Wahlzulassung und öffentliche Unterschriftensammlung in Corona-Hochrisiko-Gebieten

Ich habe ein Thema, dass mich aktuell sehr beschäftigt. Es geht um Corona, es reicht von der Kommunalpolitik über die Landespolitik bis zur Bundespolitik, es hängt mit fehlender Digitalisierung zusammen und hat auch noch eine juristische Dimension. Daher dachte ich, dass es vielleicht ein perfektes Lage-Thema ist.

Sammeln von physischen Unterstützungsunterschriften

Ich bin politisch engagierter Bürger und Mitglied der relativ neuen Partei (Volt Deutschland). In Mainz engagiere mich in Kommunalpolitik, sowie für den Landesverband Rheinland-Pfalz. Als nicht-etablierte Partei müssen wir für jede Wahl sogenannte Unterstützungsunterschriften sammeln, um für die Wahlzulassung nachzuweisen, dass wir eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung haben.

Hier in Rheinland-Pfalz steht 2021 die Landtagswahl an und für die Wahlzulassung müssen wir 2080 physische Unterschriften sammeln. In normalen Zeiten kein Problem ist, aber unter Corona-Bedingungen sieht das anders aus. Die Unterschriften dürfen wir nur persönlich und handschriftlich sammeln, wie es so schön auf den Formularen heißt. Digitales Sammeln ist nicht möglich. Selbst eingescannte PDFs sind nicht zulässig. Heißt, dass wir neben Freunden und Bekannten auch viele Menschen auf der Straßen ansprechen müssen.

Gesundheitsrisiko durch zehntausende Kontakte!

Aktuell rufen die Bundesregierung und alle Landesregierungen zum Reduzieren aller unnötigen Kontakte auf. Für uns im Hochrisikogebiet Mainz (7-Tages-Inzidenz = 158) klang das für uns in den letzten Wochen wie ein schlechter Witz. Während wir gerne unsere Kontakte eingeschränkt hätten, mussten wir sie massiv intensivieren, um ca. 500 Unterschriften pro Woche zu sammeln, damit wir noch rechtzeitig auf 2.080 bestätigte Unterschriften kommen. Tatsächlich muss man aber eher 2.500 Unterschriften sammeln, denn jeder kleine Fehler kann zur Ungültigkeit der Formulare führen (falsche Adresse, unleserliche Schrift, 1. Wohnsitz außerhalb RLP, weniger als 3 Monate wohnhaft in RLP etc.).

Pro Unterschrift muss man auf der Straße ca. 5-10 Menschen auf ansprechen. Bei 2.500 Unterschriften landet man damit schon bei 12.500 - 25.000 Kontakten. Und dass sind nur die Zahlen für eine Partei. In Rheinland-Pfalz sammeln neben Volt noch Die PARTEI, die Piratenpartei, die Klimaliste, ÖDP und Freie Wähler. Das werden schnell unfassbar hohe Kontaktzahlen, die sich im Falle von Infektionen absolut nicht mehr nachvollziehen lassen.

Erfolg in Rheinland-Pfalz

Tatsächlich haben wir in Rheinland-Pfalz geschafft diesen offensichtlichen Missstand durch einen offenen Brief von 5 Parteien und medialen Druck (Radiobeitrag im Deutschlandfunk / TV-Beitrag im SWR) voraussichtlich zu lösen, sodass die Fraktionen im Landtag angekündigt haben die Unterschriften-Hürde von 2080 auf 520 zu senken (Pressemitteilung der Grünen RLP). Zwar kommt das 2-3 Wochen zu spät, denn wir haben mittlerweile 1.800 Unterschriften im Risikogebiet gesammelt, aber trotzdem hilft es ab sofort Kontakte zu reduzieren.

Klage in Baden-Württemberg

Anders sieht die Situation in Baden-Württemberg aus. Dort gibt es keine Landeslisten, sodass kleine Parteien für alle 70 Wahlkreise in Summe 10.500 Unterschriften benötigen. Hier läuft bereits eine Klage mehrere Parteien und die Landesregierung scheint es darauf ankommen zu lassen. Verhandelt wird die Klage am 9. November. Für mich ist absolut unverständlich, dass die Landesregierung nicht proaktiv handelt, um Kontakte zu reduzieren.

Hinzu kommt, dass es durch die fehlende Landesliste auch 70 Aufstellungsversammlungen in alle 70 Wahlkreisen geben muss, wenn man in ganz Baden-Württemberg auf dem Wahlzettel stehen möchte. In anderen Bundesländern ist es üblich, dass man mit einer Landesliste antreten kann und nur eine Aufstellungsversammlung benötigt, außer natürlich man möchte mit Direktkandidat:innen antreten.

Senkung in NRW

In NRW wurden zur Kommunalwahl die Hürden um 40% gesenkt. Hierzu gab es auch Verfassungsbeschwerden beim Verfassungsgerichtshof NRW, allerdings reichten dem Gericht die Maßnahmen aus.

Situation in Hessen

In Hessen stehen im März 2021 Kommunalwahlen an. Auch dort müssen alle nicht-etablierten Parteien sammeln. Die Hürden sind dort niedriger, aber auch hier sind die Parteien von Kontaktbeschränkungen betroffen, bzw. müssen diese ggf. ignorieren, um ihre demokratischen Rechte wahrnehmen zu können

27.495 Unterschriften zur Bundestagswahl

Und im Herbst 2021 steht auch die Bundestagswahl vor der Tür, zu der für die meisten Landeslisten 2.000 Unterschriften gesammelt werden müssen. Die Zahl ist abhängig von der Einwohnerzahl und in Summe kommt man für alle Länder laut Bundeswahlleiter auf 27.495 Unterschriften.

Bis auf einen bereits abgelaufene Petition der Partei der Humanisten wurde das Problem noch nicht wirklich thematisiert, vermutlich weil es noch zeitlich zu weit weg ist. Aber auch hier kann es zu einer Situation kommen, in der Parteien für die Wahlzulassung zu tausenden unnötigen Kontakten in Risikogebieten gezwungen sind.

Spannendes Thema?

Ich weiß nicht, ob es für euch spannend ist, aber ich finde die Kombination aus politischen Engagement, Problemen mit fehlender Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, der juristischen Dimension der unterschiedlichen Wahlgesetze und dass alles in Verbindung mit Corna eigentlich ganz interessant.

Disclaimer

Auch wenn ich Parteimitglied und Kandidat für die Landtagswahl (Listenplatz 18) in RLP bin, schreibe ich euch dies nicht in offizieller Parteifunktion, sondern als Hinweis eines interessierten Lage-Hörers. Falls ihr Interesse an dem Thema habt, dann kann ich euch aber gerne Kontakt zu Vorständen oder Spitzenkandidat:innen vermitteln.

Wenn ihr noch inhaltliche Fragen zum Thema Unterschriften habt, dann könnt ihr auch gerne mich direkt kontaktieren, da ich mich mit dem Thema relativ gut auskenne. Ich koordiniere unsere Unterschriftensammlung für RLP und dies ist mit der Europawahl und der Kommunalwahl in Mainz bereits meine dritte Unterschriftensammlung.

Viele Grüße und bleibt gesund!

Tilman Schweitzer

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Grundsätzlich bin ich bei Dir was die fehlende Digitalisierung angeht, was Wahlen angeht, sehe ich das aber anders. Da brauchen wir keine Digitalisierung. Von Coraona mal abgesehen bringt Digitalisierung hier auch keinerlei Vorteile, aber eine Menge Nachteile. Denn das Missbrauchspotenzial ist hier riesig.

Ich warte ja auch schon auf den Moment, wo Corona-bedingt wieder irgendjemand anfängt rumzuschreien, dass wir ja Wahlcomputer brauchen. Diese sind aber nachweislich und aus gutem Grund verfassungswidrig.

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Hallo Dave,

du hast völlig recht, dass Wahlen mit Wahlcomputern aus gutem Grund verfassungswidrig sind.

Hier geht es allerdings um das Sammeln von Unterstützungsunterschriften für die Wahlzulassung neuer bzw. nicht-etablierter Parteien. Auf einer solchen Unterstützungsunterschrift gibt ein Unterstützer seine aktuelle Meldeadresse und sein Geburtsdatum an. Damit gibt es, anders als bei einer geheimen Wahl, keinen Konflikt zwischen dem Wahlgeheimnis und der Nachvollziehbarkeit der Wahl.

Ein Problem wäre tatsächlich, dass man einen solchen Prozess nur digital über die jeweiligen Gemeinden abbilden könnte, da man sonst ein zentrales Melderegister bräuchte.

Neben eine langfristigen digitalen Lösung für die Wahlzulassung, gibt es für die akute Situation auch die Möglichkeit die Zulassungshürden zu senken, wie in NRW oder RLP. Spätestens für die Bundestagswahl wird das irgendwann ein Problem, wenn alle neuen bzw. nicht-etablierten Parteien anfangen öffentlich Unterschriften zu sammeln, und damit für eine hohe unnötige Kontaktzahlen sorgen.

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Ist hier das Missbrauchspotenziall nicht sogar noch höher?

@Tilman Danke, dass du das Thema hier aufbringst.

Ich bin selber Mitglied einer neueren Partei (Partei der Humanisten), die wegen dem Sammeln der Unterstützungsunterschriften gerade in einem ziemlichen Dilemma ist. Wir stehen nun vor der Wahl, das Ansteckungsrisiko für uns und andere zu erhöhen, indem wir die nötigen Unterschriften sammeln, oder eben nicht mal die Chance zu haben, auf dem Wahlzettel zu erscheinen. So eine Bundestagswahl oder Landtagswahl ist ja auch nicht jedes Jahr, daher haben wir an der Situation schon ziemlich zu knabbern. Da es gerade absolut notwendig ist, die Infektionszahlen so niedrige wie nur möglich zu halten, können wir ja nicht mal im privaten Kreis Unterschriften sammeln. Ich empfinde es als undemokratisch, neue Parteien auf diese Art quasi von den Wahlen auszuschließen. Ich würde mir daher wünschen, dass im Sinne fairer demokratischer Vielfalt, dieses Thema mehr Gehör finden würde und wir damit nicht so allein gelassen würden.

Ich verstehe auch nicht, wo denn das „Missbrauchspotenziall“ sein soll, wenn man den Prozess digitalisiert. Es geht dabei ja nur um die Chance, überhaupt auf dem Wahlzettel zu erscheinen, nicht um eine Wahl an sich.

Auf dem Zettel, der physisch (beidseitig bedruckt) eingereicht werden muss, gebe ich meine Meldeadresse an. Damit wir von der zuständigen Stelle überprüft, dass ich tatsächlich wahlberechtigt bin und nicht mehrfach meine Unterschrift für eine Partei abgebe. Es kann also, selbst wenn der Prozess digitalisiert würde, nur eine Unterschrift pro Person abgegeben werden. Es kann daher auch nicht einfach die Behörde mit „gefakten“ Unterschriften vollgespamt werden, da ja immer die Meldeadresse einer Person mit angeben werden muss.

Es erschließt sich mir also nicht, warum die digitale Abgabe einer Unterschrift im Jahr 2021 eine derart unbezwingbare Hürde sein soll, wenn es um den Schutz von Gütern wie demokratische Teilhabe und Vielfalt und den Gesundheitsschutz geht.

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@Bella Gerne. Das Thema ist wirklich wichtig und die Anzahl der Kontakte bei der Anzahl an nicht-etablierten Parteien und nötigen Unterschriften ist unglaublich hoch.

Wir von Volt beginnen gerade mit den Aufstellungsversammlungen und dann im Anschluss geht es weiter mit den Unterschriften. Für die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz hat der Landtag zwar reagiert, aber zu spät. Wir haben trotzdem vier Wochen 500 Unterschriften pro Woche gesammelt, bis das Signal aus den Fraktionen kam. Zum Glück ist mir kein Fall bekannt, bei dem dadurch Infektionen entstanden sind.

In der letzten Lage wurde wieder betont, dass es kaum noch Felder gibt in denen man Kontakte einschränken kann. Das Thema Unterschriftensammlungen ist völlig unter dem Radar.

Allerdings hat sich vor kurzem immerhin Wolfgang Schäuble zu dem Thema geäußert und das gibt mir Hoffnung, dass dort etwas passiert. Allerdings befürchte ich, dass auch hier wieder zu spät gehandelt wird und wir mit Volt in vielen Bundesländern mit der Sammlung nicht warten können, wenn wir die Wahlzulassung nicht gefährden wollen. Mit Maske, Abstand und desinfizierten Stiften versuchen wir das Risiko zu minimieren, aber es fühlt sich trotzdem nicht richtig an.

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@vieuxrenard @philipbanse Langsam wird es ernst. Die Corona-Zahlen steigen und die kleinen Parteien haben bisher keinerlei Aussicht auf eine Senkung. De facto heißt das, dass jede kleine Partei mit voller Energie Unterschriften sammeln muss, wenn sie ihre demokratischen Rechte zur Teilnahme an der Wahl wahrnehmen möchte.

In Rheinland-Pfalz hatten wir Dank konsequenter Hygienemaßnahmen keinen einzigen Corona-Fall unter unseren ehrenamtlichen Helfer:innen. Trotzdem ist das Risiko bei so vielen Kontakten und der neuen Situation mit B117 nicht zu unterschätzen.

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Es gibt gute Nachrichten. Der Innenausschuss hat eine Senkung der Unterschriftenhürde auf 25% mit den Stimmen aller Fraktionen beschlossen. Morgen (Donnerstag, 20.5.21) steht das Thema auf der Tagesordnung des Bundestages.

Das ist auf jeden Fall eine Senkung, die sehr viele Kontakte verhindern wird. Viele Kontakte haben natürlich schon stattgefunden und eine frühere Senkung wäre wünschenswert gewesen, aber die Senkung hat auf jeden Fall für uns noch einen positiven Effekt, der Kontakte reduziert.