Wieso gibt es überhaupt so viele Schwurbler?

Jüngst las ich diesen Artikel in der Zeit, mit dem Titel „Jetzt rächt sich die fehlende Solidarität“. Zuerst war ich etwas genervt von dem „Wir müssen die Sorgen der besorgten Bürger ernst nehmen“-Ding, denn das Argument ist hier, dass sich einige berechtigterweise von Staat und Mehrheitsgesellschaft allein gelassen fühlen und daher eben auch in Sachen Corona und Impfung diese nicht mehr als glaubwürdige Instanz wahrnehmen. Ich fand das insofern nicht 100%ig überzeugend, als dass es eben durchaus auch eine ganz Menge Leute in der Mittelschicht gibt, die fragwürdige Einstellungen zur Impfung vertreten.

Aber ich habe mich dabei an an eine etwas andere, aber verwandte Argumentation erinnert gefühlt, die ich das erste Mal bei Cory Doctorow (Science-Fiction-Autor und Aktivist für die Electronic Frontier Foundation; Ulf könnte er daher eventuell ein Begriff sein) gehört habe, zusammengefasst in diesem Artikel: Menschen glauben zunehmend an Verschwörungserzählungen, weil es einfach tatsächlich existierende „Verschwörungen“ gibt, die uns allen zum Nachteil gereichen. Nicht immer geht es um Zusammentreffen in zigarrenrauchgeschwängerten Hinterzimmern, aber zumindest gibt es ja offenbar ein Muster von mindestens systematischem Weggucken bei wichtigen Themen, sei es der NSU, der Dieselskandal, Cum Ex, Wirecard, etc.: Ähnlich wie es die Schwurbler bei Corona und der Impfung zwischen Politik, Pharmaindustrie und Wissenschaft vermuten, gab es hier tatsächlich unlautere Absprachen zumindest zwischen einzelnen Politiker*innen und Wirtschaftsunternehmen, damit sich einzelne auf dem Rücken der Gesellschaft bereichern konnten.

In den USA gibt es ein noch einschlägigeres Beispiel in der aktuellen Opioid-Krise: Hier haben einzelne, von bestimmten Pharmaunternehmen bezahlte Wissenschaftler (ich glaube, hier muss ich nicht gendern) Falschaussagen zu Risiken und zur Suchtgefahr opioidbasierter Schmerzmittel getätigt. Parallel dazu haben - ähnlich mit diesen Unternehmen verbandelte - Politiker*innen dann für die entsprechende Deregulierung gesorgt. Die Folge sind Hunderttausende Tote und ein (zurecht?) erschüttertes Vertrauen in die Integrität der Wissenschaft und der Politik.

Cory Doctorows Folgerung ist, dass das Problem vor allem in der Konsolidierung von Wirtschaftszweigen in wenige, sehr mächtige Akteure liegt. Ob das stimmt, sei dahingestellt; wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir es uns zu einfach machen, das Problem der Impfgegner*innen allein mit einer Impfpflicht aus der Welt geschafft zu sehen. Natürlich müssen wir jetzt alles dafür tun, damit wir die kritische Masse an Impfungen erreichen! Aber langfristig hilft uns das nicht, um bei den entsprechenden Menschen wieder Vertrauen in die Grundpfeiler unserer solidarischen und liberalen Gesellschaft wiederherzustellen. Man sieht es ja wieder: Außer Klatschen hat sich beispielsweise für die Pflege nichts geändert. Bestimmte, eindeutig ausbeuterische Unternehmen, die bereits vor der Krise Milliardenumsätze generiert haben, konnten die in der Krise noch steigern. Freizeitangebote und Bildungsstätten wurden als erstes geschlossen und als letztes wieder geöffnet (naja, zumindest gefühlt, aber weit weg von der Wahrheit ist das nicht), aber arbeiten sollten wir möglichst durchgehend, Risiko hin oder her.

Dass hieraus bei denen, die es eh schon schwer haben, der Eindruck entsteht, dass Politik, Wirtschaft und in Teilen auch Wissenschaft unter einer Decke stecken, um „das Volk“ zu verarschen, lässt sich meiner Ansicht nach aus dieser Richtung gut nachvollziehen. Wenn dazu kommt, dass zu viele nicht zwischen Mist (wie der aktuellen Diskussion über diesen unsäglichen Artikel zu Übersterblichkeit und Impfquote) und fundierter Wissenschaft unterscheiden können - sind doch alles promovierte Leute, die das geschrieben haben, oder? -, wird es noch schwieriger, Menschen, die ein grundsätzliches und eben nachvollziehbares Misstrauen gegenüber staatlichen Stellen entwickelt haben, davon zu überzeugen, dass das schon richtig ist, was der Wieler/Drosten/Lauterbach/Spahn (naja…) da sagt.

Ich finde das eine wichtige Perspektive für den langfristigen Umgang mit „Schwurblern“. Ich meine damit eben nicht das „Wir müssen die Sorgen ernst nehmen“-Ding, was offenbar zumindest Jens Spahn bei der Pandemiebekämpfung völlig außer Gefecht gesetzt hat. Ich glaube, wir brauchen beides: Einerseits muss man klare Kante zeigen gegen Unsolidarität (im Fall von Corona), Rassismus (im Fall von Pegida und AfD-Wählern) und anderen problematischen Entwicklungen. Gleichzeitig muss man sich aber überlegen, wieso man diese Menschen verloren hat - meiner Ansicht nach eben durch die oben geschilderten materiellen Umstände - und wie man diese Umstände verbessern kann.

Ich hoffe, ich konnte das verständlich darlegen und wäre gespannt, was das Forum dazu so denkt.

Edit: Lesbarkeit (zumindest versuchsweise)

2 „Gefällt mir“

@SpookyFM , stimme dir in Vielem zu. Allerdings sehe ich den Verlust der Glaubwürdigkeit von Staat und Institutionen nicht so drastisch, wie es viele Journalisten zu schnell hinschreiben (verkauft sich besser denn als Info mit relativierenden Aspekten). Wenn Corona abflaut, wird sich ein Teil der jetzt aufgeheizten VTler wieder abkühlen und wieder zu braven Bürgern werden, ein Teil wohlgemerkt, der grössere denke ich.

Was ist schon alles prophezeit worden, selbst von hochkarätigen Journalisten. Da denke ich immer an die US-Korrespondentin des BR nach der Wahl von George W. Bush. Sie sagte, mit diesem denkbar knappen Ergebnis (und dessen Zweifelhaftigkeit) wäre die Regierung von Bush quasi unheilbar belastet. Aber davon war nach 2 Wochen nichts mehr zu hören.