung und Instandhaltung waren davon betroffen. Insofern ist es extrem unwahrscheinlich dass die Ukraine 2014 oder 2022 noch über einsatzfähige Nuklearwaffen verfügt hätte, wäre das Budapester Memorandum nicht zustande gekommen.

Entsprechend war das Abkommen mit Russland, den USA und UK auch der Versuch, eine alternative Sicherheitsgarantie zu bekommen, die im Gegensatz zur nuklearen Bewaffnung dauerhaft Bestand haben würde. Ein „Geburtsfehler“ dieses Abkommens ist wohl, dass es keinen aktiven militärischen Beistand der „Garantiemächte“ im Falle eines Angriffs vorsieht, sondern nur „immediate Security Council action“ und „consultations“. Das hätte die USA und UK natürlich nicht daran gehindert, schon 2014 die Ukraine unter Berufung auf das Memorandum viel stärker zu unterstützen. Damit wäre die weitere Eskalation 2022 vielleicht noch zu verhindern gewesen.

Ja, ja, ja, ich würde auch gern in solch einer Welt leben. Aber leider gibt es heutzutage viele, die - um im Bild zu bleiben - Inzest Spitze finden und auch nicht diskutieren wollen, ob das richtig ist oder nicht. Auch ein skeptischer Pazifist muss erkennen, dass es Leute gibt, für die Gewalt das Mittel der Wahl ist und militärische Stärke das einzige Argument, das sie (aner-)kennen.
Wir sitzen hier in D schön im Warmen und in der dritten Reihe, wenn’s ernst wird. Ich sehe die Gefahr als real an sowie die Notwendigkeit, uns viel robuster und abwehrbereiter zu machen - nicht zu verwechseln mit ‚kriegsbereit‘, wie ich das z. B. in Nordkorea so sehen würde. Aber das Denken und Handeln in Skandinavien und im Baltikum finde ich sehr richtig. Ich möchte nicht erleben, welche Panik hier ausbrechen würde, wenn ein 1. Panzer oder eine 1. Rakete unsere Grenze in kriegerischer Absicht überquert. Dann muss man einen Plan und entsprechende Mittel zur Abwehr haben, oder sollten wir dann erst mal eine Sondersitzung im Bundestag einberufen und über die Lage diskutieren?

Na ja, wer der Meinung ist, die Menschheit ist schon reif genug, um ohne Krieg auszukommen, müsste auch überzeugt sein, das wir analog auch schon eine Welt ohne Kriminalität haben können.

Wir sind leider noch nicht so intelligent als Spezies, da fehlen noch ein paar Entwicklungsstufen. :wink:

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Die Frage ist immer, wie bereit man nach Jahrzehnten des Friedens für den Krieg ist.
Es gab auch Regeln, dass die Bundesrepublik für den Fall einer Epidemie Schutzausrüstung vorhalten muss.
Mit jedem Mal wegschmeißen der abgelaufenen Ware wuchs die Frage, wie sinnvoll diese Investitionen eigentlich sind. Das Ergebnis kennen wir. Genauso ist man jetzt voller Motivation Geld in die Bundeswehr zu stecken, weil der Sinn erkennbar ist. Wenn das Zeug dann vor sich hin verrottet und regelmäßig Geld kostet, ohne dass es einen sichtbaren Nutzen gibt, wird sich zeigen müssen, wie bereit die Bürger sind, Vorsorgemaßnahmen dauerhaft mitzutragen.

…ist bissl so wie mit den Versicherungen ….

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… ja, es ist irgendwie blöd, dass man sich nur gegen den Schaden, nicht gegen die Ursache bzw. den Verursacher versichern kann.
Umso wichtiger finde ich es, sich robuster zu machen und die Erkenntnis zuzulassen, dass es schlechte/böse Mernschen gibt, deren Strategie es ist, sich einfach nicht an Regeln zu halten. Leider finden sie auch noch Anhänger!

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Danke für deinen guten Beitrag. Ich fürchte aber dieser „Spagat“ (so wünschenswert er sein mag) ist utopischer als der Pazifismus selbst. Aus zwei Gründen:

  • Diese Konzepte stehen als kulturelle Optionen nicht zur Verfügung, während der Militarismus (gerade in der deutschen Geschichte) über Jahrhunderte in Deutschland verankert wurde. Er - und nichts anderes - liegt als politische und kulturelle Option bereit, wenn man aufrüstet. Olaf Scholz‘ „Zeitenwende“-Rede ist letztendlich auch ein Dokument dafür.

  • Ein Abschreckungspotential zu inszenieren, geht nur wenn sich militaristische Rhetorik und Handeln decken; ansonsten kann sich dieses Potential nicht entfalten.

Selbst wenn sich ein Weg finden würde, diesen „Spagat“ umzusetzen, könnte dies im Handumdrehen von einer zukünftigen Regierung ad acta werden. Machen wir uns nichts vor. Die Wahrscheinlichkeit kleinzureden, dass undemokratisch gesinnte Kräfte in Deutschland an die Macht kommen (der „wehrhaften Demokratie“ zum Trotz), nachdem dies ja in vielen anderen Ländern bereits passiert ist, ist Wunschdenken. Die bereits erfolgte Umstrukturierung der Gesellschaft hätte solch einer Regierung den Weg für ein militaristisches Handeln geebnet.

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Sicher gibt es kein „perfektes“ Beispiel, aber Schweden, Finnland und die Schweiz haben Elemente von dem, was ich beschrieben habe: grundsätzlich freiheitlich und demokratisch organisierte Länder, die trotzdem ein starkes Militär zur Abschreckung von Angriffen und Wahrung der eigenen Souveränität unterhalten. Ich schätze jedenfalls die tatsächliche Verteidigungsfähigkeit aller drei Länder deutlich höher als den deutschen ein.

Wie gesagt, dass sind auch keine Utopien im Sinne einer „positiv“ friedlichen aber wehrhaften Gesellschaft. Warum du die Wandlungsfähigkeit der deutschen Gesellschaft aber grundsätzlich in Frage stellst, verstehe ich nicht. Deutschland hat sich innerhalb von 200 Jahren von einer Sammlung feudaler Fürstentümer erst zu einem militaristischen und expansiven Kaiserreich, dann zu einer faschistisch-genozidalen Führerkult-Gesellschaft und dann zu einer (imperfekten) liberalen Demokratie gewandelt. Ziemlich krasse Veränderungen, wenn du mich fragst.

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In meinen Augen zeigt das Beispiel Finnland und Schweden aber, dass die Situation die gefühlte Notwendigkeit bestimmt.
Sie waren beide nicht in der Nato (um Russland nicht zu provozieren), sahen sich aber immer einem unberechenbaren Feind gegenüber. Die Gefahr war also immer real und wurde von der Bevölkerung auch so wahrgenommen. Russische Fakenews verfangen dort auch ganz anders als bei uns.
Da wir von Freunden umgeben sind und in zwei Verteidigungsbündnissen sind, ist die Gefahr bei uns eine ganz andere. Dass Österreich, Polen oder Frankreich bei uns einmarschieren ist eher unwahrscheinlich.
Es macht für uns wesentlich mehr Sinn, Truppen an den Außengrenzen zu unterhalten, als eine Armee im eigenen Land zu halten.

Das ging schneller als gedacht:

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Obwohl ich das im Sinne übergreifender Krisenresilienz nicht für verkehrt halte. Wie auch Corona gezeigt hat.
Es gibt ja nicht nur militärische Aspekte, sondern auch Naturkatastrophen, große Unfälle, Epidemien, Hitzewellen etc.

Da ein stabiles und vorbereitetes System zu haben halte ich weder für kriegstreibend noch für unnötig.

Ist ja nicht so das wir grundsätzlich auf jegliche Art von Krisen gut vorbereitet wären.

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