Willkür/Schlamperei bei Gutachten des Medizinischen Dienstes zur Ermittlung des Pflegegrads

Ich finde es interessant, wenn ihr mal der Frage nachgeht, inwieweit die vielen offensichtlich fehlerhaften und regelwidrig erstellten Gutachten des Medizinischen Dienstes gerade ein Mittel sind, um die Löcher in den Pflegekassen nicht weiter wachsen zu lassen. Ein Verdacht, der aufkommt, wenn man hört, dass bei Begutachtungen Regelverstöße und Willkür an der Tagesordnung zu sein scheinen.

Meine Geschwister und ich sind gerade bei meinen Eltern, konkret meiner Mutter, davon betroffen und fragen uns angesichts unserer Erfahrungen, wie Menschen ohne Angehörige eigentlich damit fertig werden, wenn der Medizinische Dienst sie falsch einschätzt bzw. sich auf eine Einschätzung per Telefon beschränkt. Wir sind zu dritt und seit einem Dreivierteljahr damit beschäftigt, für meine Mutter das Pflegeld zu erkämpfen, das ihr laut Ärzten zustehen sollte, das ihr aber aufgrund eines eindeutig fehlerhaften, in sich widersprüchlichen Gutachtens verweigert wird. Der ganze Prozess erschien uns von Anfang an sehr fragwürdig, u.a. die Begutachtung per Telefon, auf die eine Begutachtung vor Ort hätte erfolgen müssen, nachdem wir dem Ergebnis widersprochen hatten. Die Kasse will der Sache nicht nachgehen, schiebt u.a. „Datenschutz“ (!) vor. Von diversen Stellen hören wir, dass das keine Ausnahme ist, sondern System habe. Das Pflegenetzwerk, von dem wir uns (gegen eine sehr überschaubare Summe) im Widerspruchsverfahren beraten lassen schreibt Folgendes:

„Leider laufen die Anträge auf Pflegeleistungen, bzw. auf Höherstufung eines bestehenden Pflegegrades, nicht immer regelkonform. Die Gutachter(innen) des Medizinisches Dienstes (MD) und MEDICPROOF erstellen, aus der Expertensicht unserer unabhängigen Sachverständigen (w/m) teilweise haarsträubende Gutachten.
(…)
In über 90 % aller unterstützten Verfahren erreichen wir seit 1998 höhere Pflegegrade, bis 2017 Pflegestufen, als die Vorgutachten der Pflegeversicherung diese ausgewiesen hatten. Die unabhängige Überprüfung solcher Gutachten durch Sachverständige der Pflege lohnt sich statistisch gesehen übrigens in rund 80 % aller uns bisher bekannten Verfahren.“

Der Spiegel berichtete in Ausgabe 8/2023 über einen sehr dramatischen Fall, bei dem ein Rentner seine Frau erstickte, weil er ohne Unterstützung in ihrer Pflege nicht mehr weiter wusste. Auch hier war die Begutachtung nur durch ein Telefonat mit der an Demenz erkrankten Frau erfolgt. Im Spiegel heißt es:

„Wird kein Pflegegrad zuerkannt, können Betroffene dem widersprechen oder im zweiten Schritt dagegen klagen.
Zur Wahrheit zählt aber auch, dass etliche überfordert sind, sich in diesem System zurechtzufinden. Und womöglich gerade jene, die Hilfe am allermeisten brauchen.“

Genau das ist das Problem, das ich sehe. Die Menschen, die keine Angehörigen haben und/oder keine Mittel, um sich zu wehren, sind der Willkür komplett ausgeliefert. Andere, die klagen können und sich beraten lassen, haben in einer ohnehin belastenden Situation mit viel Bürokratie und langen Wartezeiten zu rechnen.

Ich halte das Thema für alle relevant, die sich Gedanken darüber machen, wie wir mit alten Menschen umgehen möchten, die jahrelang in die Pflegekasse eingezahlt haben und irgendwann ein Recht auf Pflegegeld haben. Für Angehörige älterer Menschen, die evtl. bald in die Situation geraten könnten, pflegebedürftig zu werden, ist es sehr empfehlenswert, sich rechtzeitig darauf einzustellen, dass so ein Besuch des Medizinischen Dienstes wirklich sehr sehr gut vorbereitet sein muss. Wir hatten die naive Vorstellung, der Medizinische Dienst sei eine neutrale Instanz, die unabhängig beurteile. Jetzt denke ich, dass einige Begutachter*innen einfach überfordert sind - aus welchen Gründen auch immer. Die Verbraucherzentrale gibt ganz gute Tipps, wie so ein Besuch vorzubereiten ist - es kann hilfreich sein, sich damit schon einmal beschäftigt zu haben, bevor der Ernstfall eintritt und dann meistens alles schnell geht.

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